Die Zeitschrift ist ein enorm vielschichtiges Medium. Dies liegt unter anderem daran, dass Zeitschriften als Publikationsplattformen für andere Medien wie Karikatur, Zeichnung, Fotografie, Lyrik oder Briefe fungier(t)en und damit ähnlich wie Archive ganz unterschiedliche Elemente in sich vereinen. Um den Quellenwert von Zeitschriften für die Geschichtswissenschaft zu stärken, bedarf es aufgrund der Komplexität des Mediums eines trans- bzw. interdisziplinären Zugangs, und gerade hier fehlt es noch an überzeugenden Forschungsansätzen. Denn als Massen- und Populärmedien wird (Publikums- oder Lifestyle-)Zeitschriften nicht nur in der Geschichtswissenschaft eine geringere Relevanz zugeschrieben als Medien der sogenannten Hochkultur (u.a. S. 23), obwohl gerade Student:innen gern und viel auf Zeitschriften als Quellen für ihre Hausarbeiten zurückgreifen (vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Philipp Pabst: „Populäre Zeitschriften im Seminar“). In der Geschichtswissenschaft dominierten lange Zeit Studien zu Zeitschriften des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende1; Forschungen zur Zeit ab dem Ersten Weltkrieg konzentrierten sich häufig auf Einzelaspekte, etwa auf die in Illustrierten publizierte Fotografie2 oder auf Subgenres wie Wohnzeitschriften.3
Mit dem von Oliver Scheiding und Sabina Fazli herausgegebenen interdisziplinären „Handbuch Zeitschriftenforschung“ liegt nun ein Werk vor, das diese Lücke in mehrfacher Hinsicht zu schließen vermag. Zunächst macht das Handbuch die Vielschichtigkeit des multimodalen und multimedialen Mediums Zeitschrift ebenso deutlich wie seine Materialität und die Vielzahl der mit Zeitschriften verbundenen Handlungen. In Ablehnung allzu enger Definitionen verstehen die Herausgeber:innen Zeitschriften als „Schriften der Zeit“ oder „time capsules“ (S. 12), die einem medialen Wandel nicht nur unterliegen, sondern diesen auch repräsentieren oder voranbringen und auf einer Metaebene reflektieren (S. 14).
Gemäß dem Handbuch sind Zeitschriften, etwa durch die Ausdifferenzierung in immer mehr Special-Interest-Zeitschriften mit jeweils eigenen Zielgruppen (S. 13), Phänomene eines gesamtgesellschaftlichen Wandels, den sie dokumentieren. Sie haben aber auch selbst einen erheblichen Anteil an solchen Transformationen, etwa indem sie zu Agentinnen der Alphabetisierung wurden (siehe u.a. den Beitrag von Ute Schneider: „Zeitschriftenlesen“) oder als Initial für den „‚kuratierten Lebensstil‘ spätmoderner Klassen“ gelten können (Andreas Reckwitz, zit. nach S. 20). Die Praxis des Kuratierens gilt der neueren Forschung als elementarer Bestandteil von Zeitschriften, da für sie Objekte ausgewählt, in ihnen aufbewahrt und mit einem klar erkennbaren Design in neuen Zusammenhängen arrangiert werden, womit sie sich den Praktiken von Ausstellungen annähern (S. 17–19).
Das Handbuch wird dominiert von einer praxeologischen Perspektive (S. 18f.), insofern vor allem diejenigen Angebote wiederholt im Zentrum der Beiträge stehen, mit denen Zeitschriften ihre Rezipient:innen zu bestimmten (Beziehungs-)Handlungen auffordern. Das Spektrum der entsprechenden Praktiken beginnt beispielsweise beim Kaufverhalten am Kiosk, das durch die Auslagenpraxis beeinflusst wird (mit Blick auf die Produktionsseite siehe M. Bjørn von Rimscha: „Die Ökonomie der Zeitschrift“; als ethnographisch dichte Beschreibung des Kaufverhaltens siehe Mehita Iqani: „Konsumverhalten“). Es reicht von Veränderungen im Freizeitverhalten (S. 32) über Kontakt- und Netzwerkmöglichkeiten durch Zeitschriften (S. 43) bis hin zu Aufforderungen, das eigene Selbst in Abgrenzung zu anderen zu definieren und Gruppenidentitäten auszubilden (u.a. S. 23–26).
Die insgesamt 43 Beiträge des Handbuchs sind in vier thematische Abschnitte gegliedert. Den ersten beiden Teilen ist neben der Einleitung eine hilfreiche Kurzeinführung vorangestellt, die in den jeweiligen Forschungsstand einführt. Querverweise verbinden die einzelnen Beiträge auch über diese Vierteilung hinaus. Die meisten Beiträge arbeiten mit konkreten Beispielen und begleiten die theoretischen Ausführungen mit praktischen Analysen, die durch (meist farbige) Abbildungen veranschaulicht werden.
Teil I „Gegenstandsbereiche der Zeitschriftenforschung“ umfasst auf gut 150 Seiten elf Beiträge. Vier sind der Rezeptionsforschung gewidmet, darunter ein Beitrag der Mitherausgeberin Sabina Fazli zu „Zeitschriftenlesen und Affekt“. Andere führen über eine Skizze der historischen Genese des Mediums in neue Perspektiven auf alte Themen der Zeitschriftenforschung ein. So betont Vincent Fröhlich in seinem Beitrag zur „Periodizität“ den Zusammenhang zwischen der durch die Industrialisierung geprägten Zeitlichkeit, der Zeitlichkeit der persönlichen Erfahrung und den regelmäßig über einen bestimmten Zeitraum erscheinenden Zeitschriften mit ebenfalls periodisierten Themen. Der Beitrag von Jens Ruchatz zu „Bild-Schrift-Konstellationen“ liefert systematisierende, historisch präzise Hinweise zur methodischen Analyse multimedialer Eigenschaften und zeigt, dass in Zeitschriften häufig nicht das Bild den Text, sondern der Text das Bild illustriert.
Der umfangreichste Teil II „Fachkulturen und methodische Ansätze“ versammelt dreizehn Beiträge auf rund 200 Seiten. Einige der Beiträge bieten Forschungsüberblicke (etwa von Patrick Rössler zur kommunikationswissenschaftlichen Forschung über das Verhältnis von Politik, Propaganda, Werbung und Medien, zudem mit hilfreichen, systematischen Fragen) oder erläutern den Forschungsstand (etwa von Howard Cox über die historische Forschung zu britischen Zeitschriften und zum Verlagswesen sowie zum Einfluss der Steuergesetzgebung und zur Ausdifferenzierung des Transportwesens). Andere formulieren Forschungsdesiderate. So weist Nicola Kaminski darauf hin, dass die „Material Philology“ mittelalterlicher Handschriften für die Zeitschriftenforschung weiterführend sein könnte. Gustav Frank formuliert den Wunsch, Zeitschriften in der Buchwissenschaft stärker zu berücksichtigen. Mara Logaldo fordert, die linguistische Zeitschriftenforschung stärker in interdisziplinäre Projekte einzubinden, was im Handbuch selbst bereits deutlich zum Ausdruck kommt.
In Teil III „Fallbeispiele des Zeitschriftendiskurs[es], Gattungen und Methoden“ geben vierzehn kürzere Beiträge auf gut 100 Seiten Einblicke in die Beziehungen zwischen konkreten Zeitschriften vor allem des 20. Jahrhunderts und ihren Publika, etwa im Hinblick auf das Angebot von Beefcake-Magazinen, eine Gruppenidentität homosexueller Männer auszubilden, die dann auch bei den Stonewall-Protesten entscheidend werden konnte (Florian Freitag), oder das Angebot des Playboy an Männer in Männlichkeitskrisen, sich selbst in einer aufgewerteten Version im Magazin zu entdecken (Felix Krämer). Wie ein Beitrag von Alexandra Mehnert zeigt, wird dieses selbstbespiegelnde Aufmerksamkeitsbedürfnis von Männern, die sich in ihrer dominanten Position bedroht fühlen, in der Gegenwart von rechtsideologischen Medien wie dem COMPACT-Magazin für eine auch von der AfD intendierte Diskursverschiebung genutzt, um rechte Deutungsmuster für die bürgerliche Mitte anschlussfähig zu machen. Beiträge zu Frauenzeitschriften betonen eher, dass die Magazine zur Freundin werden wollen (Fazli: „Marie Claire“), dass Mädchen und Frauen durchaus eigensinnige Rezeptionen anstreben und auch humorvoll mit den Inhalten umgehen (Anja Schwanhäußer / Levke Rehders: „Die Wendy und ihre Welt“) oder selbst im Widerstand gegen den Mainstream und die sehr männlichen Punk-Zines zu Akteurinnen der feministischen „Grrrl Zines“ werden, die wiederum die Agency auch ihrer Leserinnen stärken (Anna Seidel).
Der abschließende Teil IV „Zeitschriften. Ein Ausblick“ umfasst auf etwa 50 Seiten fünf Beiträge zu möglichen (künftigen) Handlungsweisen mit Zeitschriften, zum Beispiel in der universitären Lehre (Philipp Pabst), aber auch konkret in ihrer Produktion (Jeremy Leslie; Frank Wagner), mit Blick auf die Weiterentwicklung des Feminismus (Angela McRobbie) sowie in einer von der Digitalisierung bestimmten Zukunft (Tim Holmes).
Das umfangreiche Handbuch bietet einen hervorragenden Einstieg in den aktuellen Forschungsstand – es zeigt Desiderate und Analysemethoden, und dies auch ganz konkret anhand von Fallbeispielen in großer Fülle. Für Lehrende an Universitäten und Hochschulen, aber auch für Student:innen ist dieser Band sehr zu empfehlen, zumal Zeitschriften in Zukunft vermutlich auch bei Student:innen stärker in den Blickpunkt rücken, da sie durch die zunehmende Digitalisierung leichter zugänglich werden. Dies wiederum wird im Handbuch mehrfach aus verschiedenen Perspektiven problematisiert, etwa im Hinblick auf damit verbundene Datenverluste oder auch Kanonisierungen, die nicht unbedingt der historischen Rezeption entsprechen. Fachzeitschriften stehen hier nicht im Zentrum und werden nur in einem einzelnen Aufsatz exemplarisch diskutiert (Michael Lörch). Viele Untersuchungsaspekte wie Materialität, Lektürepraktiken und ökonomische Grundlagen lassen sich aber auch auf die Fachkommunikation in und mit Zeitschriften beziehen, um deren Spezifika besser zu verstehen und zu historisieren.
Anmerkungen:
1 Etwa Natalia Igl / Julia Menzel (Hrsg.), Illustrierte Zeitschriften um 1900. Mediale Eigenlogik, Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016; Angela Karasch (Red.), Illustrierte Moderne in Zeitschriften um 1900. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Freiburg i.Br., 15. Juli bis 31. August 2005, Freiburg 2005, https://freidok.uni-freiburg.de/data/1894 (28.04.2023).
2 Etwa Silke Betscher, Von großen Brüdern und falschen Freunden. Visuelle Kalte-Kriegs-Diskurse in deutschen Nachkriegsillustrierten, Essen 2013; Anton Holzer, Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945, Darmstadt 2014, https://e-book.fwf.ac.at/view/o:564 (28.04.2023).
3 Etwa Irene Nierhaus / Kathrin Heinz / Rosanna Umbach (Hrsg.), WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld 2021.