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Titel
Neue Städte. Vom Projekt der Moderne zur Authentisierung


Herausgeber
Ludwig, Andreas
Reihe
Wert der Vergangenheit (4)
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
191 S., 54 Abb.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Wiesener, DFG-Graduiertenkolleg "Kulturelle und technische Werte historischer Bauten", BTU Cottbus-Senftenberg

Neue Städte altern schneller als andere Städte. Was als historisches Charakteristikum zunächst eigentümlich erscheinen mag, macht vor dem Hintergrund der jüngeren Forschung zur Historizität und zum Denkmalwert Neuer Städte durchaus Sinn. Die Abhängigkeit von Strukturwandel und sozialen Veränderungen, die Transformation des utopischen Potentials in eine häufig ernüchternde Lebenswelt und die Authentisierungsbestrebungen in der Gegenwart erzeugen allesamt einen besonderen Umgang der Neuen Städte mit ihrer eigenen Geschichte.

Um diesen Umgang mit der eigenen Geschichte, um die Erschaffung einer eigenen Historizität, die jenseits der sozialen Funktionalität einen besonderen Ort kulturell und historisch markiert, geht es in dem 2021 bei Wallstein herausgegebenen Band von Andreas Ludwig: „Neue Städte. Vom Projekt der Moderne zur Authentisierung“. Der Band beruht zu Teilen auf einem im Februar 2017 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Rahmen des Leibniz-Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ zusammen mit Ana Kladnik organisierten Workshop, der unter dem Titel „How Long are New Towns New?“ siebzig Jahre nach der Gründung der ersten Neuen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg in vergleichender Perspektive die Besonderheiten im Umgang mit ihrer materiellen historischen Substanz erfragte.

Auf einen besonderen Umstand der Authentizität der Neuen Städte (und Großsiedlungen, so müsste ergänzt werden) verweist Andreas Ludwig bereits in seiner Einleitung. Neben die historischen Authentisierungstrategien im Hinblick auf das Geplante (moderne urbane Lebensweise) und das Gebaute (Beton) treten andere „kulturelle Markierungs- und Aufwertungsprozesse“, die sich weniger aus der Geschichte des Ortes als vielmehr aus dem Konflikterfahrungen der Gegenwart und ihrer kreativen Transformation erklären lassen, wie das Beispiel der Pariser Banlieue auf eindrückliche Weise verdeutlicht (S. 9).

Um über die Historizität Neuer Städte zu sprechen und sie einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen, muss sich zunächst mit den Schwierigkeiten auseinandergesetzt werden, Neue Städte definitorisch auf den Begriff zu bringen. Die durch das International New Town Institute in Rotterdam entwickelte Definition „A New Town is always a reflection of one moment in time and the ambitions of that moment“, die vor allem auf die gesellschaftspolitischen Erwartungshaltungen und den Modellcharakter der städtischen Neugründung „on a site where there was no city before“ verweist, ist selbst historisch bedingt in der europäischen Nachkriegssituation und in der langen Auseinandersetzung mit urbanen Missständen und Fehlentwicklungen der europäischen Stadt seit dem 19. Jahrhundert. Die Dynamisierung der Stadtneugründungen, die bereits in der östlichen und kommunistisch beherrschten Hälfte Europas seit 1945 eine Vielzahl industriegebundener neuer Städte hervorbrachte und die sich in der Gründung unzähliger Entlastungs- und Satellitenstädte in China ungehemmt fortsetzt, lassen auch Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Typenbildung und Definitionspraxis in der historischen Erforschung neuer Städte aufkommen, wie Ludwig deutlich hervorhebt (S. 13).

Vor dieser intellektuellen Ausgangssituation betont Ludwig die besondere Zugangsweise des Bandes und seiner Beispielaufsätze. Die „Historizität der Neuen Städte im Spiegel der ihr zugeschriebenen Authentizität“ ins Zentrum der Diskussion zu rücken, bedeutet vor allem Antworten auf die an anderer Stelle von Marie Corbin Sies, Isabelle Gournay und Robert Freestone aufgeworfene Frage zu suchen: „What happens to iconic planned communities once their glory days are over?“1 Wenn also, wie in diesem Band, die Historizität der Neuen Städte im Spiegel der ihr zugeschriebenen Authentizität im Zentrum steht, dann wird dies von unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten sein: „aus der Perspektive des historisch-verortbaren Plans verbunden mit der Frage nach der Dauer des Modells, sowie aus der Perspektive der wertschätzenden Benennung des realisierenden Modells unter einem historisierenden Blick, also ihrer Authentisierung“ (S. 19).

Diese Fähigkeit von Neuen Städten, so Ludwig abschließend in der Einleitung des Bandes, in der Rückbesinnung auf ihren städtebaulichen und gesellschaftlichen Modellcharakter die Möglichkeit ihrer authentisierenden Erneuerung und Anpassung an veränderte Kontexte mitzudenken, stellt nicht nur den wesentlichen Unterschied zu Authentisierungen der „Alten Stadt“ dar, sondern erklärt auch die Vitalität und Attraktivität dieses spezifischen Urbanisierungsmodells (S. 24).

Beispielhaft für die Adaption an neue Herausforderungen, aber auch für die notwendige Dekonstruktion der Gründungsmythen von Neuen Städten auf dem Weg zu ihrer Authentisierung, beschreibt Loïc Vadelorge die besondere Geschichte der Villes Nouvelles, die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre als großes Stadtplanungsvorhaben in Frankreich nach dem Vorbild der englischen New Towns errichtet wurden. Vadelorge zeigt in seinem Beitrag, dass es erst einige Jahrzehnte nach Baubeginn in Neuen Städten wie Cergy-Pontoise oder Saint-Quentin-en-Yvelines zu bewussten Traditionsstiftungen und Aufwertungsaktivitäten kam, die auf die Schaffung einer eigenständigen Identität der Villes Nouvelles ausgerichtet waren und die Planungsidee wie ihren Modellcharakter authentisch bestätigen sollten (S. 38f.).

Wie sehr die Erschaffung eines neuen politischen Territoriums sich der Stadtplanung zu bedienen weiß, verdeutlicht der Beitrag von Miles Glendening „Creating a New Geography Through New Towns and Public Housing“ zu israelischen Stadtneugründungen nach der Staatsgründung im Mai 1948. Seinen besonderen Gehalt im Kontext des vorliegenden Bandes bezieht der Beitrag weniger aus der Schilderung der häufig chaotischen und zu jeder Zeit politisch aufgeladenen Rahmenbedingungen für den modernen Siedlungsbau in den nach dem Unabhängigkeits- bzw. dem Sieben-Tage-Krieg gewonnenen Territorien. Vielmehr ist es die Darstellung zu Be’ersheva – „the most striking microcosm of the entire sequence of planning ideologies and architectural outcomes“ (S. 50) –, die eine Einordnung in die übergreifende Geschichte der Neuen Städte und ihrer Authentisierung sinnvoll erscheinen lassen. Glendening rekonstruiert dabei zum einen ausführlich die Bezüge zur europäischen CIAM-Bewegung und ihrer Nachfolger wie Team X. Zum anderen wird aber auch deutlich, wie unabgeschlossen der Prozess der israelischen Siedlungs- und Städtebaupolitik, bedingt vor allem auch durch mehrere Einwanderungswellen nach 1990, bis heute ist (S. 53f.).

Die veränderlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung Neuer Städte über einen langen Zeitraum hat ebenso der Beitrag von Matthias Bickert und Daniel Göler zu Albaniens kommunistischen Neustädten im Blick. Allerdings gerät die skizzenhafte Darstellung der Entwicklungspfade von Neustädten in Albanien vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verwerfungen und Entvölkerung ganzer Landstriche nach 1991, mehr aber noch durch die wenig überzeugende Auswahl der Untersuchungsorte in diesem Beitrag aus dem Blick. So bleiben am Ende wenig überraschende Einschätzungen wie jene, dass die Neuen Städte Albaniens „nicht mehr ‚neu‘ im herkömmlichen Sinne, sondern Ausdruck eines zukünftig immer stärker wahrnehmbaren historischen, städtebaulichen Leitbilds“, ohne eine wirklich historische Tiefe (S. 68).

Der ausführliche und ausgezeichnet dokumentierte Beitrag von Sándor Horvath zur ungarischen Neustadt Sztálinváros/Dunaujváros beschreibt einen Rundgang in der Stadt, der nach dem Ende des Sozialismus entwickelt worden ist, und der Ausdruck einer Konsumorientierung im Umgang mit städtebaulichem Erbe ist (S. 72). Was Horvath überzeugend gelingt, ist das Herausarbeiten der Vielschichtigkeit dieses städtebaulichen Erbes und seiner eigentümlichen Memorialisierung in der Gegenwart, indem er nicht nur aus der aktuellen Perspektive die Spannungen und Konflikte um den Stadtraum herausarbeitet, sondern den historischen Blick gleichermaßen auch auf die zumindest begrenzte Offenheit der Repräsentationen und sozialen Kodierungen in der sozialistischen Phase richtet (S. 75ff.).

Helena Postawka-Lech beschreibt in ihrem Beitrag vor allem die Baugeschichte und die architektonischen und städtebaulichen Besonderheiten von Nowa Huta als eigenständiger Stadt in der Nachbarschaft zu Krakow. Auch wenn ihr Beitrag eine Fülle interessanter Aktivitäten des Erbe- und Wertediskurses und der künstlerischen und Alltagspraxen in Bezug auf den als kommunistisch definierten Stadtraum Nowa Hutas wiedergibt, gelangt er darüber hinaus kaum zu grundlegenden und vergleichenden Aussagen im Hinblick auf die im Schlussabsatz diskutierte Frage von „Heritage als Prozess“ in Bezug auf Neue Städte (S. 113).

Exemplarisch für die Fruchtbarkeit und die Grenzen des analytisch weit gefassten Blicks auf Neue Städte stehen die beiden Beiträge von Jonathan Bach und Mary Ann O’Donnell zu Shenzhen und von Laurent Pikó zu Milton Keynes. Beide Beiträge gewinnen vor allem durch die konsequente Lokalisierung der modernen Entwicklungen und der Herausforderungen gegenwärtiger Authentisierungen in den kulturellen Geographien der jeweiligen Landschafts- und Stadträume. „Neu“ lässt sich in beiden Kontexten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, eher als Praxis denn als Zustand und Ergebnis beschreiben, wobei die Besonderheiten einer politisch gesteuerten Stadtentwicklung durch die Einrichtung als Sonderwirtschaftszone für Shenzhen eine Dynamik entfesseln, vor deren Hintergrund die Entwicklung von Milton Keynes eher beschaulich wirkt. Aber auch für dieses größte britische Stadtentwicklungsprojekt kann Pikó zeigen, wie die Stadt im Prozess bereits in der Phase ihrer Planung und ihres Entstehens ein Produkt der Veränderung gesellschaftlicher Werthaltungen war und selbst diese Veränderung mitgestaltet. Ein Umstand, der auch die Diskussionen zum Umgang mit dem städtebaulichen Erbe seit 1990 wesentlich mitbestimmt hat: „Different by Design“ als Haltung in der Gegenwart.

Anstelle eines Fazits bietet der Band anhand des von Ludwig geführten Interviews mit den Direktorinnen des International New Town Institutes in Rotterdam, Michelle Provoost und Simone Rots, einen Einblick in die offenen Fragen des „konzeptionellen Denkmalschutzes“ im Hinblick auf Neue Städte. Konzeptionell, weil die historische Bedeutung der Neuen Städte zum einen durch das städtebauliche Konzept und die darin geborgenen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen bestimmt werden kann. Ihren besonderen Charakter für die Gegenwart behalten sie aber nur, und dies ist durch den vorliegenden Band auf überzeugende Weise und in dieser Zusammenschau zum ersten Mal gezeigt worden, indem Authentisierung als kontinuierliche Veränderung begriffen wird.

Anmerkungen:
1 Mary Corbin Sies / Isabelle Gournay / Robert Freestone (Hrsg.), Iconic Planned Communities and the Challenge of Change, Philadelphia 2019, S. 1-20, hier S. 1.

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