Invertito 21 (2019)

Titel der Ausgabe 
Invertito 21 (2019)
Weiterer Titel 
Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit & Erinnerungskultur

Erschienen
Hamburg 2019: Männerschwarm Verlag
Erscheint 
ISBN
978-3863002770; Ebook (PDF): 978-3-86300-282-4
Anzahl Seiten
256
Preis
19 € print, 13 € E-Book
ISSN

 

Kontakt

Institution
Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten
Land
Deutschland
c/o
Invertito c/o Centrum Schwule Geschichte Köln Postfach 270308 50509 Köln Telefon: 0221 / 98558348
Von
Micheler, Stefan

Liebe Leserinnen und Leser,

seit dem vierten Jahrgang von 2002 mit der Überschrift Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit hat Invertito zwar zahlreiche Aufsätze zum Thema veröffentlicht, aber keinen derartigen Schwerpunkt mehr gesetzt. Der Gegenstand beschäftigt uns zwar nach wie vor; aber die Auseinandersetzungen treffen nicht gehäuft ein. Für diesen Band haben wir daher gezielt AutorInnen angesprochen, von denen viele einen Beitrag beisteuern.

Seit dem Erscheinen der Pionieruntersuchung zur Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern von Rüdiger Lautmann, Winfried Grikschat und Egbert Schmidt im Jahr 1977 sind mehrere Hundert Beiträge zur nationalsozialistischen Sexualpolitik und zum Umgang des NS-Regimes mit Homosexualität erschienen. Dies war und ist nicht nur im deutschsprachigen Raum der Fall, auch der anglophone Bereich der Geschichtswissenschaft ist hierbei stark vertreten. Die institutionalisierte deutsche Geschichtswissenschaft berücksichtigt das Thema jedoch erst seit einigen Jahren. Hier waren und sind es vor allem nicht institutionell angebundene Personen ohne finanzielle Unterstützung sowie Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaften einzelner Hochschulen, die die Forschung vorangebracht haben.

Über die forschungskulturellen Unterschiede könnte nachgedacht werden: Es besteht eine größere Offenheit der anglophonen Historiographie gegenüber anderen Denkrichtungen, ein größeres Interesse an mentalitäts-, körper- und sexualwissenschaftlichen Themen, eine gewisse Unbefangenheit gegenüber politischer Standpunktnahme usw. Hingegen verharren im deutschsprachigen Raum die HistorikerInnen meist in der Tradition ihres Fachs.

Über sieben Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Diktatur bleibt immer noch viel zu untersuchen. Zahlreiche Aktenbestände sind nicht ausgewertet (beispielsweise zur Strafjustiz der Wehrmacht, auch viele der zivilen Gerichte, der Familiengerichte und Jugendämter etc.). Das Alltagsleben der nicht direkt verfolgten Schwulen und Lesben ist weithin unbelichtet; auch ohne die Auskünfte Überlebender lassen sich hierzu Informationen aus Nachlässen, Briefwechseln, Verwandtenbefragungen und Medienberichten gewinnen. Über die Verfolgung von Trans und Inter findet sich im vorliegenden Band von Invertito leider noch nicht viel. Das Schreiben von deren Geschichten macht den Zugriff auf weitere Quellen erforderlich: Für die Geschichte von Inter und Trans sind etwa Geburtsregister und medizinische Unterlagen von erheblicher Bedeutung. Für die Frage, wie Repressionen u.Ä. erlebt wurden, ist neben den hier genannten Zugängen auch die Frage des Suizids wichtig. Denn viele Aussagen von ZeitzeugInnen verweisen auf eine hohe Zahl von Trans und Inter, die sich töteten. Da dies auch bei gleichgeschlechtlich Liebenden ein bisher kaum beleuchtetes Feld ist, könnten sich hier und bei anderen Themen gegenseitige Bereicherungen ergeben, wenn diese Geschichten über die üblichen Begrenzungen hinaus erforscht und geschrieben werden.

Neben der Erforschung von Leben, Diskriminierung und Verfolgung Männer begehrender Männer und Frauen begehrender Frauen hat sich analog zur allgemeinen Entwicklung der Forschung zur Verfolgung von Minderheiten durch das NS-Regime eine zweite Forschungsrichtung aufgetan: Von der Rekonstruktion der historischen Abläufe geht es inzwischen zum Wandel der Erinnerungskultur. Wenn der Nationalsozialismus heute in Politik und Kultur von hoher Bedeutung ist, dann speist sich das nicht nur aus den historischen Tatsachen, sondern stützt sich vielmehr auf die Repräsentationen in den Diskursen der Gegenwart. Deswegen widmen sich mehrere Beiträge unseres Bandes der Frage, in welchen Formen die NS-Verfolgungen überliefert und dargestellt werden. Hier wird die Forschungsdiskussion mit politischen Fragen verbunden: der Benachteiligung von Frauen, den Erscheinungsformen geschlechtlicher Gewalt und der Gendergerechtigkeit. Dieser Zusammenhang prägt den Aufbau und mehrere Beiträge des Bandes.

Es ist für Invertito evident, dass auch das Lesbische und die Frauenliebe im Repressionsfokus der Nazis gelegen haben und dass es eine gemeinsame Unterdrückungserfahrung von Lesben und Schwulen gab, da sie alle nicht als Teil einer „gesunden Volksgemeinschaft“ angesehen wurden. Über die Einzelheiten mag gestritten werden, und diese Auseinandersetzungen können die historische Erkenntnis voranbringen. Ein „Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten“ – der Plural hat von Anfang an, also seit dem ersten Band von 1999, das gleichgeschlechtliche Begehren der Frauen und Männer gemeint – ist ein geeigneter Ort, an dem sich die Positionen begegnen können. Daher laden wir dazu ein, die Diskussion in den folgenden Ausgaben fortzusetzen – mit weiteren Beiträgen, mit Kritiken und Präzisierungen zu dem, was in diesem Band darüber gesagt wird.

Das Jahrbuch gliedert sich in vier Teile, überschrieben mit: Frauenliebe – Wissensdefizit bei den Zwischenformen – Unter Männern – Blick von heute her auf die Geschichte. Im ersten Teil kommen Autorinnen zu Wort, die sich sowohl zur Art der nationalsozialistischen Lesbendiskriminierung als auch über den Streit innerhalb der schwullesbischen bzw. queeren Geschichtsschreibung äußern. Laurie Marhoefer schlägt einen mikrohistorischen Weg ein und zeigt am Einzelfall auf, wie sich antilesbische Haltungen und andere Risiken gegenseitig beeinflussen und verstärken konnten. Ilse Totzke geriet aus zahlreichen Anlässen unter Verdacht und ins Visier der Behörden: Zunächst wurde sie der Spionage für Frankreich bezichtigt, sodann geschlechtlicher Nonkonformität und des Lesbischseins, ferner (durch eine anonyme Anzeige) der „Jugendverderbnis“, einer ungeregelten Lebensführung (im Besitz einer Erbschaft ging sie keiner ständigen Arbeit nach) und schließlich noch des zu engen Kontakts zu Juden. Von allen Unterstellungen erwies sich nur die Geschlechtsabweichung als begründbar (als transvestitisch und lesbisch, kumulativ oder in unklarer Abgrenzung). Die anderen Verdachtsmomente lösten sich auf: keine Spionage, das angeblich 15-jährige Mädchen war eine Frau von 35, die „jüdische“ Frau Schwabacher war von „arischer“ Herkunft. Dass Totzke bei einem jüdischen Vermieter ihre Wohnung bekam, hatte mit dem knappen Angebot an Wohnraum zu tun. Allerdings erzeugte die Vielstimmigkeit des Verdachts den Eindruck einer durch und durch unangepassten Person. Bei einem der Verhöre, denen sie aufgrund von Anzeigen unterzogen wurde, kam ihre Kritik am antijüdischen Kurs des NS-Regimes zum Ausdruck. Ihr wurde jeder Kontakt zu jüdischen Menschen verboten und für das nächste Mal die Verschickung in ein KZ angedroht. Später hielt sich Totzke viel in Berlin auf, verwarf die Möglichkeit eines Lebens im Untergrund und plante den Übertritt in die Schweiz, der mit ihrer Verhaftung endete. Dabei wollte sie drei jüdische Befreundete mitnehmen; nur Ruth Basinski war dazu bereit, Herbert Strauss hingegen nicht.

Das Beispiel Totzke zeigt mehrerlei: Eine Frauenbeziehung wurde als Element einer generellen Unangepasstheit verfolgt, weniger als eigenständiger Repressionsgrund und eher als Indiz für ein gesellschaftliches Stören. Der Rahmen war weniger sexual- als geschlechterpolitisch, genauer: frauenpolitisch. Es ging um das System der sozialen Nivellierung. In den Verhören bei der Gestapo kam das lesbische Motiv nicht zur Sprache. Denunziation stand am Anfang feindseliger Akte, nicht ein aktives Vorgehen der Polizei. Die privaten Anzeigen konnten auf vielen Gründen beruhen. Einer davon war, dass die bezichtigte Person nicht genügend Respektabilität genoss und sich dadurch einer misstrauischen Beobachtung aussetzte.

Das Exempel demonstriert den Unterschied: Während die Verfolgung der männlichen Homosexualität an genitalbezogene Handlungen anknüpfte, worauf der Blick von Polizei, Justiz und Denunzianten fixiert war, berief sich die Abwertung lesbischer Frauen auf Beobachtungen wie eine zu innige Nähe zwischen Frauen, ein ausschließlich weiblicher Bekanntenkreis, eine als männlich empfundene Performanz u.Ä., also auf Indizien, die sich dann mit anderen Nonkonformismen zu einem Vorwurf oder gar Stereotyp der Geschlechtsunrichtigkeit verbanden. Abgelehnt und negativ sanktioniert wurden alle Formen gleichgeschlechtlichen Begehrens, aber in verschiedenen Konstruktionsmustern. Das verkennen die GegnerInnen eines gemeinsamen Gedenkens.

In einem Gespräch, das Birgit Bosold und Anna Hájková mit Ulrike Janz, Irmes Schwager und Lisa Steininger geführt haben, wird die Konfliktgeschichte um lesbisches Gedenken aufgerollt. Zwei Frauen (aus der Forschungs- und Museumsarbeit) befragen drei Frauen, die seit mehreren Jahrzehnten dafür kämpfen, dass die Gesellschaft ankennt, dass Lesben durch das NS-Regime verfolgt wurden. Sie wollen keine neue Kategorie einführen, sondern das Gedenken jenseits der NS-Zuordnungen verorten. Verwundert stellen sie fest, dass die Debatten von heute denen vor dreißig Jahren ähneln. Das damals bereits geschaffene Wissen habe sich nicht verbreitet. Wir müssten den Verfolgungsbegriff so erweitern, dass er über das Strafrecht hinausreiche. Die NS-Unterdrückung von Lesben sei ein Forschungsgegenstand, bei dem Frauen als Hauptakteurinnen erforscht würden, nicht abgeleitet von Männern. Die Feministinnen vermerken irritiert, dass von einigen schwulen Männern Bedenken gegen eine Berücksichtigung des lesbischen Aspekts bis hin zu deren Ablehnung formuliert werden. Das spiegelt sich auch in Alexander Zinns Beitrag (in diesem Band) wider. Hier wird mit Geschichte Politik gemacht.

Aus ihrer Erfahrung als Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück schildert Insa Eschebach den Wandel der Erinnerungskultur an den Orten ehemaliger Konzentrationslager. Standen hier früher nationale Haftkategorien im Vordergrund, so haben sich heute zivilgesellschaftliche Initiativen aufgetan und vertreten die bislang marginalisierten Opfergruppen. Die Autorin sieht hier ein Nebeneinander von zahlreichen, durchaus divergierenden Narrativen. In Ravensbrück kam das breiter aufgestellte Gedenken an die homosexuellen Opfer erst nach dem Fall der Mauer in Gang. Bislang ist es nicht gelungen, ein Gedenkzeichen zur Erinnerung an lesbische Häftlinge zu etablieren. Verantwortlich dafür ist ihrer Ansicht nach zum einen die Sprachlosigkeit und Unsichtbarkeit dieser Gruppe, zum anderen die Erinenrungskonkurrenzen verschiedener Gruppen, darunter das spannungsreiche Verhältnis zwischen polnischen BesucherInnen und Teilen der deutschen Antifa. Sie meint, dass sich identitätspolitisch agierende Gruppen mit ihren holzschnittartigen Geschichtsbildern beim Gedenken in einem gleichsam autistischen Kosmos bewegten.

Der zweite Teil dieses Bandes bleibt unbeabsichtigt-absichtsvoll kurz. Wir suchten nach Studien zum Schicksal der Trans- und Inter-Menschen und haben dazu bei zahlreichen ForscherInnen angeklopft. Das (derzeit stark nachgefragte) Thema war für einige von ihnen auserzählt, andere mussten ablehnen. So bleibt es in dieser Ausgabe des Jahrbuchs bei einem einzigen Beitrag, dessen Kürze die bestehende Wissenslücke manifestiert. Kirsten Plötz berichtet aus einer Vorstudie in Frankfurt am Main, wo das städtische Gesundheitsamt ab 1934 schwerpunktmäßig die „Erbgesundheitspflege“ betrieb und hierin reichsweit führend sein wollte. Mittels des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden im Sinne der „Rassenhygiene“ viele Menschen zwangssterilisiert. Kirsten Plötz geht der Frage nach, inwieweit lesbische, schwule, trans und inter Personen hiervon betroffen waren.

Angesichts des Fehlens von Beiträgen wollen wir hier kurz einen Blick auf die Forschung werfen: Die in den letzten Jahren erschienenen historischen Studien zum Transvestitismus haben wenig direkte Verfolgung im engen Sinn nachgewiesen. Da aber der Transvestitismus aus der im 19. Jahrhundert definierten „conträren Sexualempfindung“ hergeleitet wurde, galt das Verhalten als medizinisches Symptom; juristisch wurde es als Indiz für Homosexualität gewertet. Bei den Strafbestimmungen gegen das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts blieb es in der NS-Zeit beim Paragrafen zur Erregung öffentlichen Ärgernisses. Bei den heterosexuellen, meist verheirateten Transvestiten galt die Neigung nach der NS-Geschlechterkonzeption als sittenwidrig. Waren sie gesetzlich Männer, mussten sie allerdings den Verdacht, sie seien homosexuell, entkräften können. Denn wenn ein Mann in Frauenkleidern oder eine gesetzlich als Mann betrachtete Person, die sich nicht als Mann definierte, mit einem Mann Sex hatte, schlug der § 175 StGB zu. Für Österreich kommt eine Studie zum Ergebnis, im Nationalsozialismus hätten die Formen von Trans und Inter keine gesonderten Verfolgungskategorien gebildet. Nur in Verbindung mit dem Vorwurf der Homosexualität kam es zur Kontrollintervention. Erkennbar, auch im Beitrag von Kirsten Plötz, sind die Quellen zum Thema noch nicht ausgeschöpft. Als Zwischenfazit formuliert Johann Kirchknopf, für Trans/Inter lasse sich keine explizite Verfolgung nachweisen – soweit es die strafrechtliche Kontrolle betreffe.

Im dritten Teil des Bandes stehen Beiträge zur männlichen Homosexualität. Lutz van Dijk schildert den Vorfall in der deutschen Botschaft zu Paris, als der junge Jude Herschel Grynszpan die Ausreisegenehmigung für seine Eltern erzwingen wollte und den Botschaftsbeamten Ernst vom Rath tödlich verletzte. Das Geschehnis geriet zum Menetekel – zunächst als Vorwand für die Novemberpogrome, sodann sollte in einem Schauprozess das „Weltjudentum“ für den neuen Weltkrieg verantwortlich gemacht werden. Doch wurde das Strafverfahren nie durchgeführt, weil die Verteidigungsbehauptung eines homosexuellen Verhältnisses zwischen den beiden im Raume stand, was nicht zum „sauberen Reich“ gepasst hätte.

Burkhard Jellonneks Beitrag beschäftigt sich mit Alexander Zinns 2018 erschienenem Buch „Aus dem Volkskörper entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Zinn hat zahlreichen Studien, auch Jellonneks, widersprochen. Jellonnek diskutiert das kritisch und wendet sich vor allem dagegen, die Bedrohung durch den NS-Terror zu unterschätzen. Auch geht es hier um die methodologische Frage, inwieweit Befunde aus einer kleinen Region sich auf die Weite des damaligen Reichs übertragen lassen.

In seinem als „Streitschrift“ bezeichneten Aufsatz stellt Alexander Zinn zwei gewagte Thesen auf. Er vermutet, dass Handlungen gegenüber Jugendlichen und Schutzbefohlenen einen quantitativ hohen Anteil an der Verfolgung homosexueller Männer gehabt hätten. In der Gedenkarbeit würde bislang selten unterschieden, ob die Opfer zuvor nur gegen § 175 oder auch gegen die §§ 174, 176 und 180f. StGB verstoßen hatten. In aktueller Terminologie: Betrifft der Rosa Winkel vor allem Schwule – oder aber vielleicht auch Kindesmissbraucher usw., also „Verbrecher“ nach heute herrschender Meinung? Es liegt auf der Hand, dass hier ein neuralgischer Punkt für den weiteren Verlauf der Forschung auszumachen wäre. Dem Autor geht es nun nicht darum, die Verfolgung der „Jugendverführer“ aus dem Komplex Rosa-Winkel/Homosexuellenrepression herauszunehmen oder sie gar als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Vielmehr geht es ihm um eine Erweiterung des historischen Verständnisses: Das Stereotyp des Jugendverführers bildete ein wesentliches Motiv für die gesamte Verfolgungspraxis.

Im zweiten Teil seines Beitrags versammelt Alexander Zinn die Argumente, die aus seiner Sicht gegen die Annahme sprechen, während der NS-Zeit seien Lesben systematisch verfolgt worden. Er geißelt mit starken Worten alle einschlägigen Darstellungen. Die ausführliche Präsentation eines Dresdner Vorgangs, in den Lesben involviert waren, führt Zinn dann jedoch zu Erweiterungen, welche die Kluft der Sichtweisen beinahe schließen. Geschlechterübergreifend heißt es nun, „der insgesamt prekäre gesellschaftliche Status Homosexueller, der von Stigmatisierung und daraus resultierend von einer erhöhten Vulnerabilität geprägt ist“, habe die Polizei auch gegen Lesben vorgehen lassen. „Aus sittenpolizeilicher Sicht gilt auch die weibliche Homosexualität als ‚unsittlich‘“ und vermochte ein polizeirechtliches Einschreiten prinzipiell zu rechtfertigen. Nur folgte dann eben kein strafrechtliches Verfahren, weswegen Zinn nicht möchte, dass von „Verfolgung“ gesprochen wird. Hier scheint uns eine Debatte lohnend zu sein.

So prallen in diesem Jahrbuch die Positionen noch einmal ungebremst aufeinander. Hoffentlich können irgendwann alle akzeptieren, dass die Nazis beide Kategorien strikt ablehnten und ausgrenzten, aber aus verschiedenen Gründen und mit verschiedener Intensität. Daraufhin könnten beide Gruppen in der Erinnerungskultur nebeneinander bestehen und kooperieren. Darf die Ausgrenzung/Abwertung des Lesbischseins „Verfolgung“ heißen oder muss stattdessen der schwächere Begriff „Diskriminierung“ benutzt werden? Nicht bezweifelt wird, dass weib-weibliches Begehren strikt unerwünscht war. Der Konflikt dreht sich dabei vor allem um die Form des Gedenkens.

Diesem Themenbereich, der gegenwärtigen Erinnerungskultur, widmet sich der letzte Teil dieses Bandes mit drei Aufsätzen, in denen die heutige Relevanz der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung beleuchtet wird. Sébastien Tremblay arbeitet über die globale Bedeutungs- und Verwendungsgeschichte des Rosa Winkels, jenes ursprünglich unscheinbaren Stoffabzeichens. Ihn interessiert, wie das Konzentrationslager als ein Trauma das kollektive Gedächtnis geprägt hat. Die Identitätskonstruktion der LSBT-Menschen entstand im Lichte einer überwiegend schwulen Erinnerungspflege. Tremblay hat umfangreiches Material dazu gesammelt, wie der Rosa Winkel global als Zeichen verwendet wird. In dem Artikel zeigt er, wie seit Mitte der 1970er Jahre, kurz nach Beginn der deutschen Schwulen- und Lesbenbewegung, die kollektive schwule Vergangenheit neu entdeckt und mit dem Winkel markiert wurde. Aus dieser Historisierung kristallisierte sich damals die Mobilisierung.

Rechtsextreme Kreise nutzen bis heute den latent vorhandenen Bestand an Homophobie, um ihre Anhängerschaft bei der Stange zu halten. Norbert Finzsch beschreibt das Vorkommen homo- und transphober Stereotype und Gewaltakte in zwei US-amerikanischen Milieus, die als rechtsradikal bzw. neonazistisch einzuordnen sind. Der originär amerikanische Faschismus propagiert einen weißen Suprematismus; die verschiedenen Gruppen werden u.a. durch die Ablehnung von Einwanderung, Queer-Positionen, Frauenrechten, Integration und Diversität geeint. In den sozialen Medien sind ihre Botschaften sehr präsent. Die Homophobie der US-amerikanischen Rechten stützt sich auf ein intersektionales Konglomerat verschiedener Ideologeme. Finzsch hält es für ausgemacht, dass die Präsidentenwahl von 2016 und Donald Trumps Wahlkampf zu dem spürbaren Anstieg homophober Vorkommnisse beigetragen haben. Hier schließt sich der Bogen, der vom NS-Terrorstaat zu aktuellen Verhältnissen geschlagen werden kann.

Am Ende dieser Ausgabe von Invertito skizziert Rüdiger Lautmann einen neuen Anlauf, die langjährige Konkurrenz der NS-Opfergruppen zu überwinden. Das intensiv diskutierte Konzept einer Ko-Erinnerung (Michael Rothberg) erlaubt und fordert eine Gemeinsamkeit des Gedenkens für sämtliche Terroropfer. Der Aufsatz prüft dies für das Verhältnis zwischen dem Mord an den europäischen Juden und der Homosexuellenverfolgung: Wo können sich die beiden Gedächtnisse wechselseitig bereichern und worin bleibt jedes für sich gesondert? Die neuen Prinzipien der Erinnerungskultur können auch auf das schwierige Verhältnis zwischen lesbischer und schwuler Gedenkarbeit angewendet werden.

Die nächste Ausgabe des Jahrbuchs wird sich wieder mit wechselnden Themen befassen. Dazu wird es wieder Rezensionen geben; für Hinweise auf zu besprechende Bücher sind wir dankbar – das Feld ist weit.

Die Redaktion

Inhaltsverzeichnis

EDITORIAL

FRAUENLIEBE
Laurie Marhoefer
Wurden lesbische Frauen im Nationalsozialismus verfolgt?
Mikrogeschichte und der Begriff der „Verfolgtengruppe“

Insa Eschebach
Queere Gedächtnisräume. Zivilgesellschaftliches Engagement und
Erinnerungskonkurrenzen im Kontext der Gedenkstätte Ravensbrück
Aktivistinnen des lesbischen Gedenkens

Anna Hájková und Birgit Bosold im Gespräch mit
Ulrike Janz, Irmes Schwager und Lisa Steininger

WISSENSDEFIZIT BEI DEN ZWISCHENFORMEN

Kirsten Plötz
„Auslese“ von lesbischen, schwulen, trans und inter Personen durch Gesundheitseinrichtungen in Frankfurt am Main? Eine Vorstudie

UNTER MÄNNERN

Lutz van Dijk
„Das freche Argument … mit dem erschossenen Legationsrat ein homosexuelles Verhältnis gehabt [zu haben]“.
Hintergründe zum niemals durchgeführten Schauprozess gegen
Herschel Grynszpan, dessen Attentat die Nazis missbrauchten,
um die Pogromnacht 1938 in Gang zu setzen

Alexander Zinn
Wider die „Überidentifikation“ mit den Opfern. Streitschrift für einen
Paradigmenwechsel in der schwulen und lesbischen Geschichtsschreibung

Burkhard Jellonnek
Gegen das Weichzeichnen des NS-Terrors.
Ein Kommentar zu Alexander Zinns Buch „Aus dem Volks­körper
entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus

BLICK VON HEUTE HER AUF DIE GESCHICHTE

Sébastien Tremblay
„Ich konnte ihren Schmerz körperlich spüren.“ Die Historisierung
der NS-Verfolgung und die Wieder­aneignung des Rosa Winkels
in der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre

Norbert Finzsch
Zur Homophobie und Transphobie in der Alt-Right-Bewegung
und unter den amerikanischen Neonazis

Rüdiger Lautmann
Diversität und Einheit.
Die NS-Homosexuellenrepression in der deutschen Erinnerungskultur

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