K. Garber: Schatzhäuser des Geistes

Cover
Titel
Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum


Autor(en)
Garber, Klaus
Reihe
Archive, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 3
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jolanta Gelumbeckaite, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der Name „Baltikum“ und die Derivata „Balten“ bzw. „baltisch“ stammen von der mittelalterlichen lateinischen Bezeichnung für die Ostsee – mare Balticum. Der Terminus ist nicht eindeutig und wird in dreifachem Sinne verwendet: 1. Geographisch – der Raum der Ostsee, das heißt alle an der Ostsee liegenden Länder und ihre Einwohner (Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland und Dänemark). 2. Geopolitisch – die drei an der Ostküste der Ostsee liegenden baltischen Republiken: Litauen, Lettland und Estland. Der Terminus wurde in dieser geoadministrativen Bedeutung 1859 in die russische Verwaltungssprache eingeführt.1 3. Ethnolinguistisch – die Sprachverwandtschaft baltischer Sprachen in der indogermanischen Sprachfamilie. Nur das Litauische und das Lettische entsprechen heute dem Terminus „Baltikum“ und „baltisch“ unter allen drei Aspekten: geographisch, geopolitisch und ethnolinguistisch. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden Begriffe „baltendeutsch“ und damit verbundenen „die Balten“, „die baltischen Provinzen“ oder „die Deutschbalten“. Sie wurden von den deutschen Einwohnern Livlands (das ehemalige Kurland und Livland, heute der nördliche Teil Lettlands und der südliche Teil Estlands) verwendet, um ihren außerordentlichen Status hervorzuheben.2 Litauen war in diesen Begriff nicht eingeschlossen. Literarische Aktivitäten deutschstämmiger Autoren – der ehemaligen deutschen Oberschicht – im multilingualen Kulturraum Estlands, Livlands und Kurlands vom 12. Jahrhundert bis zum Jahr 1939 bezeichnet der heute weit verbreitete Terminus „deutsch(-)baltische Literatur“.

Der Untertitel des neuen Buches von Klaus Garber wirkt insofern irreleitend, als der Terminus „Baltikum“ hier ausschließlich für den Nordosten des frühneuzeitlichen deutschsprachigen Raumes steht. Garber spricht vom „alten deutschen Sprachraum des Ostens“ und beschränkt sich „auf das protestantische Est-, Liv- und Kurland“, auch „Ostseeprovinzen“ genannt. Das katholische Litauen klammert er damit aus (S. 9). Jeder Leser mit einer breiteren Definition des Begriffes „Baltikum“, der in diesem Buch nach einer Übersicht über Bibliotheken und Büchersammlungen des heutigen „geoadministrativen“ Baltikums sucht, wird enttäuscht sein.

Die seit Mitte der 1980er-Jahre von dem Literatur- und Textwissenschaftler sowie „Bibliothekreisenden aus Passion“ Klaus Garber unternommenen „peregrinationes“ in die Bibliotheken und Archive Russlands, Weißrusslands, der Ukraine, Ostpreußens, Polens und der baltischen Staaten resultierten stets in dickleibigen Bänden. Das vorliegende Buch ist sowohl ein konsequenter Fortschritt in der Erforschung und Dokumentation der genetischen Morphologie als auch eine selektive quellenkundliche Synopsis der vorwiegend latein- und deutschsprachigen Manuskript- und Büchersammlungen in Riga, Jelgava (Mitau), Tallinn (Reval) und Tartu (Dorpat). Sie gliedert sich ein in das unlängst geäußerte Bemühen des Autors als Buchhistoriker, alle Sammlungen und Überreste in diesen Städten (besonders in Riga) zu sichten, um sie in eigenen Katalogen unter Rückgriff auf die alten Kataloge zu vereinen.3

Der daraus resultierende und hier anzuzeigende Band besteht aus drei Teilen: „I. Geschichte und Morphologie des Bibliothekswesens im Spiegel von Sammlern und Bibliothekaren, Druckern und Verlegern, Kirchen und Konfessionen, Schulen und gelehrten Vereinigungen“ (S. 3-164), „II. Kontinuität und Katastrophen im 20. Jahrhundert. Entdeckungen – Rekonstruktionen – Aufgaben für die Zukunft“ (S. 167-329) und „III. Quellenkunde und Verzeichnis der wissenschaftlichen Literatur“ (S. 333-433-462). Garber folgt „dem Wanderweg der Bücher mit der größtmöglichen Sorgfalt“ (S. 108). Er dokumentiert und beschreibt die Geschichte der Bücher und Büchersammlungen im Kontext der europäischen Reformation, des „bildungspolitischen Katalysators allüberall“ (S. 146), der auch in den vier besprochenen Städten zur Einrichtung von Lateinschulen und weiter von Bibliotheken, Druckereien und „sozietären Gründungen“ (S. 85) führte. Ihre literarische Selbstständigkeit haben die Städte erst mit der Einrichtung eigener Druckereien erreicht, die ihnen erlaubte, von den Druckorten Lübeck, Rostock, Straßburg, Braunsberg, Vilnius und Königsberg unabhängig zu wirken. Die erste Druckerei in Riga wurde 1625 eröffnet (Niclas Mollyn, spätere Drucker waren Gerhard Schröder, Heinrich Bessermesser, Georg Matthias Nöller), in Dorpat 1632 (Jacob Becker [Pistorius], später Johann Vogel, Johann Brendeken) und in Reval 1634 (Christoph Reusner, später Heinrich Westphal, Adolph Simon, Christoph Brendeken). Das Herzogtum Kurland und die Stadt Mitau, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine vorzügliche juristische Bibliothek hatte, „durfte für sich den Ehrentitel beanspruchen, die erste wissenschaftliche Vereinigung in den baltischen Landen gegründet und erfolgreich bis zur Umsiedlung der Deutschbalten im Jahre 1939 über alle Fährnisse der Zeit hinweg am Leben erhalten zu haben“ (S. 152) – die 1815 gegründete „Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst“, deren Schriften in deutscher, lettischer und estnischer Sprache erschienen.4

Eine gründliche, chronologische Darstellung des „baltischen“ druckgeschichtlichen und kulturellen Umfelds im neuen Buch von Garber charakterisiert mühevolles Zusammenfügen der Buch-, Bibliotheks- und Kulturgeschichte in bester Weise. Der Autor vermittelt alle wichtigen Informationen sowohl über Entwicklung von vielschichtigen Sammlungen als auch über das meist deutsch- und lateinsprachige Verschollene und das Wiederentdeckte in den einstigen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland. Es handelt sich um in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerstreuten und zum großen Teil nach Russland verlegten Sammlungen, um das einst Vorhandene, deren letzte Zeugen die um die Jahrhundertwende zustande gekommenen Kataloge sind. Der einzige und glücklichste Fall scheint im ganzen „Baltikum“ nur die Stadt Tartu (Dorpat) zu sein, in deren Büchersammlungen Restitutionen ohne Substanzverlust gelingen (S. 171).

Laut Garber wurden jedoch in den archäologischen Bibliotheksreisen nicht zielgerecht die Zimelien – Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke – eines Hauses gesucht, „sondern das seit eh und je vernachlässigte Kleinschrifttum, an dem die bedeutungsvolle Spur regionaler Intellektualität haftete – und für den Literaturhistoriker bis tief ins 18. Jahrhundert hinein die lokale, vom Humanismus geprägte gelehrte Schreibkultur“ (S. 171). Hier ist die im Katalog der ehemaligen Revaler Gymnasialbibliothek unter den „Miscellanea“ gefundenen „Vota nuptialia“ aus dem Kreis des Dichters Paul Fleming (1609-1640), der 1635 und 1639 in Reval war, zu erwähnen. Die 1920 zurück aus Russland nach Tallinn gekehrten (oder auch in Tallinn unbemerkt verbliebenen) und in der Zwischenkriegszeit wieder verschollenen „Vota“ wurden erst 1984 im Stadtarchiv Tallinn neu entdeckt (S. 171-173, 374f.). Die zwei Sammelbände bestehen aus 38 und 47 Drucken, die aus Reval (81) und aus Dorpat (3) von 1637 bis 1644 stammen und die Revaler Frühdrucker Reusner und Westphal hervorragend dokumentieren.5 Darunter sind auch Gelegenheitsgedichte von Fleming und Reiner Brockmann (1609-1647) zu finden. Fleming und seinem Freund Brockmann („Ich hab wollen Estnisch schreiben“) ist der sprachliche Übergang Latein–Deutsch–Estnisch im Revaler Gelehrten- und Dichterkreis zu verdanken. Sie trugen dazu bei, „daß die Gewandtesten, die eben vom lateinischen zum deutschen Idiom übergegangen waren und sich in diesem versucht hatten, alsbald den nächsten Schritt taten und nun auch die estnische Sprache aus humanistischem Geist zu adeln suchten“ (S. 123). Immer wieder muss man feststellen, dass es nicht eine städtische oder gymnasiale bibliothekarische Bemühung, sondern der Sammeleifer eines Liebhabers war, der half, unikale Schriften zu erhalten. Aussagekräftig ist der Fall eines Sammelbandes unbekannter Provenienz in der Estnischen Akademischen Bibliothek Tallinn (XII-947), der für die in ihm enthaltenen Fleming-Drucker berühmt ist (S. 176, 375). Er birgt auch den ältesten bekannten Revaler Druck aus der Offizin Reusners von 1634 (S. 121) sowie vier weitere Reusner-Drucker aus dem Jahr 1635.

Darüber hinaus sind „vier große Landeskundler des baltischen Raumes auf der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts“ zu nennen – der Pädagoge am Rigaer Lycaeum und Historiker Johann Christoph Brotze (1742-1823); der biographisch-lexikalischer Unternehmer, Direktor des Museums für das regionale Sammelgut an der „Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst“ in Mitau (Jelgava) Johann Friedrich von Recke (gestorben 1846); der Bürgermeister von Riga und Rechtswissenschaftler Johann Christoph Schwartz (1722-1804) und der Justizbürgermeister von Dorpat Friedrich Konrad Gadebusch (1719-1788). Ihre Sammlungen und Nachlässe werden von Garber als Bausteine angesehen, „die zusammenfassen, was uns im Laufe der Jahrzehnte durch die Hände hing“ (S. 382) und die dringlich eine Rekonstruktion benötigen. Da es sich meist um Sammelschrifttum handelt, sind diese Kollektionen von unschätzbarem Wert.

Die der Bibliothek von Johann Christoph Schwartz, dem bedeutenden Sammler des 18. Jahrhunderts, entstammende zweibändige „Sammlung Kleiner Liefländischer Schriften“ (je 25 und 42 Stücke) in der heutigen Akademischen Bibliothek Lettlands (erster Band, S. 359: Ms 601 Livonica 16) und in der Lettischen Nationalbibliothek (zweiter Band, S. 373: R Bs/694) in Riga weist auf erstaunlich viele Revaler Drucke hin, „die zu den kostbarsten nicht nur Revals oder des alten Livland, sondern des gesamten 17. Jahrhunderts im Umkreis des alten deutschen Sprachraums“ gehören (S. 220). Revaler Professoren und Prediger (Nikolaus von Höveln, Nikolaus Specht, Martin Henschel) sind darin ebenso vertreten sowie Reiner Brockmann, Hermann Samson, Lukas Backmeister, Konrad von Wangersheim, Heinrich Vulpius d. Ä., Timotheus Polus und Heinrich Arninck. Flemings „Liefländische Schneegräfinn“ von 1636 ist auch hier zu finden. Weitere elf Stücke von Fleming machen den Rigaer Sammelband zur Kostbarkeit der Fleming-Forschung (S. 223). Im zweiten Band der „Liefländischen Schriften“ sind also alle in Reval erschienenen Stücke Flemings dokumentiert. Diese Schriften von Fleming waren einst Bestandteil der Kollektion des livländischen Historikers und Juristen Friedrich Konrad Gadebusch, der im 18. Jahrhundert „zu großen Teilen in der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands zu Riga eine Bleibe“ hatte (S. 383).6 Seine dreibändige Gelehrtengeschichte „Livländische Bibliothek“ (1777) war die erste Autorität in der Fleming-Forschung. Die Spuren von Gadebuschs Fleming-Sammlung waren jedoch über zwei Jahrhunderte hinweg verloren (S. 224f.).

Mit seinem Buch schließt Garber die von ihm inspirierten und größtenteils von ihm selbst realisierten buchhistorischen Erforschungen der etwa heutigen Staaten Lettland und Estland ab, zu denen außer zahlreichen Artikeln bereits sechs Tallinn, Tartu und Riga gewidmete Bände des „Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven“7 und der Sammelband „Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne“ 8 gehören.

Anmerkungen:
1 Durch das Russische kam das Wort „Baltija“ in das Lettische, das zuerst 1868 in der Presse auftauchte. Das Litauische „Baltija“ ist vermutlich auch diesen Ursprungs.
2 In Livland ließen sich deutschsprachige Einwohner als eingewanderte Oberschicht ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nieder.
3 Vgl. Garber, Klaus, Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents, München 2006, S. 736–748, besonders S. 747.
4 Heute werden Bücher aus den Beständen der Gesellschaft in der Nationalbibliothek Lettlands in Riga aufbewahrt: „Erkundigungen über vorhandenes Buchgut vor Ort bleiben zu leisten. In dem Lettland gewidmeten Teil des Handbuchs deutscher historischer Buchbestände in Europa fehlt ein Eintrag zu Mitau / Jelgava“ (S. 314).
5 Vgl. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück, Garber, Klaus (Hrsg.), Bd. 7, Reval / Tallinn: Estnische Akademische Bibliothek, Estnisches Historisches Museum, Estnische Nationalbibliothek, Revaler Stadtarchiv, Beckmann, Sabine; Klöker, Martin (Hrsg.), unter Mitarbeit von Anders, Stefan, Hildesheim 2003, Nr. 0717–0801.
6 Der Nachlass von Gadebusch ist heute zwischen Riga und Tartu geteilt.
7 Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück, Garber, Klaus (Hrsg.), Bd. 7 (wie Anm. 5) sowie Bd. 8: Dorpat / Tartu: Universitätbibliothek, Estnisches Literaturmuseum, Estnisches Historisches Archiv; Beckmann, Sabine; Klöker, Martin (Hrsg.), unter Mitarbeit von Anders, Stefan; die Bände 12-15: Riga: Akademische Bibliothek Lettlands, Historisches Staatsarchiv Lettlands, Spezialbibliothek des Archivwesens, Nationalbibliothek Lettlands, Baltische Zentrale Bibliothek, Beckmann, Sabine; Klöker, Martin (Hrsg.), unter Mitarbeit von Anders, Stefan, Hildesheim 2003/ 2004.
8 Garber, Klaus; Klöker, Martin (Hrsg.), Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne, Tübingen 2003.

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