D. Klingenberg: Materialismus und Melancholie

Cover
Titel
Materialismus und Melancholie. Vom Wohnen russischsprachiger migrantischer Mittelschichten


Autor(en)
Klingenberg, Darja
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Petersen, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), Oldenburg

„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt.“ Mit dieser Aussage beginnt Hannah Arendts bekannter, 1943 erschienener Essay We Refugees.1 Sie beschrieb in ihm die Situation deutscher Jüdinnen und Juden, die vor dem Terror des Nationalsozialismus in die USA fliehen mussten und dort verzweifelt versuchten, ihre Leben neu zu ordnen und sich nicht auf das Stigma bedürftiger Flüchtlinge reduzieren zu lassen. Darja Klingenberg, Soziologin und Kulturwissenschaftlerin, greift die Beobachtung Hannah Arendts auf und entfaltet ein ambitioniertes Forschungsdesign, bei dem es ihr um nicht weniger geht als um die Überwindung „migrationspolitische[r] Erzählkonventionen“ (S. 57) der letzten 30 Jahre und um die Entwicklung neuer Narrative. Herausgekommen ist ein fesselnd zu lesendes, mit viel Sensibilität und Empathie geschriebenes Buch, das zur Reflektion bisheriger Erklärungsmuster auffordert und substantielle Perspektiven eröffnet.

Protagonist:innen des Buches, dem die Dissertation der Autorin zugrunde liegt, sind Menschen, die aus dem postsowjetischen Raum in die Bundesrepublik emigriert sind. Darja Klingenberg hat mit insgesamt 22 Personen in 18 Wohnungen gesprochen, Tee getrunken und Käse, Blini oder Pelmeni gegessen. Ihre Interviewpartner:innen sind alle über 30 Jahre alt, leben seit mindestens fünf Jahren in größeren deutschen Städten und lassen sich nach gängigen Kategorisierungen drei größeren Gruppen zurechnen: Jüdische Kontingentflüchtlinge, russlanddeutsche Spätaussiedler:innen und Bildungsmigrant:innen. Klingenberg selbst spricht von „russischsprachigen“ beziehungsweise, zumeist synonym, von „postsowjetischen“ Migrant:innen. Sie greift damit eine Debatte über Fremd- und Selbstbeschreibungen auf, die in den letzten Jahren an Dynamik und Sichtbarkeit gewonnen hat und bei der sich klassische Kategorien wie „Russlanddeutsche“ der Herausforderung durch neue, selbst geprägte Begriffe wie „PostOst“2 gegenüber sehen. Im Bereich der Forschung hat vor allem Jannis Panagiotidis mit seiner Studie über „Postsowjetische Migration in Deutschland“3 die Perspektive geweitet, indem er alle Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen und kommen, in den Blick nahm – mit rund 3,5 Millionen (Mikrozensus 2018) die größte Zuwanderungsgruppe der Bundesrepublik. Zwischen ihren Lebenswegen und Migrationserfahrungen gibt es grundlegende Unterschiede, aber auch wichtige Gemeinsamkeiten, wie etwa die gesellschaftliche und kulturelle Sozialisation in der Sowjetunion, das Russische als (bisherige) lingua franca (häufig neben mehreren weiteren Sprachen) oder die ambivalenten Erfahrungen von Aufnahme und Ablehnung als „die Russen“ nach der Ankunft in Deutschland. Darja Klingenberg folgt mit ihrer Terminologie diesem Ansatz und plädiert zugleich dafür, die Lebenswege ihrer Gesprächspartner:innen nicht auf das Migrantische zu reduzieren. Mit Verve argumentiert sie gegen „migrationspolitische Gespenster“ (S. 78), mit denen politische und bürokratische Kategorisierungen von Menschen fortgeschrieben werden, die ihren tatsächlichen Lebensrealitäten vielfach nicht gerecht würden und sie auf ein Migrantisch-Sein reduzierten. Klingenbergs Skizze des Forschungsstandes ist dabei teilweise etwas arg zugespitzt, für ihre Argumentation wichtige Publikationen, die das Bild differenziert hätten, fehlen4 – ihr grundsätzlicher Punkt bleibt aber richtig. Sie verortet sich damit zugleich in der Diskussion um die „Migrantologie“ der Migrationsforschung5, die seit längerem geführt wird, und wendet diese erstmals auf postsowjetische Biographien an. Dies allein ist schon ein deutlicher Mehrwert ihrer Studie, liegt das östliche Europa doch bisher, von Ausnahmen abgesehen, nach wie vor im Wahrnehmungsdunkel der deutschsprachigen Migrationsforschung.6

Um über ethnische oder identitätspolitische Beschreibungen hinauszugelangen, betrachtet Klingenberg das Wohnen nach der Migration. „Wohnen“ meint hierbei nicht die Fortführung der Forschungen zu „Heimat“ und „Identität“ im Wohnraum, sondern das Fragen nach der Aneignung materieller Kulturen, nach den Veränderungen von Alltagspraktiken, Geschmack und Häuslichkeitsvorstellungen – mithin nach den Projekten eines guten Lebens und den unterschiedlichen Strategien, dies nach der Emigration zu realisieren. Hieraus erklärt sich auch das titelgebende Wortpaar „Materialismus und Melancholie“ – Klingenberg plädiert für eine (wieder) stärkere Betrachtung der materiellen Dimensionen der Lebensgestaltung, dies aber aus einer kulturwissenschaftlich und postkolonial informierten Perspektive. Manche Hoffnungen, die Menschen mit der Emigration verbanden, konnten sie, häufig gegen viele Widerstände, erfüllen; viele andere Erwartungen wurden enttäuscht. Darja Klingenberg beschreibt dies anschaulich als verbreitete Melancholie, die sie unter ihren Gesprächspartner:innen angetroffen habe.

Nicht minder interessant ist die Fokussierung der Studie auf migrantische Mittelschichten. Damit wird der Blick über die nach wie vor dominierende Verengung migrantischer Lebenswege auf prekäre und abhängige Lebensumstände hinaus geweitet. „Mittelschicht“ betrachtet Klingenberg hierbei auf mehreren Ebenen: Als Status, den die von ihr befragten Menschen aus der Sowjetunion mitbrachten und dann im bundesdeutschen Kontext zu halten bzw. wieder zu erlangen suchten. Und als ein Selbstbild, das insbesondere bei postsowjetischen Migrant:innen eine Rolle spielt(e), besaß Arbeit doch eine zentrale Bedeutung für die Positionierung in der Sowjetgesellschaft, die durch die Nicht-Anerkennung von Berufsabschlüssen in Deutschland massiv in Frage gestellt wurde.

Im Ergebnis entwirft Darja Klingenberg eine dreiteilige Typologie des Wohnens. Als prekär-postmaterialistische Wohnweisen beschreibt sie temporäre Wohnverhältnisse, in denen der zumeist sehr begrenzte Raum bewusst minimalistisch und ästhetisch ansprechend gestaltet wird. Dies geht in manchen Fällen mit einer Abgrenzung gegenüber den „Russen“ einher, die nach wie vor sowjetisch geblieben seien. Als zweiten Typ benennt sie die bürgerliche Wohnweise. Sozialer Aufstieg, Eigentum und Individualität sind hier wichtige Eckpunkte des Bestrebens, Teil einer „normalen Mittelschicht“ zu sein. Zugleich ist Distinktion auch hier Teil des Selbstverständnisses, man grenzt sich von denen ab, deren Wohnweise Klingenberg als „mit Deklassierung ringend“ beschreibt. Die etwas sperrige Formulierung ist dem Bestreben geschuldet, die agency der Menschen sichtbar zu machen; auch diejenigen Angehörigen der Mittelschicht, die von sozialem Abstieg bedroht sind, sind nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern versuchen, der Abwärtsentwicklung aktiv entgegenzuwirken.

Mit einem wachen Blick für Zwischentöne arbeitet Klingenberg die ambivalenten Positionen postsowjetischer Menschen in der bundesdeutschen Gegenwart heraus. Teil der Mittelschicht zu sein, bedeutet nicht automatisch, wirklich anerkannter Teil der bundesdeutschen Gesellschaft zu sein, des „Neuen Wir“.7 Koloniale Exotisierung und Rassifizierung von Menschen aus dem östlichen Europa haben in Deutschland eine lange Tradition und sind auch nach 1945 nicht einfach verschwunden.8 Die Position der häufig als „vorbildlich integriert“ beschriebenen, postsowjetischen Migrant:innen bleibt vor diesem Hintergrund latent prekär, das Streben nach einem guten Leben kann jederzeit zu einem Vorwurf werden („Wirtschaftsflüchtlinge“). Hier zeigen sich die Grenzen deutscher Integrationsdiskurse und der Weg, der bis zu einem mehrheitlichen Selbstverständnis als einer postmigrantischen Gesellschaft noch zu gehen ist.

Abschließend und als Anstoß für zukünftige Forschungen plädiert Darja Klingenberg für eine Soziologie des Wohnens. Sie benennt drei Untersuchungsperspektiven – die Bedeutung unterschiedlicher Maßstabsebenen des Wohnens, die leibliche Erfahrung von Raum sowie die zeitlichen Dimensionen des Wohnens – und tritt dafür ein, das Streben nach einem vermeintlich „kleinen“, guten Leben nicht als marginal abzutun, sondern es als Raumnahme und migrantischen Materialismus, als Suche nach einem „guten Leben“ ernst zu nehmen. Zugleich bleibt damit das Migrantische präsent, wie es auch im Untertitel des Buches der Fall ist. Und das ist auch gut so – es ist wohl kaum erstrebenswert, es (wieder) unsichtbar zu machen. Es wäre jedoch schon viel gewonnen, wenn migrantische Erfahrungen zukünftig stärker als situativ und fluide analysiert und Menschen nicht auf sie reduziert würden. Darja Klingenberg hat hierfür ein sehr überzeugendes Plädoyer geschrieben.

Anmerkungen:
1 Hannah Arendt, We Refugees, in: Menorah Journal 1943. Erst 1986 erschien unter dem Titel „Wir Flüchtlinge“ eine deutschsprachige Fassung.
2 x3podcast. Der erste RD+ und PostOst Podcast: https://x3podcast.de (10.02.2023).
3 Jannis Panagiotidis, Postsowjetische Migration in Deutschland, Weinheim 2020.
4 Victor Dönninghaus / Jannis Panagiotidis / Hans-Christian Petersen (Hrsg.), Jenseits der „Volksgruppe“. Neue Perspektiven auf die Russlanddeutschen zwischen Russland, Deutschland und Amerika, Berlin 2018. Aktuell laufen zudem im Rahmen des Forschungsverbundes „Ambivalenzen des Sowjetischen, 1953–2023“ Projekte zur Suche nach einem „guten Leben“ sowie zur Bedeutung von „Arbeit“ im Kontext postsowjetischer Migration: https://www.ambivalenzen.uni-goettingen.de (10.02.2023).
5 Manuela Bojadžijev / Regina Römhild, Was kommt nach dem „transnational turn“? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung, in: Labor Migration (Hrsg.), Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berlin 2014, S. 10–25, hier S. 10.
6 Als wichtige Pionierstudie mit einer vergleichbaren Stoßrichtung, die aber leider deutlich zu wenig Beachtung gefunden hat, ist zu nennen: Regina Römhild, Die Macht des Ethnischen: Grenzfall Russlanddeutsche. Perspektiven einer politischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998. Sehr instruktiv ist zudem die Untersuchung der Aushandlungen von Zugehörigkeiten im Ernährungsalltag durch Anna Flack, Zugehörigkeit und Esskultur. Alltagspraxen von remigrierten und verbliebenden Russlanddeutschen in Westsibirien, Bielefeld 2020.
7 Jan Plamper, Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt am Main 2019.
8 Jannis Panagiotidis / Hans-Christian Petersen, Rassismus gegen Weiße? Für eine Osterweiterung der deutschen Rassismusdebatte, in: Geschichte der Gegenwart, 23.02.2022, https://geschichtedergegenwart.ch/rassismus-gegen-weisse-fuer-eine-osterweiterung-der-deutschen-rassismusdebatte/ (10.02.2023).