Titel
Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie


Herausgeber
Parnes, Ohad; Vedder, Ulrike; Weigel, Sigrid
Erschienen
Paderborn 2005: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Konjunktur des Generationenkonzepts ist unübersehbar. Generationen sind in aller Munde. Auf dem Büchermarkt und im Feuilleton, im Konsum- und Freizeitverhalten, von den elektronischen Medien ganz zu schweigen, springen uns immer neue modische Generationsetiketten und -einfälle an. Im Mittelpunkt der ökonomischen und bevölkerungspolitischen Debatte steht das Thema der Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Und selbst in die Literatur ist es zurückgekehrt, werden doch gerade von jüngeren Autoren wieder Familienromane und Generationengeschichten geschrieben. "Doch auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften bis hin zur Wissenschaftsgeschichte begegnen wir immer häufiger Arbeiten zur Generation", heißt es im Vorwort dieses Bandes, "häufiger allerdings Untersuchungen entlang der Generation (als Narrativ oder historiografischer Kategorie), weitaus seltener solche über die Generation (als Deutungsmuster oder Repräsentationsmodell verschiedener Diskurse, Disziplinen und Episteme)." (S. 7) Denn das heute dominierende Verständnis von Generation ist von den Konzepten geprägt, die in den 1920er-Jahren entwickelt wurden. Danach bilden Generationen Jahrgangsgruppen und Erfahrungseinheiten. Die genealogische Bedeutung des Begriffs ist dabei in den Hintergrund gedrängt worden. "Aber nicht nur die genealogische Semantik von 'Generation' ist vergessen worden, sondern mit ihm auch die Genealogie des Konzepts. In erkenntnistheoretischer Perspektive zeichnet sich der Begriff der Generation nämlich dadurch aus, daß er sowohl - in diachroner Perspektive - Konstellationen der Herkunft, Generierung oder Erbschaft, also der Genealogie, als auch - in synchroner Perspektive - Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung, also der Klassifizierung, beschreibt." (S. 7)

Dieses Defizit abzuarbeiten ist das Ziel eines im Jahr 2001 begonnenen Forschungsprojekts am Zentrum für Literaturgeschichte (Berlin). Für diesen Sammelband hat man Kollegen aus verschiedenen Disziplinen eingeladen, um den Zusammenhang von Generation und Genealogie aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Der Band ist in zwei Teile gegliedert: Teil I verfolgt die Spur des Generationenkonzepts bis ins 18. Jahrhundert zurück, "vor allem im Hinblick auf semantische Verschiebungen, auf den Einsatz in unterschiedlichen Feldern des Wissens und der Literatur und auf historische Debatten über seine Reichweite und Problematik. Teil II nimmt die genealogische Semantik des Generationenbegriffs zum Anlaß, um dessen Beziehungen zu anderen, auch älteren genealogischen Modellen und zu den unterschiedlichen Figuren und Repräsentationsformen von Genealogie zu beschreiben" (S. 8) und geht dabei auf mythische und dynastische Modelle, auf Vererbungsbiologie und Evolutionstheorie zurück.

In I. "Zur Genealogie des Konzepts: Verhandlungen über Zeugung, Gattung, Geschlecht" schreibt Corina Caduff über "Reproduktion und Generation. Die Klone in der Literatur" mit der Konsequenz, dass die erste Generation von Klonen zugleich die letzte ist, denn dem Klon wird kein Reproduktionspotential zugestanden, er hat keine Zukunft. Zugleich verweist sie darauf, dass die Klonliteratur unverkennbar an Denk- und Darstellungsfiguren aus der Geschichte des künstlichen Menschen anknüpft. Alexander Honold belegt in "'Verlorene Generation' Die Suggstivität eines Deutungsmusters zwischen Fin de siécle und Erstem Weltkrieg", dass gerade nach dem Weltkrieg eine Intensivierung der ästhetischen, philosophischen, kunst- und literaturgschichtlichen Debatten um den Generationenbegriff stattfand (Ortega y Gasset, Julius Petersen, Wilhelm Pinder, Richard Alewyn, Karl Mannheim). Den Topos von der verlorenen Generation exemplifiziert er an den Büchern von Walter Flex "Der Wanderer zwischen beiden Welten", Günther Gründel "Die Sendung der jungen Generation" und Erich Maria Remarque "Im Westen nichts Neues". Astrit Schmidt-Burkhardt geht es in "Querelle des Modernes. Zum Generationenkonflikt der Avantgarde" zum einen um die historische Generation als kausales Ordnungsmuster bei der Visualisierung und grafischen Darstellung von Kunstgeschichte. Zum anderen untersucht sie, wie von den Künstlern der Begriff der Generation, zunächst eine wissenschaftliche Fremdwahrnehmung, zur ästhetischen Selbstbestimmung umfunktioniert wird, womit sie sich im Rahmen der Generationenfolge Teilnahme wie Teilhabe an der Geschichte sichern wollen. Ulrike Vedder betrachtet "Majorate. Erbrecht und Literatur im 19. Jahrhundert" am Beispiel von E.T.A. Hoffmann Erzählung "Das Majorat", Achim von Arnims Erzählung "Die Majoratsherren" und Honoré de Balsacs Roman "Le Contrat de mariage". Sie alle demonstrieren das Scheitern des Entwurfs einer geradlinigen Übertragung von Position, Identität, Natur und ewiger Kontinuität. Sigrid Weigel behandelt in "Zur Dialektik von Geschlecht und Generation um 1800. Stifters Narrenburg als Schauplatz von Umbrüchen im genealogischen Denken" zuerst das Verhältnis von Erbschaft und Text, zweitens die Gesetze der Erbschaft zwischen Naturgesetz und Schrift in der Erzählung Adalbert Stifters und drittens die Stellung von "Generation" und die semantischen Umbrüche im enzyklopädischen Wissen zwischen 18. und 19. Jahrhundert. Stefan Willer analysiert in "'Eine sonderbare Generation' Zur Poetik der Zeugung um 1800" einerseits Theorien der Hervorbringung von Aristoteles bis Herder und andererseits genealogischen Erzählen und die generative Poetik Clemens Brentanos in dem Roman "Godwi oder das steinerne Bild der Mutter". Abschließend beschreibt Helmut Müller-Sievers in "Ahnen ahnen. Formen der Generationenerkennung in der Literatur um 1800". Er erinnert an die Veränderungen in den Zeugungs- und Generationstheorien des frühen 19. Jahrhunderts und zeigt deren Widerhall in Lessings "Nathan der Weise" und Goethes "Iphigenie auf Tauris".

Teil II ist "Konzepte von Genealogie: Bilder, Metaphern, Narrative" überschrieben. In "Die Weltenrettung als Familiensache. Formen und Bilder der Verwandtschaft in Richars Wagners Der Ring der Nibelungen" untersucht Kilian Heck 1. Genealogie als Denkform, 2. die Ahnenreihe als Leitlinie des Mythos, 3. den Inzest als genealogische Engführung, 4. den Zwilling als das andere Ich und 5. den genealogischen Kreis im Ring. In "Erzählen ohne Ich. Genealogie und Kalenderführung des 17. Jahrhunderts" stellt Helga Meise die Kalenderführung als spezifisch autobiografische Textsorte am Beispiel der Schreibkalender der Hessen-Darmstädtischen Landgrafenfamilie von 1624 bis 1790, die Narrative weiblicher Selbstdarstellung darin und die Dominanz der Kalenderführung über die genealogische Erzählung vor. In "Konstellation, Serie, Formation. Genealogische Denkfiguren bei Harvey, Linnaeus und Darwin" arbeitet Staffan Müller-Wille die Veränderungen in den genealogischen Konzepten William Harveys: Denkfigur der Konstellation, Carl Linnaeus: Denkfigur der Serie und Charles Darwin: Denkfigur der Formation heraus und damit den Wandel von der Betonung vertikaler zu einer Betonung horizontaler Verwandtschaftsverhältnisse im genealogischen Denken Europas beim Übergang von der Neuzeit zur Moderne. In "'Es ist nicht das Individuum, sondern es ist die Generation, welche sich metamorphosiert'. Generationen als biologische und soziologische Einheiten in der Epistemologie der Vererbung im 19. Jahrhundert" argumentiert Ohad Parnes, dass die Geschichte des Konzepts der Generation und die Geschichte des modernen Vererbungsbegriffs eng miteinander verzahnt sind, dass Generationen gleichzeitig in die Bio- und Sozialwissenschaften eingingen. Deshalb kann auch die Genese des modernen Vererbungsbegriffs nicht allein aus dem biologischen Kontext erklärt werden, sondern ist Teil eines neuen Denkens, das Bio-, Human- und Sozialwissenschaften Mitte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen erfasst. Hans-Jörg Rheinberger liefert "Eine Randnotiz zur Repräsentation von Generationen in Mendels Vererbungslehre" durch einen ihrer Wiederentdecker, den Botaniker Carl Correns. Dessen Notizen, Entwicklungsreihen und Segregationsbäume, bewegten sich in zwei verschiedenen Darstellungsräumen: einmal dem der Genealogie, einmal dem der Generation. In "Familienähnlichkeiten und Stammbäume. Zwei kognitive Metaphern" verweist Carlo Ginzburg auf die photografischen Experimente Francis Galtons zwischen 1878 und 1888, der mit Kompositportäts Typen konstruieren wollte, sowie auf Christiane Klapisch-Zubers Geschichte des Stammbaumes als Bildmodell der Klassifikation und deren Verarbeitung bei Ludwig Wittgenstein wie bei Sigmund Freud. In "Die genealogische Idee in der vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Stufen, Stammbäume, Wellen" entwickelt Simone Roggenbuck, wie eine zunächst zaghafte genealogische Ausrichtung zum Plädoyer für den Stammbaum führt. Drei Modelle der Sprachentwicklung ließen sich im 19. Jahrhundert feststellen: Stufen (Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Wilhelm von Humboldt), Stammbaum (August Schleicher) und Wellen (Johannes Schmidt). Die lang währende Dominanz des Stammbaum-Modells wurde erst mit dem Entstehen des Strukturalismus gebrochen. Schließlich denkt Thomas Macho über "Künftige Generationen. Zur Futurisierung der Ethik der Moderne" nach und positioniert "die Frage nach der Zukunft des Guten [...] unabweisbar und dringlich an der Grenze - um nicht zu sagen: am Abgrund - zwischen topologischer und temporaler Ethik." (S. 321)

Der breite interdisziplinäre Zugang des Bandes überzeugt. Den vielfältigen Verschränkungen und der Bedeutungsvielfalt der Begriffe zwischen Generation und Genealogie wird von den unterschiedlichen Ansätzen und Diskursen in Literatur- und Sprachwissenschaft, in Philosophie und Soziologie, in Biologie und Vererbungslehre, in Psychoanalyse, Medien- und Geistesgeschichte im 18., 19. und 20. Jahrhundert nachgegangen. Und damit schließt sich der Kreis: Das noch heute dominierende Verständnis von Generation geht mehrheitlich auf dessen Wiedererfindung durch Karl Mannheim oder Wilhelm Dilthey zurück. Aber dessen "Wiedererfindung fand ohne den Rekurs auf seine vorausgegangene Geschichte statt. Die hinter die Wiedererfindung zurückreichende Bedeutungsgeschichte wird heute zwar beerbt, meist jedoch ohne daß dieser Umstand ins Wissen und in den Umgang mit dem Begriff eingeht. Insofern kommt es bei der Genealogie des Konzepts gerade darauf an, die verborgenen, pluralen Ursprünge zu rekonstruieren." (Sigrid Weigel, S. 120) Das ist mit diesem Sammelband schon gelungen und macht zugleich auf die weiteren Ergebnisse des Forschungsprojektes zur Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte der Generation neugierig.

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