P. Neumann-Thein u.a. (Hrsg.): Organisiertes Gedächtnis

Cover
Titel
Organisiertes Gedächtnis. Kollektive Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen


Herausgeber
Neumann-Thein, Philipp; Schuch, Daniel; Wegewitz, Markus
Reihe
Buchenwald und Mittelbau-Dora - Forschungen und Reflexionen (3)
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
646 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enrico Heitzer, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg

Das populäre Gedächtnisparadigma von Aleida und Jan Assmann ist seit Jahren in der Kritik.1 Der Sammelband „Organisiertes Gedächtnis“ stellt den Ansatz weiter in Frage, indem hier jüngere Forschungsperspektiven zu kollektiven Aktivitäten von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors gebündelt werden. Die Herausgeber formulieren dabei den Anspruch, durch das Konzept des „organisierten Gedächtnisses“ eine Gegenposition zu beziehen, mit der die lange Nachgeschichte des Nationalsozialismus konzeptionell besser zu fassen sei (S. 19f.).

Laut Philipp Neumann-Thein, Daniel Schuch und Markus Wegewitz, die alle drei in der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora tätig sind bzw. bis vor kurzem waren, betont das Konzept des „organisierten Gedächtnisses“ „die Rückbindung an einen gemeinsamen Raum der Verfolgungserfahrungen und den Faktor der sozialen Interaktion in den Gemeinschaften der Überlebenden, die nach einer Repräsentanz dieser Erfahrungen gerungen haben“. Der Begriff umfasse „diese Formierungsprozesse sowohl innerhalb der Überlebendengemeinschaften als auch in breiteren gesellschaftlichen und politischen Diskursen“. Vormals Verfolgte seien „Akteur:innen in einem komplexen und kontroversen Streit um Entscheidungen“ gewesen, wie „mit den Folgen“ des Nationalsozialismus umgegangen werden sollte. Diese Perspektive betone „die Heterogenität, politische Handlungsmacht und Interaktion“. Mit ihr lasse sich „die plurale Landschaft der Aktivitäten Überlebender deutlich besser fassen, als es mit der Setzung eines kollektiven Gedächtnisses möglich wäre“ (alle Zitate: S. 19).

Vor knapp 20 Jahren schrieb Norbert Frei mit Blick auf die Nachgeschichte des Holocaust, wir wüssten „noch viel zu wenig über diese Erinnerungsnetze, die zunächst eher kleine, aber sehr aktive Gruppen von Überlebenden über ganz Europa spannten – soweit und solange es ging, auch über den Eisernen Vorhang hinweg“. Er bezeichnete dies als „eine der wenigen dünnen Verbindungslinien“ im politisch geteilten Europa des Kalten Krieges, als „Reste einer gemeinsamen Erfahrung und Erinnerung, die in den nach 1945 überall entstehenden Opferverbänden bewahrt“ worden sei.2 Die Forschung zu Überlebenden als kollektiven Akteuren nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus hat in den vergangenen Jahren zwar stetig zugenommen, doch gibt es nach wie vor erhebliche Desiderata.3 Gerade vergleichend perspektivierte Forschungen zu den Aktivitäten von Betroffenen und ihren Organisationen existieren bislang nur wenige.

Der voluminöse Band bietet unter der skizzierten Perspektive auf die vielen verschiedenen Initiativen und Aktivitäten einen guten Überblick zum Stand der Forschung und ergänzt diesen um einen überzeugenden Vorschlag der theoretischen Fundierung, der in der historischen Analyse ausdrücklich Multiperspektivität und die Konflikthaftigkeit von Aushandlungsprozessen betont und auch die Kategorie Geschlecht im Blick behält. 6 der 19 Beiträge des Bandes basieren auf Beiträgen eines Workshops, der 2016 in der Gedenkstätte Buchenwald stattfand. Das Buch durchmisst das abgesteckte Feld in vier großen Themenblöcken. Es ist nachvollziehbar strukturiert, auch wenn für einzelne Beiträge – bei Sammelbänden keineswegs ungewöhnlich – die Zuordnung zum jeweiligen Teil diskutiert werden könnte.

Der erste Teil nimmt die kollektiven Aktivitäten von NS-Überlebenden in den drei Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus in den Blick. Die vier Beiträge beschäftigen sich mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), dem Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen (ZDWV), der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten (AvS), dem westdeutschen Sachsenhausen-Komitee (WSK) sowie den deutschen und österreichischen Ravensbrück-Komitees. Dabei nehmen vor allem die politischen Kontexte und Konflikte breiten Raum ein, aber auch die Rolle von Überlebenden bei der Verfolgung der Täter:innen wird thematisiert.

Der zweite Teil – mit sechs Beiträgen der umfangreichste – behandelt unter der Überschrift „Widerstandsgedächtnisse“ das Einschreiben der eigenen Erfahrungen in die Erzählungen vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Niederlanden, in Frankreich und Polen, wobei mit der Federación Española de Deportados e Internados Políticos auch der Sonderfall eines Exil-Verbandes in den Blick gerückt wird, für dessen Angehörige eine Rückkehr in das Spanien des faschistischen Diktators Francisco Franco keine Option darstellte.

Der dritte Teil „Nach Shoah und Porajmos“ untersucht in vier Beiträgen den Kibbuz Buchenwald als Überlebendenorganisation in Israel, die Heterogenität der Überlebendenverbände des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, die Aktivitäten des Rabbiners Zvi Asaria beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde zu Köln sowie die „nachgeholte Anerkennung“ von Sinti und Roma und die memorialpolitischen Aktivitäten von Vertreter:innen dieser Opfergruppen.

Im vierten Teil geht es mit fünf Beiträgen um Initiativen wie das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD), das Internationale Ravensbrück-Komitee (IRK), das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK), die Fédération Internationale des Résistants / Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sowie die jugoslawischen Lagerüberlebenden im Spannungsfeld von Erinnerungskultur und -politik, die als Organisationen jenseits nationalstaatlicher Grenzen agierten.

Die Systemkonfrontation des Kalten Krieges war bis zu dessen Ende einer der unhintergehbaren strukturierenden Faktoren für die Nachgeschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, was sich in allen Beiträgen des Bandes widerspiegelt. Im ersten Teil spielt die spezifische deutsche Situation postnationalsozialistischer Täter:innen- und auch Teilungsgesellschaften eine zentrale Rolle. Aufschlussreich sind später nicht nur die knappe Darstellung der unterschiedlichen Positionen der Ravensbrück-Komitees zum Prager Frühling 1968, die sich im Beitrag zum IRK finden (im vierten Teil, S. 514f.), sondern auch jene zum Extremfall des Bundes für Freiheit und Recht (BFR), einem Ableger des Bundes der Verfolgten des Naziregimes (BVN), der in Kooperation mit dem US-Geheimdienst CIA „eine eigene Stay-behind-Abteilung [unterhielt], die in der DDR aktiv war und im Kriegsfall Anschläge [in der DDR] verüben sollte“ (S. 559).

Trotz der für Sammelbände üblichen Heterogenität lösen die Beiträge den gesetzten Anspruch in der Betrachtung von kollektiven Aktivitäten weitgehend ein, auch wenn beispielsweise der Aufsatz über Zvi Asaria, der als Einzelperson stark in den Fokus rückt, anfangs nicht recht in den theoretischen Rahmen zu passen scheint, sich dann aber gerade als aufschlussreiche transnationale Verflechtungsgeschichte von (West-)Deutschland und Israel entpuppt. Zu kritisieren ist lediglich, dass der Fokus im ganzen Band sehr stark auf ehemaligen politischen Häftlingen liegt, die die in den Beiträgen dargestellte Landschaft tatsächlich dominierten, aber nicht die einzigen organisierten Verfolgtengruppen waren. Zudem fehlen die nordeuropäischen Verbände und damit eine wichtige Region Europas. Auch wenn die Zeit nach dem Kalten Krieg teilweise in den Blick kommt, in der sich die Verbände und die Konfliktlinien änderten, vermisst man – bis auf eine Passage in der Einleitung (S. 21) – Argumentationslinien, die über die Akteur:innen mit Primärerfahrungen hinausweisen und auf Nachfahr:innen bzw. Folgegenerationen von NS-Überlebenden in den Verbänden eingehen.

Das schmälert den hervorragenden Gesamteindruck aber nicht. Mit dem Buch liegt die Einführung und Vermessung eines noch jungen Forschungsfeldes vor, die den Forschungsstand dokumentiert und gleichzeitig – nicht zuletzt durch ein überzeugendes Theorieangebot, das Defizite des Assmann-Paradigmas hinter sich lässt – über ihn hinausweist. Positiv fallen auch die detaillierten Register auf, in denen noch einmal die Fülle der erwähnten Akteur:innen und Gruppen, Orte und Sachverhalte beeindruckend deutlich wird. Das Abkürzungsverzeichnis, in dem Akronyme der zum Teil recht ähnlich klingenden Verbändenamen zu finden sind, ist allein knapp sechs Seiten lang und zeigt die Vielfalt der unter der vorgeschlagenen Perspektive behandelten Organisationen.

Anmerkungen:
1 Cornelia Siebeck, „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar“? – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Assmannschen Gedächtnisparadigma, in: René Lehmann / Florian Öchsner / Gerd Sebald (Hrsg.), Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2013, S. 65–90.
2 Norbert Frei, Auschwitz und die Deutschen. Geschichte, Geheimnis, Gedächtnis, in: ders., Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 156–183, hier S. 177f.
3 Siehe Henning Fischer, Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück: Biografische Erfahrung und politisches Handeln, 1945 bis 1989, Konstanz 2018; Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945–1965, Cambridge 2007; die Dissertation des Mitherausgebers Philipp Neumann-Thein, Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos, Göttingen 2014; oder Katharina Stengel, Hermann Langbein. Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit, Frankfurt am Main 2012.