Vor 20 Jahren noch hätte die Vita eines Wittelsbacher-Prinzen, der nie die Krone trug und auch staatspolitisch nachhaltig kaum in Erscheinung trat, ein wissenschaftliches Interesse kaum begründen können. Heute, wo das Biografische bereits im Begriff steht, zu einer quasi strukturellen Größe im Erklärungsangebot vor allem der (kulturell orientierten) Politikgeschichte zu avancieren, ist das anders. Biografische Forschung steht hoch im Kurs, der Nachholbedarf an kritisch gearbeiteten und kontextuell angelegten Lebensgeschichten ist groß. Der (von 1913 bis 1918) Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869-1955) gehört offenbar zu den prominenteren Gestalten der neueren deutschen Geschichte.1 Seine Vita durchmaß an exponierter Stelle äußerst bewegte Zeiten und Zustände unserer jüngsten Vergangenheit vom deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, so dass ihre Untersuchung die Chance eröffnet, historische Welten und Vorgänge aufzuschließen, die womöglich neue und bislang wenig beachtete Aspekte der Politikgeschichte ins Blickfeld rücken: bayerische, militärische, dynastische, Ränke schmiedende. Zumal, wenn – wie im vorliegenden Fall – so reiche primäre Quellen sprudeln, wie Dieter Weiß sie aufgetan hat. Eine solche Chance wissenschaftlich zu nutzen, bedeutet freilich, das Individuelle dieses hocharistokratischen Lebensschicksals ins Hochpolitische zu übertragen, die persönlichen Anschauungen und Ambitionen mit den strukturellen Vorgaben der politischen Kultur und des Politikmachens in den jeweiligen ‚Deutschlands’ zu vernetzen. Dafür muss der Biograf nicht allein weite (historisch-politische) Horizonte ausschreiten, sondern auch das Wollen und Wirken seines Protagonisten fortlaufend kritisch hinterfragen, indem er es einmal konsequent auf menschliches Maß bzw. ideologische Prägungen zurückführt und zudem mit anderen historischen Akteuren von ähnlichem Format vergleicht. Und nach Möglichkeit sollte auch der Charakterkopf hinter den politischen Vorstellungen, Handlungsmustern und Rollen sichtbar werden, weil so die Dispositionsspielräume und (Selbst-)Beschränkungen noch genauer ausgelotet werden können.
Von einem solchen Ansatz ist die Rupprecht-Biografie von Dieter Weiß ziemlich weit entfernt. Zwar beansprucht auch der Bayreuther Historiker eine „kritische Würdigung“ der Prinzenvita auf dem aktuellen Stand der Zeitgeschichtsforschung (S. 11). Aber seine persönliche Befangenheit gegenüber seinem Protagonisten, genauer: sein extrem positives Vorurteil, das sich wie ein roter oder besser: weiß-blauer Faden durch seine Darstellung zieht, hindern den Autor daran, diesen Anspruch auch wirklich professionell einzulösen. Auffallend ist schon, dass Weiß weder zentrale Erkenntnis leitende Fragen an diese – politisch auf ganzer Linie gescheiterte – Lebensgeschichte stellt, noch eine thesenförmige Zuspitzung seiner Forschungsergebnisse liefert. Ein solcher Verzicht kann natürlich nicht ohne Auswirkung auf die Anlage dieser Biografie bleiben. Will sagen: Die zweifellos enorm fleißige Aufbereitung des opulenten Quellenmaterials – der Anmerkungsapparat umfasst allein 70 Druckseiten – bewegt sich fast ausschließlich auf der Ebene einer positivistisch referierenden Lebenschronik, deren Kontextualisierung sich vorzugsweise in affirmativen Kommentaren erschöpft. Die Konzeption der Darstellung ist steif. In fünf Hauptkapiteln werden expressis verbis „Zeiten“ abgehandelt: die der Monarchie, in der Rupprecht ein privat eher unglückliches Leben führte, doch als begabter Militär soweit zu reüssieren verstand, dass er im Ersten Weltkrieg ein vorzeigbarer Armeeführer wurde; die der Republik, wo er als Hoffnungsträger monarchistischer Kreise um restaurative Alternativen zur ungeliebten Demokratie bemüht blieb; die der Diktatur, wo er aus seiner Aversion gegen die zentralistische Hitlerdiktatur so wenig Hehl machte, dass ihn die Nazis schon 1934 zur persona non grata erklärten und in die Flucht trieben; und schließlich die des Freistaates, wo wir ihn im Umfeld obskurer politischer Kreise extrem-föderalistischer Provenienz mit spätmonarchistischen Ambitionen finden, über die die Erfolgsgeschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland jedoch schon bald zur Tagesordnung überging. Verpackt sind in diesen Zeitkapiteln inhaltlich sehr disparate Themenkomplexe, die etwa im ersten Kapitel von „Heiratsprojekten“ bis zu „Einsicht zum Verständigungsfrieden“ reichen. Dieser wenig systematischen bzw. problemorientiert strukturierten Darstellungsweise entspricht eine stark episodenhafte Darstellungsform, die vieles bringt, aber nicht erklärt, warum sie es bringt.
Dieter Weiß bewundert in seinem Helden aufrichtig eine „ehrwürdige Gestalt“ (S. 11) und einen immer bescheidenen „Hohen Herrn“ (S. 356). Die „Hingabe für sein Land“ sei auf eine Weise erfolgt, „wie es nur ein König vermag“ (S. 357). Mit Blick auf den „Feldherrn“ lobt Weiß nicht allein die vermeintlich herausragenden militärischen Qualitäten des Bayern: „Er bezog auch die politische Gesamtsituation in seine Überlegungen ein“ (S. 126), so dass ihn stets eine „realistische Einschätzung der Kriegslage“ (S. 128) ausgezeichnet habe. Dass er „sich dem Gaseinsatz nicht grundsätzlich verschließen konnte“ (S. 137) und im Frühjahr 1917 auch den uneingeschränkten U-Bootkrieg befürwortete, hält Weiß für ebenso vertretbar wie seine zunächst extrem annektionistischen Kriegszielphantasien, die das von Preußen 1866/71 marginalisierte Bayern machtpolitisch endlich wieder auf Augenhöhe mit dem das Reich dominierenden größten Bundesstaat bringen sollten. Denn: „Er besaß die Klugheit, sich nach einem guten Kriegsjahr allmählich vom Anhänger eines Siegfriedens zu dem eines Verständigungsfriedens zu wandeln. Der Druck des Krieges hatte den Kronprinzen vom Offizier und Feldherren zum Staatsmann reifen lassen“ (S.143). Schon 1917 habe er – gleichsam antizipatorisch – „eine hellsichtige Analyse der Ursachen der dann ein Jahr später ausgebrochenen Revolution“ geliefert (S. 158). In den ersten Krisenjahren der Weimarer Republik sei der – für Weiß immer noch – „Kronprinz“ dann bemüht gewesen, „die vaterländischen Kräfte zusammenzuhalten und die Staatsmacht in Bayern gegen Putschversuche zu festigen“ (S. 217). Mit dem Hitlerschen Staatsstreichversuch vom 9. November 1923 habe er weder im Vorfeld noch in der Durchführung „das Geringste zu tun“ gehabt (S. 221). Vielmehr gelte es, seine damalige Bereitschaft hervorzuheben, „in schwerer Zeit Verantwortung für das Land zu übernehmen“ (S. 220). Als „ein Mann des Rechtes“ habe Rupprecht überhaupt lebenslang „wie ein überparteiliches Staatsoberhaupt agiert“ (S. 357). Immer wieder habe er „viele historische Entwicklungen richtig vorausgesehen“ (S. 357f.). Deshalb sei es nachgerade „tragisch“ zu nennen, dass er nie die Chance erhalten habe, „seine Erkenntnisse umzusetzen“ (ebd.). So endet seine Biografie folgerichtig mit dem ganz ernst gemeinten Epitaph: „Ungekrönt, und doch ein König“ (S. 358).
Solche Elogen aus dem Repertoire der Haus- und Hofhistoriografie liegen in ihrer analytischen Unschärfe, ja Phraseologie weit unter dem kritischen Reflexions-Niveau, das die biografische Forschung gerade auf dem Gebiet der Politikgeschichte inzwischen erreicht hat. Und es ist genau dieser eklatante Rückschritt, der Einspruch herausfordert; vor allem deshalb, weil sich der Autor damit alle kritischen Deutungsmöglichkeiten abschneidet. Die Erkenntnischancen des ausgewerteten Quellenmaterials werden verspielt – mit der Folge, dass die historischen Probleme, um die es hier geht, weder beim Namen genannt noch ernsthaft diskutiert werden. Etwa was die dringend erwünschte Aufhellung der politisch äußerst problematischen Rolle anlangt, die der Exkronprinz 1922/23 als graue Eminenz im „vaterländischen“ (= rechtsradikalen) Milieu Bayerns und als politischer Ziehvater des bayerischen Diktators Gustav Ritter von Kahr gespielt hat, der mit seinen antidemokratischen und antisemitischen Restriktionen bekanntlich verhängnisvolle Wege einschlug. Statt Klartext finden wir bei Weiß gewundene Erklärungsversuche, die mehr vernebeln als aufklären. An anderen Beispielen ließe sich zeigen, dass das primäre Quellenmaterial den unkritischen Einschätzungen und Werturteilen des Biografen sogar direkt widerspricht; dies gilt namentlich mit Blick auf politisch vermeintlich kluge Denkschriften, Tagebucheintragungen oder Briefe aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, denen Weiß große staatsmännische Potentiale imputiert, die sich bei näherem Hinsehen aber entweder als Einflüsterungen anderer oder als schieres Ressentiment bis hin zu Schwarzmalerei erweisen.
Man darf es deshalb so hart sagen: Dies ist keine „umfassende wissenschaftliche Biografie“ (so der Klappentext), weil es dem Autor dafür an der erforderlichen historisch-kritischen Distanz und an dem Mut zu einer eigenen, rein wissenschaftlich begründeten Meinung gegenüber seinem Protagonisten gebricht. Dies ist aber auch keine analytischen Ansprüchen genügende „politische Biografie“ (so der Untertitel), weil der Problemhorizont dieser Politikgeschichte kaum jemals über die bayerischen Grenzpfähle hinausweist. An keiner Stelle problematisiert Weiß Rupprechts durchgängige Unfähigkeit, ja seinen Unwillen, die nationalen Belange des deutschen Reiches als primären Handlungsrahmen für große Politik zu realisieren und nicht die Interessen Bayerns bzw. die der bayerischen Monarchie. Er erkennt nicht, dass Rupprecht seiner politischen Grundüberzeugung nach ein Revisionist war, der sich mit allen Fasern seines Herzens nach einem Deutschland wie vor 1866 sehnte. Und über die tief sitzenden Ressentiments des Wittelsbachers (vor allem gegen „Berlin“), seine große, schon das Phobische streifende Angst vor dem Gespenst des Unitarismus und nicht zuletzt über seinen augenscheinlichen Inferioritätskomplex gegenüber der Hohenzollerndynastie findet man ebenfalls kein aufklärendes Wort.
Schlimmer noch: Der Autor scheint in einem weit über historisches Verstehen hinausgehenden Maße die ideologisch-bajuwarischen Verdikte und Sichtweisen seines Helden zu teilen. Er verleiht ihnen damit gleichsam eine überzeitliche Berechtigung. Das Äußerste, was er sich an Kritik abringen kann, sind Relativierungen. Ein Beispiel: Rupprecht schreibt 1923 in einer von ihm selbst verbreiteten Denkschrift wörtlich: „Der Antisemitismus ist gegenwärtig aus begreiflichen und nicht ungerechtfertigten Gründen stärker denn je. Die Minimalforderung ist die Ausweisung der Ostjuden, die unbedingt erfolgen muss, denn diese Elemente haben vergiftend gewirkt.“2 Der Historiker Weiß verzichtet auf eine vollständige Wiedergabe dieser beiden Sätze, und er nennt das, was er zitiert, nicht gefährliche Scharfmacherei einer einflussreichen Autoritätsperson, sondern „Überlegungen zum wachsenden Antisemitismus“, die keine grundsätzliche Erwägung, vielmehr „zeitverhaftet“ gewesen seien. Der „Kronprinz“ habe „damit zu Anfang der zwanziger Jahre bis in national-konservative Parteien verbreiteten Ressentiments Ausdruck“ verliehen (S. 240). Punktum. Kein Wort davon, dass der nicht zuletzt durch Rupprechts Protegierung zu diktatorischen Machtmitteln gekommene bayerische Generalstaatskommissar von Kahr zeitgleich diese Forderung rücksichtslos umgesetzt hat. Und kein weiteres Nachdenken darüber, dass die von Kahr im Oktober 1923 exekutierte Ausweisung von Ostjuden aus Bayern nur das Mindeste war, was sein Königlicher Herr gefordert hatte.
Intellektuelle Unterlassungssünden wie diese sind in dem Buch leider Legion. Dennoch sollte man ihm seinen Wert für die historische Forschung nicht absprechen. Zum einen deshalb nicht, weil es zumindest unser stoffliches Wissen um manche Facetten der bayerischen Landesgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt, die überall dort eine solide Vertiefung erfährt, wo die Titelgestalt nicht unmittelbar involviert war. Außerdem kann man Dieter J. Weiß dankbar sein für das viele bis dato unausgewertete Quellenmaterial aus den Beständen des Geheimen Hausarchivs in München, über das er uns zitierend oder verweisend breite Auskunft gibt und damit hoffentlich Begehrlichkeiten weckt. Nun kommt es nur noch darauf an, es auch so zum Sprechen zu bringen, dass daraus ein angemessener wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn erwächst.
Anmerkungen:
1 Vgl. Neue Deutsche Biographie. Bd. 22, Berlin 2005, S. 285f.
2 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, Nachlass Kronprinz Rupprecht Nr. 774 - Denkschrift zur „Betrachtung der politischen Lage“.