Mike Davis, Professor für Geschichte an der University of California, Irvine, hat mit „Planet der Slums“ ein Buch vorgelegt, in dem er mehrere Themen seiner bisherigen Veröffentlichungen zusammenführt. „Planet der Slums“ handelt von Städten und ihren BewohnerInnen, von Unterentwicklung und Ausbeutung sowie von katastrophalen Zuständen aller Art. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist insofern gut gewählt, als der weltweite Verstädterungsgrad gerade um die 50 Prozent oszilliert – was es Davis erlaubt, eine „urbane Wende“ zu konstatieren, die in ihrer historischen Bedeutung vergleichbar sei mit der neolithischen Wende oder der industriellen Revolution.
Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, die sich allerdings einer klaren Inhaltsbeschreibung entziehen, weil Davis nicht um eine systematische Aufarbeitung bestimmter Themenblöcke bemüht ist. Vielmehr hat er, inspiriert durch den UN-Report „The Challenge of Slums – Global Report on Human Settlements 2003“1, eine politisch engagierte Streitschrift vorgelegt, in der er dagegen anschreibt, dass die Welt zunehmend „verslumt“. Damit meint Davis zwei ineinandergreifende Prozesse: dass erstens das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit in Städten des globalen Südens stattfinden wird, und dass zweitens diese Städte „weitgehend ohne Industrialisierung, schlimmer noch, ohne jegliche Entwicklung“ wachsen werden (Klappentext). Der Slum, das ist für Davis die Endstation, für eine Milliarde oder mehr Menschen ein realer Ort des Lebens und Sterbens und zugleich Sinnbild für die durch Kolonialismus, Kapitalismus und jüngst Strukturanpassungsprogramme ausgelöste Verarmung weiter Teile der Welt. Der Slum, das ist „eine Zone der Verbannung, ein neues Babylon“ (S. 210).
Davis wird von seinen LeserInnen geschätzt, weil er gerade kein distanzierter und allzu differenzierender Beobachter ist, sondern ein wortgewaltiger, parteiischer Ankläger von Unrecht. Mit „Planet der Slums“ bestätigt er diesen Ruf. Auf Basis einer beachtlichen Menge an wissenschaftlicher Literatur, die für das Buch verarbeitet wurde, dokumentiert Davis den „Verrat des Staates“ an den Armen. Nirgendwo (außer vielleicht in China) kümmerten sich die untersuchten Staaten um sozialen Wohnbau oder städtische Infrastrukturen. Schuld am staatlichen Rückzug tragen, und auch hier kann sich Davis auf eine breite Literaturbasis berufen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, die mit Strukturanpassungsprogrammen dafür sorgten, dass „Slums zur unausweichlichen Zukunft nicht nur für arme Migranten vom Land wurden, sondern auch für Millionen alteingesessener Stadtbewohner“ (S. 160). Kenntnisreich entlarvt er die bei linken Architekten, NGOs und Weltbank gleichermaßen beliebte Vorstellung, Slums seien Orte der Selbsthilfe und der Beginn einer sozialen Aufwärtsmobilität. Zu verlangen, dass sich die Armen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sei nicht nur zynisch. Obendrein blieben die Selbsthilfeprogramme Illusion, denn: „Immobilienmärkte haben […] die Slums zurückerobert, und obwohl sich der Mythos von heroischen Besetzern und kostenlosem Land hartnäckig hält, werden die städtischen Armen immer mehr zu Vasallen der Landbesitzer und Immobilienmakler.“ (S. 69)
Davis geißelt die Politik der Slumräumungen als Klassenkampf von oben und zeigt an zahlreichen Beispielen die dahinter stehende Ansicht der Regierenden, Slumbewohner2 seien „Schmutz“ und „menschlicher Ballast“ (S. 111). Und schließlich räumt Davis, gestützt auf zahlreiche Studien, auf mit den „Mythen der Informalität“. In der Empfehlung des peruanischen Geschäftsmannes Hernando de Soto, Informalität zur Norm des Arbeitslebens zu machen3, sieht Davis „schlicht das Schmiermittel auf der Fahrt in die Hobbes’sche Hölle“ (S. 193).
Das Eigenartige an Davis’ Buch ist, dass es trotz seines Engagements und der Detailliertheit nicht überzeugt. Das liegt nicht daran, dass das Buch außer der sehr dichten Kompilation von Daten und Fallbeispielen kaum Neues bietet – wissenschaftliche Studien gekonnt für ein Massenpublikum aufzubereiten ist ein durchaus ehrenwertes Vorhaben.4 Das Problem an Davis’ Buch ist erstens die geringe analytische Schärfe, der allzu grobe Kamm, über den seine Geschichten geschoren werden. Die Fallbeispiele sind anekdotisch aneinandergereiht, ein Potpourri von Missständen und Grausamkeiten aus aller Welt, deren Zweck es nicht ist, ein abwägendes und gerade deshalb überzeugendes Argument zu entwickeln. Davis’ Empirie dient der bloßen Untermalung seiner apokalyptischen Darstellung der Städte des Südens. Nur selten findet man einen relativierenden Einwurf – etwa dahingehend, dass Mexico City und Lima, Johannesburg und Lagos, Manila und Shanghai nicht so einfach in eine Aufzählung gepresst werden können. Häufig wird hingegen die Differenziertheit dem Bedürfnis nach plakativen Superlativen geopfert. So lässt Davis in seiner Übersichtstabelle zu den größten „Megaslums“ (!) der Welt in Mexico City einen solchen „Megaslum“ mit vier Millionen EinwohnerInnen entstehen, den er aus 18 (!) Bezirken formt. Manche davon, wie Nezahualcóyotl, sind in den 1950er-Jahren als informelle Siedlung entstanden und gelten heute zu Recht als konsolidiert (beispielsweise haben 95 Prozent der 1,4 Millionen BewohnerInnen Nezas sowohl Kanalanschluss als auch Fließwasser in der Wohnung oder am Grundstück), während andere erst ab den 1980er-Jahren errichtet wurden. Aber selbst hier passt Davis’ von der UN übernommene Definition von Slum nicht – immerhin haben beispielsweise in Chalco über 80 Prozent der BewohnerInnen unmittelbaren Zugang zu Kanalisation und Fließwasser.
Der zweite Grund, warum das Buch einen äußert schalen Eindruck hinterlässt, ist Davis’ Sprache. War er immer schon ein Grenzgänger zum Journalismus, so bedient sich Davis in „Planet der Slums“ gern der negativen und gewalttätigen Superlative. Vom vorangestellten Motto („Slum, Semi-Slum und Superslum […] dazu haben sich die Städte entwickelt“) bis zum letzten Absatz („Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber […] über den engen Gassen der Slumviertel. […] Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten.“) zieht sich das Skandalisieren der Slums, und gleich manchen JournalistInnen, die nicht an Aufklärung oder Analyse interessiert sind, sondern an der Sensationslüsternheit, bezeichnet Davis Bombay oder Nairobi als „stinkende Kotberge“ (S. 145). Er lässt Bevölkerung und Städte ebenso häufig „explodieren“ wie die Bomben in Bagdad, spricht vom „Urknall der städtischen Armut“ und malt die „Invasion der armen Leute“ oder die „Anstürme der Armut“ an die Wand (S. 161, S. 106, S. 159). Schlimmer noch, Davis setzt häufig biologistische Metaphern ein, beispielsweise wenn er von der „riesige[n] Amöbe Mexiko-Stadt“ schreibt, „die sich schon Toluca einverleibt hat“ (S. 11). Als Naturgewalt scheinen ihm auch die vom Land kommenden MigrantInnen zu gelten – sie werden als „Bauernflut“ und „Sintflut“ bezeichnet (S. 16, S. 60).
Weil Sprache Wirklichkeiten nicht nur abbildet, sondern auch schafft, steht Davis’ Sprache seinem emanzipatorischen Anliegen diametral gegenüber. Ungeachtet der inhaltlichen Anklage, die Kolonialismus und Kapitalismus, IWF und Weltbank trifft, erzeugt und reproduziert Davis mit seiner Sprache Bilder, die dem rechten Diskurs über „ungesunde Verstädterung“ und städtische Pathologien gleichen. Ja, etwas flüchtigen LeserInnen des Buches mag nicht in Erinnerung bleiben, dass Davis zahlreiche wissenschaftliche Studien und aktuelle Daten zitiert, um zu zeigen, dass die (neue) städtische Armut von den „brutalen Verwerfungen der neoliberalen Globalisierung“ (S. 183) herrührt, sondern bloß das Bild der „wuchernden Städte“ (S. 13). So besteht die Gefahr, dass der malthusianische Pessimismus, den Davis an anderen kritisiert, durch sein eigenes Buch befördert wird. Dass die SlumbewohnerInnen bei allem Elend und aller Ausbeutung, die Davis zu Recht attackiert, auch handelnde Subjekte sind, die Strategien zum Umgang mit der Not entwickeln, welche sich nicht mit „Kriminalität“, „Prostitution“ oder „religiöse[m] Wahn“ abtun lassen, davon schreibt Davis kaum. Und so ertappt man sich bei der Frage, ob Davis das Fragezeichen in einer der Kapitelüberschriften („Eine überschüssige Menschheit?“) bloß aus rhetorischen Gründen gesetzt hat.
Anmerkungen:
1 <http://www.unhabitat.org/pmss/getElectronicVersion.asp?nr=1156&alt=1lt=1>(25.7.2007).
2 Die deutsche Übersetzung kennt ausschließlich die männliche Form der in den Slums wohnenden Menschen.
3 De Soto, Hernando, The Other Path. The Invisible Revolution in the Third World, London 1989 (und öfter).
4 Aus dem Spektrum der wissenschaftlichen Arbeiten sei hier nur verwiesen auf: Roberts, Bryan, The Making of Citizens. Cities of Peasant Revisited, London 1995; Ribbeck, Eckhart, Die informelle Moderne. Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt, Heidelberg 2002; Parnreiter, Christof, Historische Geographien, verräumlichte Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung, Stuttgart 2007 (erscheint Ende September).