Andreas Rutz hat in seiner 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn angenommenen Dissertation zur frühneuzeitlichen Mädchenbildung ein Thema ausgewählt, das bislang weitgehend unbearbeitet geblieben ist. Unter der Betreuung von Manfred Groten hat sich Rutz zweier Problemkreise angenommen. Zum einen hat er die strukturellen Bedingungen untersucht, unter denen katholische Mädchenbildung in der Frühen Neuzeit stattfand, zum anderen hat er Inhalte und Formen der Bildungsvermittlung sowie die dahinter stehenden Erziehungsziele genauer ins Auge gefasst. Ziel der Studie war die „Analyse der Bedeutung religiöser Frauengemeinschaften für die Ausbildung und Entwicklung eines katholischen Mädchenbildungswesens in der Frühen Neuzeit am Beispiel ausgesuchter rheinischer Territorien“ (S. 15).
Für seine groß angelegte Studie wählte Rutz als Untersuchungsraum das nördliche Rheinland (Kurfürstentum Köln, Stift Essen, Herzogtümer Kleve, Jülich, Berg, Reichsstädte Köln und Aachen), als zeitlichen Rahmen die Jahrhunderte von der Reformation bis zur Säkularisierung (1802/03). Der Schwerpunkt seiner Auswertungen liegt auf dem 17. und 18. Jahrhundert, da hier die Überlieferung besonders ergiebig ist. Rutz stützt sich auf die verstreuten und äußerst disparaten Quellen der landesherrlichen und geistlichen Verwaltungen im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, im Landeshauptarchiv Koblenz, in den Bistumsarchiven Aachen und Köln sowie in den regionalen Stadt- und Pfarrarchiven.
Im ersten von drei Teilen nimmt Andreas Rutz eine Annäherung an das Thema vor, indem er einige Aussagen zur Alphabetisierung, zum Buchbesitz und zu Lesegewohnheiten unter Mädchen und Frauen trifft. Hier kann er Forschungsergebnisse zum Bildungsstand von Frauen in der Frühen Neuzeit, die bereits in anderen Zusammenhängen gewonnen wurden, bestätigen, so etwa, dass Frauen aus den städtischen Oberschichten in der Regel lesen und schreiben konnten, dass die Alphabetisierung in der Stadt größer war als auf dem Land und dass Frauen auch am Ende des 18. Jahrhunderts mehrheitlich illiterat waren. Daneben bringt die Studie neue sozialgeschichtliche Erkenntnisse zum Lesestoff von Frauen zutage: Die seit dem 16. Jahrhundert aufkommende spezielle Jugend- und Mädchenliteratur diente der Propagierung des weiblichen Tugendideals (S. 50ff.). Die frühneuzeitliche Mädchenbildung kann also nur bedingt als Teil weiblicher Emanzipation aufgefasst werden.
Im zweiten Teil, der mit rund 300 Seiten den Schwerpunkt der Untersuchung bildet, geht Rutz auf die Entwicklung der Mädchenbildung im Rheinland ein. In den katholischen Territorien wurde ein separates Mädchenschulwesen neben dem wesentlich weiter verbreiteten koedukativen Elementarunterricht aufgebaut. Vor allem religiöse Frauengemeinschaften waren in der Mädchenbildung engagiert und entwickelten im 17. und 18. Jahrhundert ein dichtes Netz öffentlicher Mädchenschulen. Bei diesen Frauengemeinschaften sind drei große Zweige zu unterscheiden: zunächst die Tertiarinnen, und zwar jene der Augustiner-Eremiten, der Dominikaner, der Franziskaner, Kapuziner und Serviten; zu den Tertiarinnen gehören auch die Elisabethinnen und Pönitenten-Rekollektinnen. Ferner die Semireligiösen (Beginen, Devotessen) und schließlich die weiblichen Lehrorden, die auf die Jesuiten bezogen waren (Congrégation de Notre-Dame, Englische Fräulein, Ursulinen, Augustiner-Chorfrauen und Sepulchrinerinnen). Während die Tertiarinnen bereits seit dem 15. Jahrhundert in der Mädchenbildung aktiv waren und auch im ländlichen Raum Mädchenschulen betrieben, agierten die weiblichen Lehrorden, die erst um 1600 entstanden, vor allem in den Reichs-, Haupt- und Residenzstädten. Anders als bei den Tertiarinnen stand bei den Lehrorden die Mädchenbildung im Mittelpunkt des Ordenslebens. Während die Lehrorden nach dem 17. Jahrhundert keine neuen Schulen mehr gründeten, riefen die Tertiarinnen noch bis Ende des 18. Jahrhunderts Schulen für Mädchen ins Leben.
Mädchenschulen waren im Rheinland überall dort anzutreffen, wo eine Differenzierung des Schulwesens vorgenommen wurde, also vor allem in den Städten. Hier gingen in der Regel auch nur solche Töchter zur Schule, deren Eltern in der Lage und Willens waren, das erforderliche Schulgeld zu zahlen. Wer den Betrag nicht aufbringen konnte, seiner Tochter aber dennoch eine grundlegende Bildung angedeihen lassen wollte, konnte sie in eine mitunter kostenfreie Elementarschule schicken. Im Gegensatz zu diesen waren die Unterrichtsinhalte der katholischen Mädchenschulen stark von der Unterweisung in katholischer Frömmigkeit geprägt. Daneben lernten die Mädchen Lesen, Schreiben und Handarbeiten. Dieser Fächerkanon – Gegenstand des dritten und abschließenden Teils – diente der konfessionellen, geschlechts- und standesspezifischen Erziehung der Mädchen. Die vermittelten Kenntnisse richteten sich nach der den Mädchen zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter; höhere Bildung brauchten sie hierfür nicht.
Obwohl die Geschlechtertrennung in der Schule aus sittlichen Gründen eine seit der Reformation generell erhobene Forderung war, wurde die separate Erziehung der Jungen und Mädchen im Wesentlichen nur im katholischen Bildungswesen umgesetzt. Rutz schlussfolgert, dass es im Rheinland keine nennenswerte Ausprägung eines protestantischen Mädchenschulwesens gegeben habe. Obwohl regionale Studien zur protestantischen Mädchenbildung derzeit ein wesentliches Forschungsdesiderat darstellen, kann Rutz dennoch eine Erklärung für diesen Befund liefern: Er geht auf die Diasporasituation der Evangelischen im Rheinland zurück, da die untersuchten Territorien und Städte mit Ausnahme von Kleve während des gesamten Untersuchungszeitraums katholisch geblieben waren. Den Kommunen, die koedukative Elementarschulen unterhielten, fehlte es im Gegensatz zu den katholischen Frauengemeinschaften an finanziellen und personalen Mitteln, spezielle Mädchenschulen einzurichten.
Die von Rutz vorgelegte Studie ist nicht nur an Seiten stark, sondern auch an Facetten reich und darüber hinaus äußerst gut zu lesen. Andreas Rutz hat sich an ein Thema gewagt, das bislang – womöglich wegen einer zerstreuten und disparaten Quellenlage – nicht eingehend untersucht worden ist. Insbesondere mit der geschlechtsspezifischen Differenzierung hat er ein wichtiges Feld erkundet, dem weitere ähnliche Studien für andere Regionen an die Seite zu stellen wären, um eine größere Gesamtschau zu erhalten. Insbesondere durch Untersuchungen zur Mädchenbildung in evangelischen Regionen könnte das von Rutz entworfene Bild weiter entwickelt werden.