Anders als in der Mittelalterforschung ist das Papsttum in der Alten Geschichte ein kaum etabliertes Forschungsfeld: Nur wenige Päpste und lediglich einige Aspekte der Papsttumsgeschichte, etwa die Doppelwahlen, waren bislang Gegenstände der neuen althistorischen Forschung.1 Der Frühgeschichte des römischen Bischofssitzes widmet sich nun Mario Ziegler in seiner Dissertation; behandelt werden die ersten 13 in der römischen Bischofsliste des Irenäus von Lyon (haer. 3, 3) genannten Episkopen. Ziegler beginnt seine Untersuchung mit Linus (64/67/68?–79/80/81?), den die wichtigsten Sukzessionslisten übereinstimmend an erster Stelle hinter Petrus (und Paulus) nennen. Den Endpunkt bildet Viktor I. (189/190?–201/202?), der im späten zweiten Jahrhundert als erster der römischen Gemeindevorsteher den Anspruch formulierte, Führer der Gesamtkirche zu sein.
Das vorrangige Ziel der Untersuchung ist die Zusammenstellung und Auswertung der Quellen über die Organisationsstruktur der stadtrömischen Kirche und deren Gemeindeleiter aus historischer Perspektive. Dieser Ausrichtung seiner Arbeit entsprechend stellt Ziegler zunächst die relevanten literarischen Quellen vor und hinterfragt den historischen Wert der dort überlieferten Sukzessionslisten (S. 5–38): Er unterscheidet zwischen den ältesten Listen (von Hegesipp und Irenäus) zum Nachweis der lückenlosen Weitergabe der unverfälschten Lehre seit der Zeit der Apostel und den späteren, als Amtsträgerlisten aufgefassten Verzeichnissen (etwa bei Eusebius und im Liber Pontificalis), die das Modell des Monepiskopats anachronistisch auch in die frühere Zeit der kollegialen Gemeindeleitung übertrugen. Zweifel an der Authentizität der Listen und der Historizität der genannten Personen wecken beispielsweise die mitunter stark variierende Reihung der Episkopen und auch die gelegentlich auftretende Verdoppelung des Anacletus in ‚Cletus‘ und ‚Anacletus‘. Entgegen älteren Forschungsmeinungen2 hält Ziegler die in den frühen Sukzessionslisten aufgeführten Episkopen nicht für literarische Fiktion3; er gesteht den Skeptikern aber zu, dass die Quellengrundlage für seine These sehr schwach ist (S. 6 und 9).
Die folgenden 13 Kapitel zu den einzelnen Episkopen (S. 39–245) sind nach einem einheitlichen Schema aufgebaut: Zunächst werden die Quellen mit Übersetzung geboten; es folgen eine tabellarische Aufstellung der Quellenaussagen zu den angeblichen Amtszeiten der römischen Gemeindevorsteher, Angaben zur Vita des jeweiligen Gemeindeleiters sowie zu den unter seinem Namen kursierenden Schriften, kurzgefasste Hinweise auf früheste bildliche Darstellungen (in der Regel die Bildnistondi der Päpste aus der antiken Basilika S. Paolo fuori le Mura in Rom) und eine abschließende knappe Zusammenfassung. Sicherlich zu Recht stellt Ziegler die Notizen zum Geburtsort sowie zur sozialen Herkunft der Episkopen in Frage und erachtet in den meisten Fällen auch eine Reihe weiterer Angaben (so etwa über die vorgenommenen Ordinationen, durchgeführte Baumaßnahmen, die Beisetzung der Episkopen und die Dauer der Sedisvakanz) für historisch wertlos. Ebenfalls kritisch überprüft wird die Glaubwürdigkeit der im Liber Pontificalis fast regelmäßig wiederkehrenden stereotypen Wendung Martyrio coronatur, mit der den meisten Episkopen (so Linus, Anacletus oder auch Clemens) der Märtyrertod attestiert wird. Aufgrund der fehlenden Parallelüberlieferung beurteilt Ziegler diese Angaben als unhistorisch; eine Ausnahme stellt Telesphorus dar, dessen Märtyrertod auch bei Irenäus und Eusebius bezeugt ist. In diesem Kontext aufschlussreich sind die Erläuterungen zum Martyriumsverständnis der frühen Kirche mit dem Verweis auf Tertullian (adv. Val. 4, 1): Der Begriff martyrium bezeichne sowohl das Blutzeugnis als auch offen bekanntes, mit Leiden verbundenes Christsein in der Verfolgungssituation ohne Todesfolge (S. 51f.).4
Themen der beiden letzten Kapitel (Kapitel 16 und 17) sind die Entwicklung des Monepiskopats in Rom und die Stellung der römischen Gemeindevorsteher innerhalb der Gesamtkirche, die Ziegler als Vorsteher von Hausgemeinden charakterisiert, in deren Wirken es also – wie er für Linus, Anacletus und Clemens annimmt (S. 50) – zeitliche Überschneidungen gegeben haben könnte. Abgeschlossen wird der Band durch ein fast 50-seitiges Literaturverzeichnis und Indices zu Personen, Sachen und Quellen.
Die Stärke der Arbeit besteht in der intensiven Auseinandersetzung mit den Textzeugnissen; die gesamte Argumentation bleibt durch die Präsentation der jeweils relevanten Quellen immer nachvollziehbar. Ziegler veranschaulicht komplizierte Sachverhalte durch übersichtliche graphische Illustrationen: Er bietet zum Beispiel einen tabellarischen Überblick zu den wichtigsten Sukzessionslisten (S. 10), eine schematische Übersicht über die Entwicklung der römischen Bischofsliste (S. 38) und tabellarische Gegenüberstellungen der unterschiedlichen Quellenangaben zu den angeblichen Amtszeiten der einzelnen Episkopen. Wünschenswert wäre eine detailreichere und themenbezogene Charakterisierung des Liber Pontificalis, der die meisten Details über die frühen römischen Gemeindeleiter bietet. Ein Blick auf die Papstviten ab dem 6. Jahrhundert provoziert gleich mehrere Fragen: Wie lässt es sich erklären, dass Adjektive wie sanctus oder beatus in den Episkopen-Biographien nie die Protagonisten selbst charakterisieren, sondern stets für Petrus reserviert bleiben? Wieso sind die für die hagiographische Literatur so typischen Begriffe wie miraculum, virtus und sanctitas nicht bezeugt? Warum werden den Episkopen keine thaumaturgischen und visionären Fähigkeiten zugeschrieben, wie dies in den späteren Papstviten ab dem 6.Jahrhundert – eines der ältesten Beispiele dürfte die Johannes’ I. (523–526) sein – der Fall ist? Waren derartige Bezeichnungen überflüssig, weil sie ohnehin alle als Märtyrer galten und daher solche hagiographischen Ausschmückungen ihrer Viten nicht als notwendig erachtet wurden?5 Einige diesbezügliche Überlegungen hätten zum besseren Verständnis der stereotypen Gestaltung der Episkopen-Viten beigetragen, dass hier nämlich, wie es dann ganz ausgeprägt bei späteren hagiographischen Texten der Fall ist, auf der Basis historiographischer Überlieferung und unter Verwendung hagiographischer Versatzstücke idealtypische Viten konstruiert werden. Ebenfalls ins Auge sticht die Datierung des ersten Clemens-Briefes in die Zeit um 70 n.Chr. (S. 227–231 und 254f.): Dieser zeitliche Ansatz erfordert eine überzeugendere Begründung, da die Forschung mehrheitlich für eine Abfassung in domitianischer Zeit (wohl am ehestens um 90) plädiert.6
Deutlicher herausgestellt werden müsste der tatsächliche Erkenntnisfortschritt der Arbeit. Man hätte sich also eine ausführlichere Schlusszusammenfassung mit einer präzisen Präsentation der Ergebnisse gewünscht. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass Ziegler eine überzeugende Arbeit vorgelegt hat, die sich durch eine problemorientierte und behutsame Auswertung der literarischen Quellen auszeichnet. Daher wird das Werk für die weitere Forschung zur Frühzeit des römischen Bischofssitzes grundlegend sein.
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Eckhard Wirbelauer, Zwei Päpste in Rom. Der Konflikt zwischen Laurentius und Symmachus (498–514), München 1993; ders., Die Nachfolgerbestimmung im römischen Bistum (3.–6. Jh.). Doppelwahlen und Absetzungen in ihrer herrschaftssoziologischen Bedeutung, in: Klio 76 (1994), S. 388–437; Steffen Diefenbach, Römische Erinnerungsräume, Berlin 2007; Jochen Martin, Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom. Die Frühgeschichte des Papsttums und die Darstellung der neutestamentlichen Heilsgeschichte im Triumphbogenmosaik von Santa Maria Maggiore in Rom, Stuttgart 2010. Als neuere Arbeiten aus der Kirchengeschichte und der Altphilologie wären noch zu nennen: Ursula Reutter, Damasus, Bischof von Rom (366–384), Tübingen 2009; Otto Zwierlein, Petrus in Rom. Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage, Berlin 2009.
2 So etwa Johannes Haller, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 1: Die Grundlagen, 2. Aufl., Urach 1962, S. 22f.; Gerhard Wehr, Auf den Spuren urchristlicher Ketzer, Schaffhausen 1983, S. 145.
3 In neuester Zeit vertritt wieder Zwierlein, Petrus, S. 156–158, die These, dass die Namen der Gemeindevorsteher in Irenäus’ Sukzessionsliste zumindest teilweise fingiert seien; in Zweifel gezogen wird vor allem die Existenz von Linus und Anacletus.
4 Zum Gebrauch des Begriffs martyrium bei Tertullian vgl. Wiebke Bähnk, Die Notwendigkeit des Leidens. Die Theologie des Martyriums bei Tertullian, Göttingen 2001, S. 110–123.
5 Zu diesem Themenkomplex vgl. Klaus Herbers, Zu Mirakeln im Liber Pontificalis des 9. Jahrhunderts, in: Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hrsg.), Mirakel im Mittelalter, Stuttgart 2002, S. 114–134, hier 118–121; vgl. auch ders., Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber Pontificalis und in römischen hagiographischen Texten, in: Johannes Laudage (Hrsg.), Von Fakten und Fiktionen, Köln 2003, S. 165–192; grundlegend zu den Charakteristika hagiographischer Quellen Friedrich Lotter, Methodisches zur Gewinnung historischer Erkenntnisse aus hagiographischen Quellen, in: Historische Zeitschrift 229 (1979), S. 298–356.
6 Andreas Lindemann, Die Clemensbriefe, Tübingen 1992, S. 12f. u. 17; Horacio E. Lona, Der erste Clemensbrief, Göttingen 1998, S. 75–78 u. 82–89; Joachim Gnilka, Petrus und Rom, Freiburg 2002, S. 208–215; Tassilo Schmitt, Paroikie und Ökumene, Berlin 2002, S. 1. Zwierlein (Petrus, S. 245–333) vertritt mit der Datierung des Clemens-Briefes in die Jahre 120–125 n.Chr. neuerdings eine weitere Extremposition.