B. Stuchtey: Geschichte des Britischen Empire

Cover
Titel
Geschichte des Britischen Empire.


Autor(en)
Stuchtey, Benedikt
Erschienen
München 2021: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 9,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Korb

Die als Charmeoffensive in der Karibik geplante Reise von Prinz William und seiner Gemahlin Kate nahm im Frühjahr 2022 einen zumindest für die britische Öffentlichkeit überraschenden Verlauf. Anstatt der üblichen Hochglanzfotos mit händeschüttelnden, von dankbaren Commonwealth-Bewohnern umringten Royals sah das heimische Publikum ungewohnte Szenen des Protests gegen die Nummer 2 in der Thronfolge: William und Kate wurden als Repräsentanten eines Systems empfangen, das sich in der Vergangenheit auf Sklaverei und Rassismus stützte und das strukturelle Fortleben tiefer sozioökonomischer Disparitäten zu legitimieren scheint. Dass im Herbst 2021 Barbados den Wechsel von der konstitutionellen Monarchie zur Republik vollzog, komplettiert das Bild einer postkolonialen Konstellation, in der das Empire Jahrzehnte nach seiner insgesamt – zumal aus der Perspektive des Mutterlands – recht geräuschlosen Abwicklung doch noch ins Gerede kommt. Dabei trug im 19. Jahrhundert gerade eine stärkere „royale Sichtbarkeit“ (S. 9) wesentlich dazu bei, das weltumspannende Imperium von einer Art Privatunternehmen wagemutiger Abenteurer und Kaufleute zu einem massentauglichen Symbol des britischen Patriotismus zu machen, wie Benedikt Stuchtey in seiner lesenswerten Einführung verdeutlicht. Der universelle Charakter des ehemaligen Empire spiegelt sich daher heute in globalen Debatten über dessen zwiespältige Hinterlassenschaften wider.

Stuchtey unterstreicht die Wechselwirkung zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, die nicht auf einfache binäre Formeln herunterzubrechen sei. Ohnehin sei das Empire als „Sammlung miteinander konkurrierender Entwürfe“ (S. 17) nicht einer über alle Kontinente hinweg gültigen Blaupause gefolgt, was, so darf man mutmaßen, bei der teilweise ebenso planlosen Dekolonisation von Vorteil war, da man sich in London – geschult am ersten Disimperialism von 1776 und anders als manche kontinentale Reiche – nicht auf Biegen und Brechen auf ein Hinausschieben des Unvermeidlichen versteifte. Das half den Verantwortlichen in Großbritannien, auch beim Abschied vom Empire ein insulares Sonderbewusstsein gegen die Zumutungen historischer Zäsuren in Stellung zu bringen. Dass dieser Prozess vor Ort, wie die Eroberung und Unterwerfung zuvor, bisweilen von unfassbaren menschlichen Tragödien begleitet wurde, steht freilich auf einem anderen Blatt.

In der Frühphase der Kolonisation spielten Handelsgesellschaften wie die Royal African Company eine herausragende Rolle bei der überseeischen Expansion, in deren Verlauf London Amsterdam den Rang als Angelpunkt des frühneuzeitlichen Finanzkapitalismus ablief. Der atlantische Dreieckshandel, den britische Akteure im Windschatten protektionistischer Gesetze perfektionierten, führte infolge der Versklavung unzähliger Menschen in der Karibik jene Strukturen herbei, die in flagrantem Widerspruch zum Selbstbild eines „polite and commercial people“ (Paul Langford) standen und auch durch mäzenatische Stiftungen der Profiteure im Mutterland nicht kompensiert zu werden vermochten. Am Beispiel des Denkmalsturzes vom Juni 2020 in Bristol begründet Stuchtey ohne Umschweife sein Urteil: Der Handel mit Sklaven und wohltätiges Engagement sind ein „unvereinbares Paar“ (S. 39).

Auch in der Geistesgeschichte Großbritanniens hat das Empire tiefe Spuren hinterlassen. Das komplexe Geflecht aus kriegerischer Eroberung, seit 1690 vor allem im ständigen Schlagabtausch mit Frankreich, genuinem Forscherdrang, beispielsweise in der Südsee, und der Notwendigkeit, etwa auf dem indischen Subkontinent unterschiedliche Legitimationsbedürfnisse zu befriedigen, stimulierte Jeremy Bentham und Adam Ferguson zu Reflexionen, denen Stuchtey eine das Empire „genuin prägende Handschrift“ (S. 52) attestiert. Die Abschaffung der Sklaverei 1833 ist daher auch vor dem Hintergrund der intellektuellen Vitalität Britanniens im frühen 19. Jahrhundert zu betrachten. Stuchtey sieht in diesem Meilenstein einer – modern gesprochen – globalen Menschenrechtspolitik eine subtile Retourkutsche gegen die Vereinigten Staaten, deren Triumph im Unabhängigkeitskrieg durch das Festhalten an der peculiar institution der Sklaverei verdüstert wurde.

Aber auch nach 1833 verwandelten sich die britischen Territorien nicht in Pflanzstätten eines vom Geist der Gleichheit durchwehten Humanismus. Vielmehr verfestigte sich gerade in den Siedlerkolonien der Mythos des zähen Pioniers, der – weit davon entfernt, nur dem eigenen Vorteil zu frönen – Teil einer großen Zivilisierungsmission sei. Als sich in Kanada die Lage dramatisch zuspitzte, entsandte die britische Regierung Lord Durham nach Nordamerika, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Sein 1839 veröffentlichter Bericht avancierte zu einer „Art Magna Carta der Reformfähigkeit des Empire“ (S. 66), die obendrein dem Wunsch Londons nach einem Empire on the cheap ebenso Rechnung trug wie, in der östlichen Hemisphäre, die gewaltsame Öffnung Chinas für den Handel mit Großbritannien. Beide Ereignisse werfen mithin ein Schlaglicht auf die Entwicklung des Empire im 19. Jahrhundert, die von fortschreitender Expansion und dem gleichzeitigen Bemühen um eine Verdichtung der Herrschaft gekennzeichnet wurde. Die glanzvolle Krönung Georgs V. zum Kaiser von Indien anlässlich des Delhi Durbar 1911 markierte gewissermaßen den symbolischen Höhepunkt des britischen Imperialismus im langen 19. Jahrhundert.

Nach dem Ersten Weltkrieg fand sich das Empire in den Mühen der Ebene wieder. Kein Wunder, dass die allenfalls vordergründig von imperialer Nostalgie heimgesuchte Margaret Thatcher in ihren Memoiren „die trügerische Macht eines Empire“1 nach 1918 beklagte. Das Massaker von Amritsar 1919 und der 1922 unter anderem von Bomber-Harris geleitete Luftkrieg gegen den Irak entfachten das Gewaltpotential des Empire, während sich eine schmale weiße Oberschicht in Kenia der Illusion immerwährender Dominanz hingab. Die Übertragung von Völkerbundmandaten an Großbritannien erhöhte indes den Legitimationsdruck, zumal sich nationalistische Bewegungen vor Ort auf während des Kriegs geknüpfte intellektuelle Netzwerke stützen konnten. Hundert Jahre nach Durhams Bericht erschien Lord Haileys Bestandsaufnahme über die Probleme im subsaharischen Afrika und warf am Vorabend des Zweiten Weltkriegs einen Schatten voraus auf the shape of things to come. In Indien führte das Empire bereits Nachhutgefechte, die 1947 in die blutige Teilung des Landes mündeten. Dass laut einer oft zitierten Umfrage des Kolonialministeriums 1951 lediglich vierzig Prozent der Briten wenigstens eine Kolonie nennen konnten, dürfte kein Schaden für den sich nun beschleunigenden Prozess der Dekolonisation gewesen sein, der unter dem whiggistischen Signum eines in der britischen Geschichte angelegten Fortschrittsgedankens stand und fast nahtlos in einen „Paternalismus der Entwicklungshilfe“ (S. 109) überging. Stuchtey verweist zu Recht auf das Dilemma einer Dekolonisation, die vor Ort zuweilen fundamentalistische Strömungen an die Macht brachte, schießt jedoch über das Ziel hinaus, wenn er diagnostiziert, der Abschied vom Empire habe die „Bruchstellen eines in Auflösung begriffenen politischen Konstrukts“ (S. 110) bloßgelegt. Der Trend hin zur Devolution und die Renaissance des schottischen Separatismus müssen vielmehr mit den sozioökonomischen Verwerfungen der Nachkriegszeit in Verbindung gebracht werden, als eine Desillusionierung nach dem Sieg die Modernisierungsdefizite der britischen Volkswirtschaft grell konturierte und der EG-Beitritt des Vereinigten Königreichs 1973 mit einem schalen Beigeschmack der Zweitklassigkeit behaftet war. Spätestens die anhaltenden Konflikte um die Immigration aus Staaten des Commonwealth entzogen imperialer Nostalgie die emotionale Grundlage.

Bisweilen eklektisch im Zuschnitt, trägt Stuchtey britisch-empirisch eine Vielzahl von Fakten und Begebenheiten zusammen, die einen soliden Einblick in die Geschichte des britischen Empire und dessen Nachleben erlauben. Viel mehr lässt sich auf 120 Seiten nicht veranschaulichen. Stuchteys sorgsam abwägendes Urteil verknüpft die imperiale Vergangenheit mit aktuellen Kontroversen, die nicht zuletzt auf den Ergebnissen einer seit zwei Jahrzehnten äußerst rührigen Empire-Forschung fußen. Das PR-Debakel der royalen Besucher in der Karibik bekräftigt diesen Trend nachdrücklich. Und der Sieg von Sinn Féin bei den nordirischen Wahlen im Mai 2022 könnte ein Menetekel dafür sein, dass Britanniens älteste Kolonie den heikelsten Akt der Dekolonisation nun näher rücken lässt.

Anmerkung:
1 Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London 1993, S. 5.