Im Jahr 2040 spätestens soll es fertig sein: Polens erstes Atomkraftwerk. Noch unter der PiS-Regierung wurden die Verträge mit dem US-amerikanischen Konzern Westinghouse unterzeichnet; die neue Regierung unter Donald Tusk hält an den Plänen fest. Der geplante Reaktor an der polnischen Ostseeküste ist Polens zweiter Anlauf für den Start ins atomare Zeitalter. Wenige Kilometer vom anvisierten Standort entfernt stehen die Ruinen des Rohbaus für das Atomkraftwerk Żarnowiec. Anfang der 1980er-Jahre begonnen, wurde der Bau 1990 nach massiven Protesten und einem lokalen Referendum eingestellt.
Die Geschichte dieser auch im geschichtsbewussten Polen wenig präsenten Anti-Atom-Bewegung liegt nun erstmals in einer für das nicht-polnischsprachige Publikum zugänglichen Form vor. Der mit 200 Seiten knapp gehaltene Band ist eine erweiterte und für eine internationale Leserschaft angepasste Übersetzung des Buchs „Bez atomu w naszym domu“ („Ohne Atom in unserem Haus“), das 2019 in der Reihe des Europäischen Solidarność-Zentrums erschien.
An dem Buch wirkten neben Kacper Szulecki, Assistenzprofessor an der Universität Oslo, mit Janusz Waluszko und Tomasz Borewicz (der vor Veröffentlichung des Bandes verstarb) zwei prominente Vertreter der Protestbewegung mit. Es handelt sich somit um ein generationenübergreifendes Projekt, das Zeitzeugenberichte und Selbsthistorisierung mit einer zeithistorischen Einordnung der Proteste verknüpft. Gerne hätte man mehr über die praktische Seite dieses durchaus innovativen Ansatzes erfahren, etwa zu Reibungspunkten zwischen Zeitzeugenschaft und wissenschaftlichem Anspruch.
Das Buch verfolgt im Wesentlichen zwei Anliegen. Zum einen möchte es die polnische Anti-Atom-Bewegung als eigenständigen Teil der demokratischen Oppositionsbewegung während des Spätsozialismus in Erinnerung rufen und der Perspektive der Beteiligten Raum geben. Dies löst der Band vor allem durch den Rückgriff auf zahlreiche Interviews mit Zeitzeug:innen (überwiegend Männer) ein. Zum anderen nutzen die Autoren das Fallbeispiel der Anti-Atom-Proteste, die nach dem Systemwechsel nahtlos weitergingen, um gängige Narrative der postsozialistischen Transformation in Polen zu hinterfragen und der top-down-Erzählung vom Neuanfang 1989 eine bottom-up-Perspektive entgegenzusetzen, die eher die Kontinuitäten betont.
Im Anschluss an eine knapp gehaltene Einleitung wirft das Autorenteam die Frage auf, warum in Polen bis Mitte der 1980er-Jahre trotz der breiten Mobilisierung unter dem Banner der Solidarność keine zivilgesellschaftliche Kritik an Kernwaffen und Atomkraft aufkam. Während für eine Auseinandersetzung mit Atomkraft schlicht der Gegenstand fehlte – der Bau von Polens erstem Atomkraftwerk begann erst 1982 (S. 75–83) –, lag die fehlende Problematisierung von Kernwaffen durch die polnische Oppositionsszene daran, dass sich diese mit außenpolitischen Fragen generell wenig beschäftigte. Die Angst vor einem Atomkrieg, lange vor der Kernenergie Treiber für die atomkritische Stimmung im Westen, war für die Solidarność, anders als für Dissident:innen in der DDR und der ČSSR, kein Thema.
Mit der Lockerung der Zensur in der Hochphase der Solidarność wurden die katastrophalen Auswirkungen des technokratischen Umgangs mit der Natur im Realsozialismus in den Medien jedoch zunehmend offen thematisiert (S. 36–41). Das wachsende Umweltbewusstsein schlug sich 1980 in der Gründung der ersten unabhängigen Umweltschutzorganisation nieder, des Polski Klub Ekologiczny (Polnischer Ökologischer Klub), dem 1984 das von Redakteur:innen der staatlichen Pfadfinderzeitschrift ins Leben gerufene Umweltnetzwerk Wolę Być (etwa: „Lieber sein“) und 1985 das oppositionelle Umwelt- und Friedensnetzwerk Wolność i Pokój (WiP, Freiheit und Frieden) folgte. Letzteres organisierte 1985 auch die erste Protestaktion gegen Kernwaffen in Polen, die sich gegen einen sowjetischen Atomwaffenstützpunkt an der polnischen Ostseeküste richtete (S. 41–45).
Als im April 1986 das Kernkraftwerk Tschernobyl explodierte, gab es in Polen somit schon Gruppierungen, die in der Lage waren, den Protestimpuls aufzugreifen. Auf spontane erste Kundgebungen (Wolę Być in Warschau) folgten größere Demonstrationen (WiP in Wrocław), die in den Folgejahren an den Jahrestagen der Katastrophe wiederholt wurden. Eine wichtige Erfahrung für die aufkeimende Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung war, dass der Staatsapparat diesen Demonstrationen überraschend milde begegnete. Zudem sprang auch die „alte“ Opposition bald auf den Zug auf, sodass Umwelt- und Anti-Atom-Proteste häufig in erster Linie als Proteste gegen den realsozialistischen Staat wahrgenommen wurden (S. 69f.).
Bald gerieten auch Atomprojekte in Polen in den Fokus dieser Bewegung. Proteste richteten sich 1987 zunächst gegen ein geplantes Atommülllager im westpolnischen Międzyrzecz, in den Folgejahren auch gegen die Pläne für Atomkraftwerke in Kopań, Klempicz und vor allem Żarnowiec. Diese Aktionen wurden häufig von Aktivist:innen aus dem Umfeld von WiP angeschoben, stießen aber vor Ort auf fruchtbaren Boden. So verabschiedete im Herbst 1987 der lokale Rat von Obrzycko eine Resolution gegen den Bau des Atomkraftwerks im nahegelegenen Klempicz. Umweltaktivismus aus der Stadt traf auf Ängste und Unmut in der ländlichen Bevölkerung, deren Eliten sich vor negativen gesundheitlichen Folgen sorgten, aber auch missbilligten, dass Entscheidungen in Warschau über ihre Köpfe hinweg getroffen wurden. Unter dem Eindruck dieser Proteste wurden die Pläne für Atomkraftwerke in Kopań und Klempicz sowie für das Atommülllager Międzyrzecz in den Jahren 1988–89 ad acta gelegt (S. 87–114).
Dagegen wurde das am weitesten vorangeschrittene Projekt, das Atomkraftwerk Żarnowiec, weitergeführt. Als Reaktion darauf organisierten WiP und jüngere Oppositionsgruppen wie der neoanarchistische Ruch Społeczeństwa Alternatywnego („Bewegung für eine alternative Gesellschaft“) ab Februar 1989 im ca. 80 Kilometer entfernten Danzig regelmäßige Freitagsdemonstrationen (S. 121–126). Mit Übernahme der Regierung durch das Solidarność-Lager im Spätsommer 1989 verlagerte sich der Protest zunehmend nach Warschau, wo Aktivist:innen ein Protestcamp vor dem Gebäude des Ministerrates aufbauten (S. 133f.). Die neue Regierung unter Tadeusz Mazowiecki hielt jedoch an den Plänen für das Atomkraftwerk fest, zumal nunmehr westeuropäische Atomkonzerne Interesse an einem Einstieg in das Projekt signalisierten. Ein Dialog mit den Protestierenden blieb aus; auch die Medien berichteten kaum über das Thema (S. 129–137).
Die Aktivist:innen griffen daher zu drastischeren Mitteln. Im November 1989 begann eine mehrwöchige Blockade des Hafens von Gdynia, wo Teile des Reaktors angeliefert wurden (S. 142–147). Parallel zu den ersten freien Kommunalwahlen im Mai 1990 organisierte die Anti-Atom-Bewegung mithilfe lokaler Solidarność-Strukturen eigenmächtig ein Referendum in der Wojewodschaft Danzig, bei dem 86 Prozent der Abstimmungsteilnehmer:innen gegen den Weiterbau des Kraftwerks votierten (S. 179). Unter diesem Eindruck, aber auch vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftslage und des wegen Fabrikschließungen sinkenden Energieverbrauchs, wurde schließlich im November 1990 auch der Bau des Atomkraftwerks Żarnowiec abgebrochen (S. 183).
Szulecki, Waluszko und Borewicz zeichnen diese Erfolgsgeschichte der polnischen Anti-Atom-Bewegung detailreich und quellengesättigt nach. Auch ihr Ansatz, die Geschichte der Bewegung mit einer Revision gängiger Deutungen der politischen Transformationsgeschichte zu verknüpfen, überzeugt. Besonders gewinnbringend für Kenner:innen der Materie ist das Buch dort, wo die breite Basis an Interviews Inneneinblicke in die Proteste ermöglicht, etwa in alltägliche Schwierigkeiten bei der Hafenblockade in Gdynia.
Diesen positiven Gesamteindruck schmälern auch kleine Mankos nicht. So hätte man sich eine Übersicht und eine nähere Beschreibung der für das Projekt geführten Zeitzeug:inneninterviews gewünscht. An einigen Stellen fehlt zudem eine kritische Einordnung der zitierten Interviewpassagen. Schade ist außerdem, dass das umfangreiche Bildmaterial nur zur Illustration genutzt und nicht weiter kommentiert wird. Lobend hervorzuheben ist demgegenüber, dass auch Befürworter des Atomprogramms zu Wort kommen und ihre Perspektive nachvollziehbar wird.
Letztlich nicht ganz überzeugt die abschließende Antwort des Autorenteams auf die Frage, warum die Proteste gegen das Atomkraftwerk Żarnowiec erfolgreich waren. Szulecki et al. verwerfen die These, dass die politischen Gelegenheitsstrukturen für die Anti-Atom-Proteste im Umbruch von 1989–90 günstig gewesen seien (S. 191). Dies ist zwar plausibel, wenn man lediglich die ablehnende Position der Mazowiecki-Regierung betrachtet. Auf der Ebene des politischen Diskurses sprachen die Zeichen der Zeit aber durchaus für die Bewegung, konnte sie sich doch als legitime Meinungsäußerung einer lokalen Bevölkerung inszenieren, deren Stimme von einer arroganten, technokratischen Zentralregierung nicht gehört wurde. Die polnische Anti-Atom-Bewegung profitierte somit, wie die Autoren zutreffend resümieren, von einem anti-elitären Diskurs der Demokratisierung von unten – verknüpft mit einer generellen Skepsis gegenüber sowjetischer Technologie (S. 190–194, S. 197). Die Überzeugung, dass Umweltschutz ein wichtiges Ziel von Politik und Gesellschaft sein sollte, war demgegenüber zweitrangig. Fast schon folgerichtig verschwand die polnische Umweltbewegung nach dem Erfolg der Proteste gegen Żarnowiec für lange Jahre in der Versenkung.
Manches Argument des Buches hätte sich vielleicht durch eine breitere Einordnung des polnischen Fallbeispiels in die transnationale Geschichte der Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung schärfen lassen. Der Verdacht liegt nahe, dass das Abebben dieser Bewegung nach den großen Erfolgen der 1980er-Jahre kein polnisches Spezifikum war, sondern mit transnationalen Konjunkturen der Politisierbarkeit ökologischer Fragen zusammenhing. Der vorliegende Band bietet eine gute Grundlage, um derartige Forschungen künftig zu vertiefen.