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Titel
Héritages coloniaux. Les Suisses d'Algérie


Autor(en)
Fois, Marisa
Erschienen
Zurich 2021: Seismo Verlag
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
CHF 34.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lucas Hardt, Centre Marc Bloch, Berlin

Kolonialismus, die damit einhergehenden Formen von Ausbeutung und (post-)kolonialistisches Denken sind keine Phänomene, die lediglich von Gebieten ehemaliger Kolonialmächte ausgingen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass neben verschiedenen Einzelakteuren auch indirekt am Kolonialismus beteiligte Staaten in jene vielschichtige Stigmatisierung, Ausbeutung und Unterdrückung verwickelt waren.1 Marisa Fois liefert dazu mit ihrer Arbeit über Schweizerinnen und Schweizer, die im kolonialen Algerien lebten bzw. gelebt hatten, die Suisses d’Algérie2, ein weiteres Beispiel.

Der erste Teil der Studie befasst sich mit dem Schweizer Nationalismus im späten 19. Jahrhundert und der Verbreitung von imperialistischem Gedankengut innerhalb des Alpenstaats. Vor allem mit Blick auf zeitgenössische Pressedarstellungen weist Fois zu jener Zeit kursierende Vorstellungen einer Zugehörigkeit zu einem zivilisierten Europa nach, das insbesondere vom afrikanischen Kontinent und dessen Bewohnerinnen und Bewohnern scharf als überlegen abgegrenzt wurde. Die Suche nach einer spezifisch schweizerischen Identität zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier als vielschichtiger Prozess verständlich, der nicht nur mit einer Distanzierung gegenüber anderen europäischen Staaten und wachsender Xenophobie einherging, sondern auch von der Übernahme kolonialistischen Gedankenguts beeinflusst wurde. Ferner zeigt Fois, dass mit der Ausbreitung des Nationalismus auch eine Aufwertung der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer einherging. Hier setzt der zweite Teil des Buchs an und liefert zunächst einige Eckdaten über Schweizer Staatsangehörige in Algerien, die von der französischen Kolonialmacht schon früh zur Besiedlung angeworben wurden. Schon seit 1853, nur 23 Jahre nach Beginn der französischen Kolonisierung, organisierten sich Schweizerinnen und Schweizer im Rahmen einer eigenen Organisation in Algerien. Sie gehörten somit zur heterogenen Gruppe der aus Europa stammenden privilegierten Bewohnerinnen und Bewohner der Kolonie.

Durch den oben skizzierten Nationalismus beeinflusst, stellten die Regierung in Bern und mehrere Zeitungen Algerienschweizerinnen und -schweizer immer wieder als spezifische Gemeinschaft dar, die ihre nationale Kultur auch innerhalb der Kolonie leben würde. Dass es im kolonialen Algerien tatsächlich Institutionen und Veranstaltungen gegeben hat, die ein wie auch immer geartetes Schweizertum (zeitgenössische Quellen sprechen von „suissitude“) mehr oder weniger zelebrierten, wird durch mehrere Fotos von schweizerischen Ferienkolonien oder Schießständen nahegelegt. Leider werden die aus der Zeit von 1941 bis 1951 stammenden Bilder von der Autorin nicht eingeordnet, beschrieben oder kommentiert.

Letztendlich bleibt nach der Lektüre des Buchs unklar, inwiefern Algerienschweizerinnen und -schweizer mehr waren als nur eine imagined community. Genaue Daten über ihre Anzahl liefert die Autorin lediglich für die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1962). Dass in diesem Zeitraum knapp die Hälfte der rund 2.000 Personen auch die französische Staatsbürgerschaft besaß, wird mit Blick auf die Selbstwahrnehmung der Akteure nicht diskutiert. Schließlich weist Fois am Ende des Buchs anhand von Einzelporträts selbst nach, dass Personen mit Schweizer Nationalität innerhalb der Kolonie jegliche Bindung zu ihrem Ursprungsland weitgehend oder vollständig aufgegeben hatten (S. 155). Anders als es die Autorin an mehreren Stellen und durch eine verallgemeinernde Rede von „den Algerienschweizern“, „den Schweizern aus Übersee“ (S. 121) oder gar „den Enteigneten aus Algerien“ (S. 139) nahelegt, lässt sich somit vor allem konstatieren, dass staatliche Akteure, Journalisten und Interessensorganisation während und nach der algerischen Kolonialzeit immer wieder eine Gruppe namens „Algerienschweizer“ aus Eigeninteresse anriefen. Wie sich die adressierten Personen dazu verhielten bzw. inwiefern sie sich dieses Label zu eigen machten, bleibt im Dunkeln, abgesehen von den Vertretern der späteren Opferverbände.

Der dritte Teil der Studie befasst sich mit der Situation am Vorabend der Unabhängigkeit Algeriens. An mehreren Einzelbeispielen wird gezeigt, dass die aktive Rolle der Regierung in Bern bei den Vermittlungen zwischen der französischen Regierung und der vom Front de Libération National (FLN) vertretenen algerischen Unabhängigkeitsbewegung direkte Auswirkungen auf die Situation von Schweizerinnen und Schweizern in Algerien hatte. So verübten etwa fanatische Anhänger der Algérie française im Sommer 1961, als die Verhandlungen über die Dekolonisation schon weit fortgeschritten waren, gezielte Attentate auf Schweizer Händler in Algerien. Fois liefert damit ein weiteres Beispiel für das strikte Freund-Feind-Denken der Konfliktparteien des Algerienkriegs, für die es in diesem Konflikt keine Neutralität geben konnte. Irritierend ist jedoch, dass auch an dieser Stelle der Studie die naheliegende Frage nach direkter oder indirekter Involvierung von Personen aus der Schweiz in koloniale Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung bzw. Widerstand vor und während des Unabhängigkeitskriegs nicht aufgegriffen wird. So kann kein realistisches Bild der Situation gezeichnet werden, die die zentralen Akteure der Studie geprägt hat.

Der unmittelbaren Ausreise von Schweizerinnen und Schweizern aus Algerien am Ende des Kolonialkriegs und deren Ankunft in Europa widmet sich der vierte Teil. Erstmals zitiert die Autorin hier auch betroffene Personen. Der Fokus bleibt jedoch auf der Haltung und den Aktivitäten der Regierung in Bern. Diese schaltete sich ab 1961 zunächst aktiv in die Repatriierung ihrer Staatsbürgerinnen und -bürger ein und stellte dazu eigens gecharterte Flugzeuge zur Verfügung. Wie auch zahlreiche andere Europäerinnen und Europäer hatte etwa die Hälfte der Algerienschweizerinnen und -schweizer 1962 das Land mehr oder weniger fluchtartig verlassen. Bis 1964 erhielten 215 Personen von der Schweizer Regierung finanzielle Unterstützung mit Blick auf ihre Verluste in Afrika. Weitere Bemühungen – erst von Algier und dann von Bern –, Entschädigungen für im Zuge der Dekolonisation verlorenen oder verstaatlichten Besitz zu erreichen, blieben aber ohne Ergebnis. In der Folge bildeten sich ähnlich wie in Frankreich eigene Verbände, die diese „Enteignungen“ immer wieder beklagten und Algerienschweizerinnen und -schweizer als Opfer stilisierten.

Im letzten Teil des Buchs befasst sich Fois mit den Aktivitäten der im Anschluss an den Algerienkrieg gegründeten Opferverbände, insbesondere der „Vereinigung der in Algerien oder Übersee enteigneten Schweizer“ (ASSAOM). Hier bietet die Autorin einen aufschlussreichen Einblick in die Argumentation jener Organisation, die sich stets als Interessensvertreterin aller Algerienschweizerinnen und -schweizer inszenierte. Zeitweise stellte die ASSAOM ihre Mitglieder auf eine Stufe mit den Opfern der Nazidiktatur. An anderer Stelle wurde mit Blick auf die Unterstützung für Opfer der Repressionen in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 behauptet, Ausländerinnen und Ausländer hätten höhere Chancen von der Schweizer Regierung unterstützt zu werden als Schweizer Staatsangehörige. Noch in den 1980er-Jahren beklagte die ASSAOM die Zahlung von Entwicklungshilfe an ehemalige Kolonien, die keine Entschädigungen an enteignete Europäerinnen und Europäer gezahlt hatten, und forderte, dass die Möglichkeit zur außerordentlichen Entschädigung von Schweizerinnen und Schweizern, die im Ausland aufgrund von Kriegen oder Enteignungen Verluste erlitten hatten, in die Verfassung aufgenommen werden solle.

Damit liefert die Studie einen interessanten Nachweis für den Nachhall der Dekolonisation innerhalb der Schweiz, der auch für das Verständnis gegenwärtiger politischer Strömungen aufschlussreich ist. Die Vorstellung einer positiv zu bewertenden Kolonisierung, hier im Falle Algeriens, wurde innerhalb des Alpenstaates von staatlichen, vor allem aber nichtstaatlichen Akteuren während und nach der französischen Besatzung Nordafrikas aktiv verbreitet. Darüber hinaus zeigt Fois auch Auswirkungen auf die europäische Ebene auf. So wird zum Ende der Studie die Dachorganisation „Europäische Vereinigung der Enteigneten aus Übersee“ (CESOM) kurz beleuchtet, die Mitte der 1980er-Jahre nach Presseangaben über vier Millionen Mitglieder zählte und ebenso wie ihr Mitglied ASSAOM die Darstellung von Europäerinnen und Europäern als Leidtragende von Kolonialismus und Dekolonisation propagierte.

Zusammenfassend sind an der Studie vor allem die anschaulichen Beispiele für die Perspektiven auf Dekolonisierung und Erinnerung an Kolonialismus innerhalb der Schweiz zu würdigen. Allerdings muten mehrere Passagen des Buchs mangels einer kritischen Einordnung in die aktuelle Forschungsliteratur3 wie eine Untermauerung der Ansprüche der Opferverbände an. Ihre Selbstdarstellungen werden kaum kontextualisiert, stattdessen lässt Fois die in oftmals übermäßig langen Zitaten dargelegten Positionen der untersuchten Akteure häufig unkommentiert für sich stehen. Ein Beispiel unter vielen ist, dass die Darstellung eines Mitglieds der ASSAOM, die Algerienschweizerinnen und -schweizer seien „Opfer einer Situation, für die sie keine Verantwortung trügen“, als Abschluss eines Unterkapitels dient (S. 141). Die hier überdeutliche Ausblendung zentraler Ansätze der postcolonial studies durch die Autorin wird auch im Fazit noch einmal unterstrichen, wenn mit Blick auf die ASSAOM von „postkolonialen Forderungen der Algerienschweizer“ die Rede ist (S. 152). Um auf der Höhe aktueller Forschung4 zu argumentieren, müssten Selbstdarstellungen von Europäerinnen und Europäern als Leidtragende von Kolonialismus und Dekolonisation ebenso konsequent hinterfragt werden wie auch Fremdzuschreibungen bestimmter Gruppen mit spezifisch nationaler Identität.

Anmerkungen:
1 Zuletzt haben insbesondere Debatten über die Restitution geraubter Kulturgüter aus kolonialen Kontexten deutlich gemacht, wie weitläufig die Verstrickungen in koloniale Ausbeutung waren bzw. sind. Vgl. zur Einführung Bénédicte Savoy / Felwine Sarr, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019. Zu den Verbindungen zwischen der Schweiz und dem Algerienkrieg siehe etwa Damien Carron, La Suisse et la guerre d’indépendance algérienne (1954–1962), Lausanne 2013; Peter Huber, Fluchtpunkt Fremdenlegion. Schweizer im Indochina- und im Algerienkrieg, 1954–1962, Zürich 2017; Lucas Hardt, Envoyer des jeunes Algériens en France, en RFA et en Suisse. Trois reflets de la guerre d’indépendance algérienne en Europe, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 50 (2018), S. 185–197.
2 Die aus Frankreich und anderen europäischen Ländern stammenden Siedler, die im kolonialen Algerien lebten, werden in der deutschsprachigen Forschung häufig als Algerienfranzosen bezeichnet. In Anlehnung an diesen Begriff wird Suisses d’Algérie im Folgenden mit Algerienschweizer übersetzt.
3 Besonders auffällig ist, dass in der Studie nicht eine der einschlägigen Publikationen von Raphaëlle Branche zum Algerienkrieg zitiert wird. Vgl. insbesondere: La guerre d’Algérie. Une histoire apaisée? Paris 2005; Prisonniers du FLN, Paris 2014; La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie (1954–1962), Paris 2016.
4 Siehe vor allem die wichtigen Impulse in: Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hrsg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2014.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/