Über Elite(n) wird viel geschrieben, in der Publizistik mehr noch als in den Sozialwissenschaften. Meist geschieht das im Ton der öffentlichen Klage, die signalisiert, dass Erwartungen nicht erfüllt werden. Dahinter verbirgt sich indessen ein grundsätzliches Einvernehmen: Die pluralistische Gesellschaft und die parlamentarische Demokratie brauchen Eliten, um Bestand zu haben. Der Trierer Historiker Morten Reitmayer wirft nun einen Blick zurück auf die Genese dieses Einverständnisses. Dabei entwickelt er Lutz Raphaels Frage nach der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“1 originell weiter zur „akteursorientierten Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee“.
Für seine Rekonstruktion entwirft Reitmayer ein anspruchsvolles begrifflich-methodisches Instrumentarium, weitgehend im Rückgriff auf Bourdieus Konzept des „literarisch-politischen Feldes“, auf dessen verschiedenen Schauplätzen sich die intellektuellen Kombattanten tummeln. Die Aufmerksamkeit gilt einerseits den sozialen Formen der Produktion von Orientierungs-, Legitimations- und Handlungswissen, andererseits den Strukturmerkmalen, Leistungspotenzialen und Relevanzbestimmungen einer regulativen politisch-sozialen Idee („Doxa“). Diese Verschränkung von sozial- und ideengeschichtlichen Perspektiven macht den Kern und die Stärke des Bandes aus. Sein Ertrag liegt nicht zuletzt darin, mit der Etablierung und Pluralisierung des Elitekonzepts zur stillschweigenden Selbstverständlichkeit zugleich eine der Bedingungen für die Akzeptanz und Stabilität der jungen Bundesrepublik herauszuarbeiten. Abgelöst wurden damit soziale Glaubenssätze wie jene vom „Führer“, von den „Massen“ oder den „Klassen“.
Reitmayer stützt sich auf zeitgenössische Kulturzeitschriften, Protokolle der Evangelischen Akademien sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen. Er spannt den Bogen von den Orientierungsdebatten der Nachkriegsjahre über die modernitäts- und nivellierungskritische Publizistik der 1950er- bis zur Aufbruchsliteratur der frühen 1960er-Jahre. Im Untersuchungszeitraum ging das literarisch-politische Feld, das zunächst von Publizisten, Geistes- und Humanwissenschaftlern bedient wurde, allmählich in die Hände der sozialwissenschaftlich informierten Publizistik über. Der Fluchtpunkt, auf den die Erzählung zuläuft, ist nicht nur die – empirisch gefestigte – Sozialwissenschaft, sondern vor allem die bedeutende Rolle Ralf Dahrendorfs, der die Elite-Doxa in den frühen 1960er-Jahren zu einer Reife und „Vollendung“ führte.
Die erste Station dieser symbolischen Revisionen (Kap. 1) bestand in der frühen Auseinandersetzung mit dem überkommenen Topos der „Massengesellschaft“, gegen den sich „Elite“ (im Singular!) vortrefflich profilieren ließ. Dabei ging es vor allem um die Ausbildung einer „Wert- und Charakterelite“. Erst allmählich löste sich das Massen-Paradigma der ersten Jahrhunderthälfte auf und machte Thesen vom „technischen Zeitalter“ (Hans Freyer) oder von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) Platz. Elite hatte hier mit demokratischer Legitimation noch nichts zu tun; im Gegenteil, die Haltungen der „Unabhängigkeit“ und „Verantwortung“ (Winfried Martini) oder der „Askese“ (Arnold Gehlen) verstanden sich als Antipoden zu den Unberechenbarkeiten demokratischer Willensbildung.
Gab sich die erste Runde des Elite-Diskurses überwiegend polemisch, schob sich vor allem mit den Arbeiten Otto Stammers ein neuer Aspekt in den Vordergrund (Kap. 2): die Funktion von Eliten (nun schon im Plural!) für die parlamentarische Demokratie. Der – zuvor gern unterstellte – Antagonismus von Elite und Demokratie wurde damit zwar widerrufen, aber Stammers Ansatz blieb noch auf Jahre randständig. Als plausibler erwiesen sich vorerst Zeitdiagnosen, die Systemlegitimationen auf indirektem Wege zu erwirtschaften suchten, nämlich mittels der Diagnose eines akuten Elitebedarfs. Was eine Elite aber zu tun hatte, wenn es sie denn gab, das trieb zunächst einmal das Unternehmerlager um (Kap. 3), welches mit der Neubestimmung des Unternehmerbildes zwischen „Betriebsführer“ und „Manager“ zu kämpfen hatte. Mit dem Perspektivwechsel von Gesinnungs- auf Handlungswissen erfolgte in gradueller Umdeutung des tradierten „Führer“-Topos die Wende zum Begriff der „Führung“. Die Aneignung der Elite-Doxa, so Reitmayers Befund, hatte in der Betriebswelt einen beträchtlichen Integrationseffekt.
Strittig blieb hingegen das Problem der Elitenauslese als konstitutives Moment der Elitenbildung (Kap. 4). Lebten die Konzepte der Wert- und Charakterelite oder des „Führers“ von Selbstermächtigungen und Epiphanien, zeigten sich auf dieser Ebene nun die Aporien der überkommenen Bestimmungen – und zugleich die Grenzen der Akademie-Gespräche, die sich bislang als exklusive Orte wertbezogener Elitenbildung verstanden hatten. Seit Mitte der 1950er-Jahre kamen allmählich pluralistische, funktionalistische und empirische Ansätze zum Tragen, was im Kern eine „Versozialwissenschaftlichung“ der Elite-Doxa bedeutete. Befördert wurde diese Verschiebung der Wissensproduktion von den Autoren der konservativen Avantgarde (wie Freyer, Gehlen und Schelsky), die gleichwohl mit Verweisen auf überinstitutionelle und vorrationale Ressourcen von Haltungen und Wertbindungen darauf bestanden, Elitenkonstitution als metawissenschaftliches Problem zu beschreiben.
Erst der um 1960 einsetzende Schub soziologischer Studien, so Reitmayer, lieferte den „Schlussstein“ für die Durchsetzung der Doxa (Kap. 5). Urs Jaeggi (1960) legte den Akzent auf eine funktionale Definition, die auf Prozessanalysen abstellte und den Machtbegriff in den Mittelpunkt rückte. Hans Peter Dreitzels inzwischen klassische Dissertationsschrift (1962) setzte an den Leerstellen Jaeggis an und konzentrierte sich auf die Kriterien, Bedingungen und Prozesse individueller Auslese und Leistung als modelltheoretische Basisannahmen. Seine „Theorie der Eliten“ verstand sich als Beitrag zur Deutung sozialer Integrationsleistungen. Wolfgang Schluchter legte in einem wirkungsstarken Aufsatz (1963) den Finger auf die unausgesprochenen Alternativen der vorgenannten Ansätze, von denen der eine dem Konflikt-, der andere dem Integrationsmodell zugesprochen hatte. Eine Vermittlungsmöglichkeit sah Schluchter darin, den Eliten die „Aufgabe“ der Sozial- und politischen Integration zuzuweisen – und riskierte damit eine neuerliche „normative Aufladung des Funktions-Begriffs“ (S. 514). Erst mit Ralf Dahrendorf, dessen Interventionen sich nicht zuletzt der Rezeption der anglo-amerikanischen Debatten verdankten, kam es zu einer erneuten und einflussreichen Verschiebung des Diskurses. Dahrendorf interessierten nicht mehr nur Stabilität und Integration, sondern die Chancen einer Liberalisierung der politischen Kultur Deutschlands und ihre Hemmnisse. Die Eliten rückten bei ihm auf zur Schlüsselgruppe und zum Symptomträger gesamtgesellschaftlicher Problemlagen. Wie Reitmayer zeigt, entstammten die Basisannahmen der Dahrendorf’schen Analyse dem „Urgrund liberalen Meinungswissens“ (S. 555): Denn die These von der „monopolistischen“ Gestalt der alten deutschen „Machtelite“ (vor 1945) sowie die damit verknüpfte Annahme, Elitenkonkurrenz belebe das politische Liberalisierungsgeschäft – alles das wurzelte in der Überzeugung, es gebe einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der „sozialen Gestalt“ und der „politischen Haltung“ einer Elite und den Liberalisierungspotenzialen einer Gesellschaft.
Der Siegeszug der Elite-Doxa mittels „Versozialwissenschaftlichung“ der Diskurse, so Reitmayers Schlussbefund, endete mit einem Unentschieden. Denn Mitte der 1960er-Jahre ließ sich die Gleichzeitigkeit eines „wertneutralen funktionalen und eines emphatisch aufgeladenen“, eines „wissenschaftlichen“ und eines „phantasmagorischen“ Elitebegriffs konstatieren (S. 560). Eine nicht geringe Ursache für Dahrendorfs Popularität scheint indessen darin gelegen zu haben, wie virtuos er diese beiden Aspekte publizistisch verknüpfte. Die Elite-Doxa war damit als „Strukturzusammenhang eines sozialen Glaubens vollendet“ – sowohl in ihrer unhinterfragten Akzeptanz wie in ihren wissenschaftlichen Zutaten. Am Ende steht bei Reitmayer, fast hört man ein Posthistoire-Motiv heraus, nur noch die Perspektive epigonaler „Anwendung“, affirmativer „Apologetik“ und ein immerhin erfreulicher Stabilitäts- und Legitimationsgewinn der Republik.
Mir scheint, dass der Autor eine wichtige Pointe verfehlt, und dass dies mit der These der „Verwissenschaftlichung“ zusammenhängt. Denn wie Hase und Igel in der Fabel geistert das Wert- und Moralitätsproblem durch den scharfsinnig nachgezeichneten und kompetent analysierten Elitendiskurs. Mehrfach hinauskomplimentiert, klopft dieses Problem umgehend wieder an die Hintertür und meldet sich mit dem bekannten „Ick bün all da!“. Diesen Vorgang nimmt Reitmayer, hier ganz einem szientistisch-empiristischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet, nur als Defizit, Inkonsequenz oder Rückfall wahr. Dabei sind die sozialen Erwartungen, die immer wieder an Eliten gerichtet werden, ebenso soziale Tatsachen wie die funktionalen Bestimmungen ihrer Tätigkeit. Ein treibendes Motiv des Elitediskurses liegt demnach nicht allein im Wechselbezug von wissenschaftlicher und publizistischer Arbeit (S. 573), von „Wissenschaft“ und „Meinungswissen“, sondern ebenso sehr in dem komplizierten Grenzphänomen von Normativität, Moralität und Sittlichkeit, zu dessen Erfassung es einer „praktischen Wissenschaft“ (Wilhelm Hennis) bedürfte.
Anmerkung:
1 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.