Silvy Chakkalakals geschmackvoll gestaltetes Buch untersucht die Faszination, die ab Ende des 18. Jahrhunderts im Europa der gebildeten Kreise von Indien ausging. Indien lieferte in der Zeit der Napoleonischen Kriege – und erst recht in den Jahren der beginnenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Sprachen und Kulturen des Subkontinents – eine Folie für Sehnsüchte und Phantasien. Dies wurde, wie Chakkalakal eindrücklich darstellt, von Reiseberichten und Bildbänden gefördert, die damals besonders im deutschsprachigen Raum populär waren. Sie analysiert an erster Stelle diese Bilder und wendet eine Methode an, die nicht den referierten Inhalt, sondern die Interaktion zwischen Dargestelltem und Betrachter bzw. Leser im Fokus hat. Besonders Bildvorlagen wie die anscheinend sehr beliebten Asketenszenen und Frauendarstellungen, die immer wieder abgewandelt wurden, zeigen ihr, wie sich die Rezeption eines Topos nach den Bedürfnissen der Leserschaft über die Jahre wandelte. Diese Untersuchungen sind auch für nicht in ihrer Fachterminologie vorgebildete Leser gut verständlich und überzeugend.
Ihre prozessorientierte Kulturanalyse beinhaltet aber auch eine Auseinandersetzung mit den Begriffsdefinitionen ihrer ethnographischen Wissenschaft, die in Seitengebiete der Perzeptionsgeschichte führen und dem Kulturwissenschaftler neue Blickweisen öffnen. Ein zentraler Begriff ist hier der der Figuration, worunter nur am Rande die bildliche Darstellung gemeint ist, sondern in erster Linie nach N. Elias „das Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen […].“ (S. 14) Sie erläutert: „Die Figurationsgeschichte untersucht vor allen Dingen kulturelle Figuren in ihrer kultischen Praxis, die in und durch die Figuration als Gebilde, als Gebildetes, eben im Sinne von Gestaltungs- und Handlungsspielräumen der zu untersuchenden Akteur:innen und Aktanten sichtbar gemacht werden.“ (S. 205) Dies führt auf eine neue Betrachtungsebene. Besonders im letzten Kapitel ihres Buches führt die Autorin ihre Forschungsweise aus und gibt schlüssige Einblicke in deren Perspektiven.
Wie es der Titel ihres Buches „Indienliebe, die frühe Ethnographie und ihre Bilder“ erwarten lässt, setzt Chakkalakal sich in dem ersten Teil ihres Buches mit dem Wissenschaftsbereich Ethnographie und Anthropologie auseinander, seiner Entstehung im 17./18. Jahrhundert, den Bedingungen und Arbeitsweisen. Zahlreiche von ihr zitierte Aussagen der frühen Forscher weisen darauf hin „[…] dass ethnographisches Wissen als Teil des Projekts einer universalen Menschheitsgeschichte begriffen wurde.“ (S. 55) Dieser Ansatz macht es verständlich, wenn damals Kategorien gesucht und erarbeitet wurden, die den Vergleich von Beobachtungen erlaubten. Im weiteren Verlauf des Buches führt Chakkalakal diese weiter aus. Das Beschreiben von Menschen, ihren Lebensweisen, Kleidern etc. hatte bald deren Wiedergabe in Zeichnungen zur Folge, die dann in Bildersammlungen veröffentlicht wurden. Neben persönlichen Reiseberichten ermöglichten diese Bilder einer breiteren Öffentlichkeit, eigene Anschauungen zu entwickeln und sich an der Meinungsbildung über ferne Länder zu beteiligen, was wieder Rückwirkungen auf die Ethnographie hatte. Diese Verbildlichungen beeinflussten das Interesse, mit der fast jede Nachricht aus der betreffenden Region aufgenommen wurde. Das Sich-ein-Bild-machen-Können, so argumentiert Chakkalakal, ermöglichte eine affektive Verknüpfung.
Ausführlich verweist Chakkalakal im Hauptteil auf Bildvorlagen aus Alben der Mogulmalerei und des Company–Style, spürt kulturellen Figuren nach und dem Entstehen von Typen. Sie zeigt die oben erwähnten Topoi von Asketen und reizenden Frauen aber auch die von exotischer Landschaft und kultischen bzw. kulturellen Gerätschaften wie zum Beispiel dem Rosenwasserfläschchen in ihrer Sinngebung für die europäischen Betrachter auf, die die fremde Ferne romantisieren und die Überlegenheit europäischer Herrschaft herausstellen sollten.
Im letzten Abschnitt ihres Buches widmet sie sich der „Sehnsucht Indien“ und kehrt damit zum Ausgangspunkt ihres Buches zurück. Dabei hilft ihr ein privates Familienalbum der Reise einer Deutschen nach Indien, die 1955 stattfand. Sie schreibt: „Nicht zufällig finden wir 150 Jahre nach dem von mir analysierten Zeitkontext um 1800 ähnliche kulturelle Figuren und Bildpraktiken in Bezug auf Indien vor. Hiermit wird einmal mehr die Langfristigkeit der deutsch-indischen Figuration sichtbar: in den Bildern der indischen Gaukler (Abb. 55), der schönen indischen Frauen, der deutschen Köper in exotisch-orientalischer Verkleidung (Abb. 56) sowie in den Bildern des naturhaften und antiken Indiens [sic!] mit seinen Tempeln und seiner exotischen Naturgeschichte.“ (S. 201)
Damit kehrt sie zur Indienliebe oder Indomanie zurück, die etwas ist, das von den Berichten und Bildern über Indien gespeist wurde. Sie war eine Liebe aus zweiter Hand und hatte nur am Rande mit Indien selbst als Land oder Kultur zu tun hat. Die Vorstellung von Tempeln oder Fakiren, exotischen Damen oder verschattenden Bäume sind aber dann nur die Matrix für Emotionen geworden, die in dem Betrachter der Indienbilder hervorgerufen wurden und vielleicht immer noch werden. Im Wettstreit um Aufmerksamkeit bekommen Merkwürdigkeiten, Exotisches, Erotisches einen herausragenden Stellenwert. So entwickelten sich die Topoi des Fakirs, der Haremsimaginationen, Frauenbilder aber auch die Nachfrage nach Mythen, Bräuchen, Schönheiten.
Liest man von deutscher Indomanie oder Indienliebe im 18. Jahrhundert so drängen sich Fragen auf: Wie unterscheidet die sich von der gleichzeitigen Ägyptomanie, die W. Seipel eindrücklich schildert, oder etwa der Liebe zur Klassischen Antike?1 Was suchten „deutsche“ Leser im Vergleich zu anderen in diesen Büchern und was heißt „deutsch“ zu dieser Zeit? Die Entwicklungsgeschichte aller Wissenschaften, die auch Anwendungen von kategorisierenden Definitionen auf alle Forschungsbereiche beinhaltete und zu Folgerungen, die heute als Irrwege zu bezeichnen sind – all dies sind Themen, die zum Hintergrund von Chakkalakals Arbeit gehören, und die sie nur am Rande erwähnen kann, weil es ihren Rahmen sprengen würde.
Chakkalakal bezieht sich zwar ausdrücklich an vielen Stellen auf Forschungsergebnisse der historischen Wissenschaften, aber sie wendet deren Ergebnisse nur begrenzt an. Der Ausschluss von Verfahrensweisen und Ergebnissen verschiedener Disziplinen wie Sprachwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Ikonographie, Kunstwissenschaft etc. führt zu einem klar umrissenen Forschungsansatz, bei dem mithilfe von als allgemeinverständlich postulierten Begriffen (wie Ästhetik, Kolonialismus, Sklaverei, Geschlechterbeziehung, Dominanz) Folgerungen gezogen werden. Die Selektion der Analysedaten dient der Schärfung des Fokus und ermöglicht in der Tat schlüssige Folgerungen auf einer verallgemeinernden Meta-Ebene, jedoch bleiben die Ergebnisse wenig aussagekräftig für die Kulturwissenschaft und hier das Forschungsgebiet Indien selbst. Chakkalakals Analyse des „deutschen“ Blicks führt zur Aufwertung der in ihren kommentierten Quellen zu blassen Projektionsflächen (S. 214) degradierten Bildinhalte. Auch wenn ein Bedauern über die vielen unbeschrittenen Wege zur Erläuterung der „Indienliebe“ bleibt, die sie mit ihrem Vorwissen gut hätte beschreiten können, ist ihr Buch ein lesenswerter Beitrag zur Kulturpsychologie mit dem Schwerpunkt Indien.
Anmerkung:
1 Wilfried Seipel (Hrsg.), Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Schriften des Kunsthistorischen Museums, Bd. 3, Wien 2000.