Welchen Anteil besitzt die Repräsentation von Räumen an ihrer Konstruktion? So lautet die Leitfrage dieses von dem Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer herausgegebenen und zum großen Teil von Mitarbeitern des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung bestrittenen Sammelbandes. Es geht also um die Konsequenzen des spatial turn für die Kultur- und Kunstwissenschaften, und damit um seine Auswirkungen in Forschungsgebieten, deren Gegenstand nicht in erster Linie physisch bzw. territorial verfasste Räume sind, sondern - wie im Titel angedeutet - mediale Prozesse, in denen sich Räumlichkeit artikuliert: "Medien repräsentieren und konstruieren Räume – die Übergänge zwischen einem Stadtplan und einem Bauplan sind fließend. Dar- und hergestellt werden Räume durch graphische Operationen im weitesten Sinn: durch alphabetische, karto-, photo-, und cinematographische, aber auch durch solche, die das Gelände selbst 'kerben'."
Die zugrunde gelegte Frage, im Sinne des spatial turn, ist demnach nicht so sehr die nach dem Einfluss gegebener Räume auf die Geschichte, sondern umgekehrt die nach der Art und Weise, wie Räume durch menschliches Handeln figuriert und verändert werden. Damit einher geht jedoch auch eine grundlegende Unklarheit im Umgang mit Räumlichkeit, die die Konzeption dieses Bandes durchzieht und in einigen Beiträgen problematische Folgen zeitigt: Mit Bezug auf Deleuze/Guattaris Unterscheidung von glattem und gekerbtem Raum meint Topographie hier sowohl die Merkmale einer Landschaft als auch ihre Beschreibung. Dementsprechend betreffen die zitierten "graphischen" Praktiken sowohl die Konstruktion des dargestellten als auch des realen Raums. In seiner Einleitung formuliert Stockhammer dies leitmotivisch in den Kategorien Lefebvres: Repräsentationen des Raums (TopoGraphien als Be-Schreibungen) gehen unablässig in Räume der Repräsentation (TopoGraphien als Ein-Schreibungen) über (S. 20).
Nun kann eine Verwischung von realem und dargestelltem Raum gerade nicht vergewisserter Ausgangspunkt einer Untersuchung sein, sondern wäre in jedem Einzelfall gerade hinsichtlich des Ob und des Wie dieses Übergangs zu problematisieren. Durch den Kurzschluss von Untersuchungsebenen bestünde die Gefahr, Fragen, die zu großen Teilen noch Forschungs-desiderate darstellen, zu einfach aus dem Weg zu räumen. Dies hat Stockhammer auch nicht im Sinn. Er verweist zu Recht darauf, dass Repräsentationen immer auch soziale Praktiken sind, die für den gesellschaftlichen und physischen Raum Folgen haben, also nicht in der konstativen Abbildung des Gegebenen aufgehen. Andererseits können sich die dargestellten Räume nicht lückenlos und identisch in den realen Raum einschreiben. Viele der folgenden Beiträge loten das Spannungsfeld performativer Äußerungen, das hier letztlich gemeint ist, differenziert aus.
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Im ersten Teil des Bandes geht es um verschiedene Etappen in der Geschichte der Raumwissenschaften, und vor allem darum, wie jeweils das Verhältnis von Raum als Gegebenem und Raum als Gemachtem denkbar wäre. Werner Köster geht dabei in seinem Aufsatz "Deutschland, 1900-2000: Der "Raum" als Kategorie der Resubstantialisierung. Analysen zur deutschen Semantik und Wissenschaftsgeschichte" auf die Nachwirkungen des ersten spatial turn der deutschen Wissenschaftsgeschichte ein. Er kritisiert Versuche, im Zuge der Wiederentdeckung des Raumes an Thesen der deutschen Geopolitik der 1930er und 1940er anzuschließen. Dabei unterstellt er weder politische Sympathien, noch lehnt er generell ein kritisch reflektiertes geopolitisches Denken ab. Nur stellt er zu Recht die Frage nach den Implikationen der Theorietraditionen, die jeweils reaktiviert werden, wenn es darum geht, dem Raum wieder Gewicht, Materialität und Konkretion zu geben. Als einen der wichtigsten Schritte mahnt er die Unterscheidung zwischen Raum als Erkenntnis- und Raum als Realobjekt an, um sowohl voluntaristische als auch entwicklungsdeterministische Kurzschlüsse zu vermeiden, die er u.a. anhand der Konzepte Ratzels und Schmitts genau rekonstruiert und bis in heutige Globalisierungs- und Völkerrechtsdebatten, aber auch in system- und medientheoretischen Diskursen nachverfolgt.
Patrick Sériot rekonstruiert in seinem Artikel das Eurasiertum in seiner strukturalistischen Ausprägung, wie es in der Zusammenarbeit des Linguisten Roman Jakobson und des Geographen Petr. N. Savickij in der Zwischenkriegszeit in Prag erarbeitet wurde. Hier geht es um die Konstruktion des eurasischen Raumes als autonomer Totalität und die Naturalisierung seiner (Sprach)Grenzen. Sériot zeigt auf, wie Jacobsons und Savickijs Vorannahmen von der Ordnung, Harmonie und Symmetrie von Systemen mithilfe ästhetischer Verfahren auf die Sprachgeographie projiziert wurden, wodurch geometrisch geordnete und völlig menschenleere Räume entstanden.
Den ersten Teil des Bandes beschließt Edward W. Sojas Aufsatz "Die Trialektik der Räumlichkeit". Dieser Text erscheint hier, ebenso wie die Beiträge von de Certeau und J. Hillis Miller, erstmals in deutscher Sprache. Soja, mit seinen "Postmodern Geographies" einer der Vorreiter des neueren spatial turn, entwickelt anhand Henri Lefebvres "La production de l'espace" seine Vorstellung eines Dritt-Raums als kritischer und emanzipatorischer Möglichkeitsmaschine zur Vermeidung von Totalisierungen und zur Öffnung und Störung binären Denkens. Sojas Trialektik fußt auf Lefebvres Unterscheidung von räumlicher Praxis (wahrgenommener Raum), Repräsentationen des Raumes (vorgestellter Raum) und Räumen der Repräsentation (gelebter Raum bzw. Dritt-Raum). Mit fast unheimlicher Symmetriewut buchstabiert er deren mögliche Konstellationen durch.
Nach dieser Rückschau auf verschiedene spatial turns und vor allem Kösters in Bezug auf die Leitthese des Bandes wichtigen und provozierenden Rundumschlag und seiner Warnung, die medialen und performativen Prozesse zwischen Realraum und Repräsentation nicht außer Acht zu lassen, befassen sich die folgenden Beiträge mit der Konstruktion von Räumlichkeit besonders in der Literatur, sowie in vielen Fällen auch mit deren Konsequenzen für die Strukturierung des realen Raums. Die Beiträge konzentrieren sich größtenteils auf das 20. Jahrhundert, wobei der Fokus auf detaillierte Fallstudien die Stärke des Bandes ist.
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Der zweite Block ist Praktiken des Kerbens auf der Ebene der Beschreibungen von Raum gewidmet. Er enthält Michel de Certeaus "Die See schreiben", die Einleitung der von ihm besorgten Neuausgabe von Jules Vernes "Les Grands Navigateurs du XVIIIe siècle" (Paris 1977). De Certeau zeigt anhand von Vernes Projekt, aus Raum Sprache zu machen, wie im fiktionalisierten, verdoppelnden und entstellenden Nachvollzug der Bewegungen der Reisenden und ihrer Versuche, den bereisten Raum nach den Modellen gerader Linien, Kreise, und mit Hilfe von Toponymen zu strukturieren, die Aporien dieser Handlungen aufscheinen. Justus Fetscher beschreibt Strategien der Entnennung und Überbenennung der Pariser Topographie anhand von Rilke und Apollinaire im Zusammenhang mit modernen Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen. Stefan Willer untersucht die Verräumlichung der Lektüre anhand der räumlichen Deixis im Text (Textstellen) und über ihn hinaus (Zitate, Leerstellen).
J. Hillis Millers Text zur Ethik der Topographie in einem Gedicht von Wallace Stevens ist ein Auszug aus seinem bisher unübersetzten Buch "Topographies" (Stanford, CA 1995) und einer der Höhepunkte dieses Bandes. Er untersucht die Beziehung von Raum und seiner Benennung bzw. Darstellung (Topographie) als eine nicht nur epistemologisch-konstative, sondern auch als eine ethische. Miller beschreibt Ethik als das Reich des performativen Sprachgebrauchs, der die Namen der Dinge an deren Stelle setzt und mit dieser (imaginären) Ordnung stets auch Unentscheidbarkeiten produziert - der Akt der Setzung einer Topographie in Stevens Gedicht versteht sich nicht als völlig souverän oder unabhängig von bzw. deckungsgleich mit dem beschriebenen Ort - sonst wäre er totalitär. Miller betont dementsprechend die Vorläufigkeit und Veränderbarkeit der Topographie sowie die Endlichkeit und Kontingenz ihrer Geltung.
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Der dritte Block, KinetoGraphien, behandelt den Zusammenhang von Räumlichkeit und Bewegung. Marianne Streisand vollzieht am Beispiel der Tanzavantgarde in Dresden-Hellerau nach, wie der Rhythmus um 1900 von einer Rezeptionskategorie zum universalen und metaphysischen Modell für Raum - nun im Sinne eines ganzheitlichen Bewegungsraums - schlechthin wurde, und zeigt die Auswirkungen dieses Modells vom Bühnen- über den Körper- bis zum Stadtraum. Dorothea Löbbermann untersucht verschiedene Perspektiven auf die postmoderne Stadt und ihre Lesbarkeit anhand der Bewegungen von Touristen und Obdachlosen. Deren Beschreibung changiert jedoch unscharf zwischen Figuren als kulturellen Imaginationen, Figuren als Metaphern für theoretische Perspektiven und realen Akteuren, wodurch auch unklar bleibt, welcher Raum jeweils durch diese Transients konstruiert wird. Dirk Naguschewski beschreibt, wie in afrikanischen Filmen über Dakar die Simultanität von Eigenem und Fremdem, Tradition und Moderne in der postkolonialen Situation verhandelt wird, und schließt mit der Hoffnung, der im Film durch Hybridisierung erzeugte Dritt-Raum möge von einer Be-Schreibung zu einer Ein-Schreibung werden, wobei wie schon bei Soja das Wie offen bleibt.
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Der letzte Block beschreibt die Dialektiken von Ver- und Entortung im Bereich der KartoGraphien. Der Herausgeber untersucht den Zusammenhang von Macht und Ortung anhand Kafkas "arbeitslosem" Landvermesser aus "Das Schloß" sowie Mason & Dixon aus Thomas Pynchons gleichnamigem Roman. Er interessiert sich dabei auch für das Nicht-Kartierbare und den damit in Zusammenhang stehenden Verlust von Souveränität, der potentiell jede performative Handlung begleitet - entweder, wie bei Kafka, weil der Figur die Kartierung und damit auch Aneignung und Markierung des Territoriums verunmöglicht wird, oder, wie bei Mason & Dixon, weil die Verortung (das Ziehen politischer Grenzen) und die wissenschaftliche Exaktheit der Erfassung Unkartierbarkeiten und Entortungen nicht beseitigt, sondern erst produziert.
Karl-Heinz Magister zeigt anhand verschiedener Kartierungen von New York seit dem 16. Jahrhundert, unter welchen historischen Voraussetzungen die (teils auch farbig reproduzierten) Karten jeweils entstanden, wie sie die Abbildung des Raums mit kulturellen und politischen Imaginationen und Projektionen verbanden, und wie diese im Feld städtebaulichen, militärischen und kolonialen Handelns auf den realen Raum zurückwirkten. Hier zeigt sich die "Macht der Karten" - im Sinne der Sichtbarmachung und Lenkung kolonialer Gewalt, der Ermöglichung ethnischer Differenzierung, aber auch ihre Rolle bei der Entwicklung und Durchsetzung der Gitterrost-Struktur der Stadt.
Zum Abschluss untersucht Rolf F. Nohr, wie im Fernsehen kartographische Narrationen (Nachrichten- und Wetterkarten) durch Evidenzerzeugung ebenso wie durch ihr Nicht-Gezeigtes geopolitische Diskurse konstruieren und den Betrachter innerhalb einer Sehanordnung dazu positionieren. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig es ist, gerade keine Transparenz des Mediums zu implizieren (z.B. eine Stelle auf der Karte und die Besonderheiten ihrer Darstellung mit dem repräsentierten Territorium zu identifizieren), die den Erkenntnisraum gegenüber dem realen Raum naturalisiert.
Damit in Zusammenhang steht die von Stockhammer im Vorwort genannte deiktische Geste, das Verweisen auf etwas als Handlung, die Raum schafft zwischen dem Ort des Zeigenden und dem Ort, auf den verwiesen wird (S. 9f.). Gerade dieser - mediale - Raum wäre noch genauer zu beschreiben, will man weder geodeterministischen Vorstellungen nachhängen, noch in Absetzung dazu die radikale Vorgängigkeit der Graphie für die Konstruktion von Räumen propagieren. Statt solcher Vorentscheidungen und Generalisierungen, so zeigen es die Texte dieses Bandes, lohnt es, genau und konkret zu untersuchen, was es im Einzelfall mit dem medialen Zwischenraum auf sich hat - inwieweit über ihn souverän verfügt werden kann, inwieweit er überbrückbar ist oder sich entzieht, und welche Übersetzungsprozesse ihn kennzeichnen.