P. Plener u.a. (Hrsg.): Das Formular

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Titel
Das Formular.


Herausgeber
Plener, Peter; Werber, Niels; Wolf, Burkhardt
Erschienen
Berlin 2021: Springer
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 42,79
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wendelin Brühwiler, Historisches Seminar (zudem: DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis), Universität Zürich

Wer von diesem Band mit dem schlichten Titel Das Formular einen handbuchartigen Überblick erwartet, wird sich getäuscht sehen. Auch wenn die Herausgeber das Thema von den „handgeschriebenen Formularbüchern“ der Frühen Neuzeit bis zu den „hinterleuchteten Schreiboberflächen“ des 21. Jahrhunderts, von „historischen Lückentexten“ kirchlicher Verwaltung bis zu den „,sozialen Medien‘“ in einem kurzen Vorwort weit aufspannen, bietet der Band, der den Auftakt der im Metzler-Verlag lancierten Open-Access-Reihe AdminiStudies macht, keine erschöpfende Behandlung. Die Beiträge leisten zuweilen erhebliche Begriffsarbeit, sie zielen jedoch kaum auf systematische Klärung. Der reduzierte Paratext – kein Untertitel, keine Einleitung – und die lockere Anordnung der Beiträge in vier Teile – Theorie, Macht, Literarizität und Medialität des Formulars – geht vielmehr mit einem offenen Verständnis verwaltungswissenschaftlicher Forschungsgegenstände einher, wie es vorangehenden Anregungen der kulturwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft entspricht.1

Einen guten Einstieg in den Band bietet der Beitrag des Mitherausgebers Peter Plener, der das Thema verwaltungshistorisch und medientheoretisch angeht. Vor allen Dingen erinnert Plener zu diesem Zweck an rechtliche Implikationen. Das Formular bringt „einen faktenbasierten, ‚bürger:innenbiografischen Pakt’ von Amts wegen“ (S. 55) zum Ausdruck. So erst vermögen administrative Vorgänge über Formulare und „verwaltungstechnische Formalität“ (S. 56) einen Zusammenhang zwischen Vorgegebenem und Feststellbarem zu stiften: facta sunt servanda. Was dabei auf dem Spiel steht: „Identitätsfeststellungen, Finanzen, Tathergänge, kriegsdiensttaugliche Körperlichkeit, Auskunftsbegehren etc.“ (ebd.). Es geht also um weit mehr als um ‚bloße‘ Verwaltungsroutine. Das Formular hat seinen angestammten Platz inmitten jenes kritischen Zusammenhangs von Datum und Faktum, der der Expansion von Schriftlichkeit seit der Frühen Neuzeit zugrunde liegt. An den ‚Kleinen Formen‘ der Administration – an deren kulturtechnischen Bewirtschaftung und ‚verwaltungs-philologischen‘ Bearbeitung – hängt, so könnte man zuspitzen, das Meiste einer entsprechenden Zurechnungsfähigkeit nicht nur staatlichen, sondern auch (privat-)wirtschaftlichen Wissens und Handelns.2 Schon bei Plener wird deutlich, dass dieser Zusammenhang ein wesentlich moderner ist. Die Frage, was die Modernität der Formulare im Näheren bedeutet, wie sie strukturiert wird und strukturierend wirkt, wie sie allererst festzustellen und zeitlich anzusetzen ist, zieht sich über eine Reihe weiterer Beiträge hinweg.

Mitherausgeber Niels Werber buchstabiert die Frage systemtheoretisch aus als die „Ausdifferenzierung von spezifisch codierten Funktionssystemen“ im Übergang einer stratifizierten in eine funktional differenzierte Gesellschaft (S. 19f.). Formulare strukturieren in dieser Perspektive zum einen die Anschlusskommunikation und sorgen für die in der Moderne nicht mehr umfassende, sondern stets nur fallweise gesellschaftliche Integration. Es stellt sich eine erhebliche „‘Elastizität’ im Grenzbereich von Organisationen“ ein, die vom Formular indessen „dissimuliert“ werde, um einen „Eindruck vollkommener Notwendigkeit“ zu vermitteln (S. 23). Seit der Frühmoderne also bewerkstelligen Formulare gesellschaftliche Rollenfixierungen. Was zunächst ständische Unterschiede weiter ausdifferenzierte – „Wie redet man Väter oder Mütter niederen Standes an, wenn die Tochter Priorin geworden ist? Wie schreibt ein adeliger Sohn seinem Vater, wie ein bürgerliches Kind seiner Mutter?“ (S. 25) – entwickelt sich zu einer regierungstechnischen Taxonomie, die generalisierbare Kategorien anbieten konnte, welche in der Verwaltungspraxis – idealiter statistische – Deskription und Synthesenbildung erlaubten. Dagegen opponierte, so Werber, eine humanistische Anthropologie, die ab 1800 einer entsprechenden Fragmentierung des Subjekts in Verwaltungsformalien den „‚ganzen Menschen‘“ entgegensetzte, was in systemtheoretischer Perspektive wiederum erlaubt, auf eine ‚Exklusionsindividualität‘ hinzuweisen, um den kulturkritischen Diagnosen von der „Verstümmelung“ des Menschen entspanntere Subjektivierungsmöglichkeiten entgegenzuhalten (S. 31). „Beinahe Dialektik“ (S. 30) nennt Werber diese Ausgangslage.

Anders, nämlich an einer historischen Zäsur im frühen 20. Jahrhundert, setzt Peter Becker an. Er sieht im Grenzkontrollregime, das im Nachgang des Ersten Weltkriegs unter der Ägide des Völkerbunds entstand und die Rückkehr zum status quo ante, zur uneingeschränkten Personenfreizügigkeit, verpasste, eine „Ironie der Geschichte“ (S. 104). Zentraler Schauplatz dieser Ironie ist der Reisepass, der sich als geeignet erwies, die während des Krieges eingeführten Mobilitätskontrollen in abgemilderter Form zu konsolidieren. Im Einzelnen verdeutlicht Becker dies an zwei gegenläufigen Aspekten: Erstens wurden Pässe quasi-universell zugänglich. Das heißt, alle Bürger:innen hatten das Recht und die Möglichkeit, einen Reisepass zu beantragen; für Staatenlose wurde der sogenannte Nansen-Pass eingeführt. Zweitens aber erforderte der Grenzübertritt ein Visum, das den tatsächlichen Zugang zum staatlichen Territorium regelte. Die Grenzkontrolle blieb so weiterhin nötig, was einen Einheitspass nahelegte – die Genfer Konferenz von 1926 verpflichtete zur Verwendung eines Grundmusters als Vordruck – und Anweisungen an die Grenzbeamten zum Umgang mit diesen Papieren nötig machte. In den Auseinandersetzungen um das Formular, um dessen Darstellungs- und Verfahrensform, schlugen sich so widerstrebende Interessen nieder. Dies betraf nicht nur staatliche Interessen. Zivilgesellschaftliche Akteure brachten in humanitärer Absicht die Perspektive der einzelnen Person in die Verhandlungen eines neuen Grenzregimes mit ein. Aufschlussreich sind die von Becker behandelten „Passformular[e]“ im Besonderen aufgrund der internationalen Entstehungsbedingungen. Die meisten anderen Formulare, so Becker, seien aus lokalen Gegebenheiten hervorgegangen und hätten gebietskörperschaftlichen Anforderungen entsprochen. Bei den Reisepässen jedoch ging es nicht um Herrschaft, sondern um eine „zweckrationale Interaktion zwischen sprachlich und verwaltungskulturell unterschiedlich geprägten Akteuren“ (S. 108).

Konrad Haubers Beitrag zur Bedeutung des Formulars für die Anfänge der „Telekommunikationsmedien“ (S. 253) nimmt wiederum eine medienhistorische Zwischenphase im frühen 19. Jahrhundert in den Blick. Formulare, so die Stoßrichtung seines Arguments, erweisen ihre Leistungsfähigkeit in einem kulturtechnischen Kontext, dessen Operationen weder auf ein materielles Kontinuum zurückgeführt werden konnten noch auf die binäre Struktur elektrischer Impulse vorauswiesen. Die um 1800 eingerichteten staatlichen Systeme setzten eine Praxis ins Werk, bei der man sich auf die Präsenz des gesprochenen Wortes unter Anwesenden und die Materialität der schriftlichen Verkehrs ebensowenig verlassen konnte wie auf die physikalische Extension einer Infrastruktur (Kabel). Vielmehr kommt es auf eine Übertragungskette von Signalposten zu Signalposten an, deren Zuverlässigkeit in einem durch die Operateure verwendeten, vorgedruckten Stück Papier und in der Authentifizierung desselben als ‚copie conforme‘ konvergiert. Die optische Telegrafie bildete, so könnte man sagen, ein medienhistorisches Intervall, das kulturtechnische Spezifika der elektrischen Telegrafie vorwegnahm.

Vergleichbare Fragen nach der Prägekraft von ‚Vorbildern‘ geraten im Beitrag von Johannes Paßmann, Lisa Gerzen, Anne Helmond und Robert Jansma zur Diskussion. Die Autor:innen untersuchen Registrierungsformulare von Social-Media-Anbietern. Als „obligatorische[n] Passagepunkt“ (S. 309) auf dem Weg zur Teilnahme an den Diensten sind diese Formulare zur Ausbildung medienkultureller Eigenarten geradezu prädestiniert. Das liegt nicht zuletzt an den ausführenden Protokollen, die den Sinn-Operationen digitaler Kommunikation vorausliegen. Im Einzelnen interessiert in dem Beitrag der Umstand, dass Facebook es geschafft hat, „gegen den Trend auf anderen Plattformen und gegen eine lange Geschichte des Pseudonyms online“ (S. 307) den Klarnamen durchzusetzen. Zur Erklärung dieser Eigenart verfolgen die Autor:innen einen „semiotisch-materiellen“ Praxisansatz (S. 311). Nach dieser Betrachtungsweise können Formulare nicht ohne weiteres als Verdichtungspunkte von Entscheidungs- und Verzeichnungsmacht verstanden werden. Sie entfalten ihre Prägekraft vielmehr innerhalb einer Verkettung von Operationen. Mit dem Eingabeformular hat man lediglich einen, wiewohl aufschlussreichen, Ausschnitt vorliegen, in den Impulse von vorausgehenden Praktiken ein- und von dem Impulse an Folgepraktiken ausgehen.

Für den Zuschnitt der Namens-Politik von Facebook in der Eingabemaske war nun, wie die Autor:innen anhand von Screenshots aus dem Jahr 2004 nachweisen, das E-Mail-Adresssystem der Harvard-Universität von Bedeutung. Das Registrierungsformular war zunächst in seinem Nutzerkreis wie auch in seiner Form an dieser Organisation orientiert, womit sich auch deren Klarnamenstradition in die Anonymitätskultur der Internetkommunikation inserierte. Das ist an einer herkömmlichen Praxeologie vorbei gedacht, indem die strukturierenden Momente oder Impulse zunächst an Vorgängen der infrastrukturellen Verkörperung kontextfremder und/oder heteronomer Vorläufer bzw. Vorbilder abmessen lassen. Dass zum Erkennen entsprechender Ähnlichkeiten auch der digital informierte ‚verwaltungs-philologische‘ (Plener) Blick seinen Teil beiträgt, versteht sich. Er kann auch in diesem Fall nicht anders, als sich immer wieder auf die Schreiboberflächen zu richten.

Die supponierte Macht des Formulars legt ein Aufbrechen des Gegenstands nahe, auch ein Abschweifen ins Daneben, Davor und Danach. In diesen wiederkehrenden Motiven der Beiträge zeichnen sich Umrisse einer ‚Bürokratiekritik‘ ab, die sich von den antibürokratischen Affekten des 19. und 20. Jahrhunderts abstößt3 und zugleich Distanz hält zu jedem technokratischen, legalistischen oder informationstechnologischen Enthusiasmus. Das ist eine ergiebige Ausrichtung, die dazu geeignet ist, theoretische Vorentscheidungen und hergebrachte diskursive Muster zu vermeiden. Auch führt sie dazu, dass der Gegenstand bei aller Fokussierung in der Befragung fortlaufend dezentriert wird. Dies dürfte ebenso editorische Absicht sein, wie es der Grund dafür ist, dass die Frage, was Formulare denn nun eigentlich sind, bis zuletzt offenbleibt, ja offenbleiben muss. Auf die Fortsetzung der Reihe darf man gespannt sein. Weitere Titel sind noch nicht angekündigt. Das vielfach angeschnittene Verhältnis von Performativität und Fixierung betreffend, wäre etwa ein Band zum Protokoll von Interesse.

Anmerkungen:
1 Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hrsg.), Europa: Kultur der Sekretäre, Zürich 2003, S. 79–96; Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hrsg.), Medien der Bürokratie, Paderborn 2016.
2 Plener profiliert die Brisanz dieser Umstände auch im Kontrast zum Journalismus, der nicht eigentlich mit den Fakten „im Geschäft“ sei, sondern mit Informationsselektion.
3 Ben Kafka, The Demon of Writing: Powers and Failures of Paperwork, New York 2012.