A. Biefang u.a. (Hrsg.): Politisches Zeremoniell im Kaiserreich

Titel
Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871-1918.


Herausgeber
Biefang, Andreas; Epkenhans, Michael; Tenfelde, Klaus
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 153
Erschienen
Düsseldorf 2008: Droste Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Vogel, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Feierliche Rituale und zeremonielle Ordnungen werden gerne als Ausdruck einer fernen, fremden Welt monarchischer Repräsentation beschrieben, die heutzutage allein noch in traditionalistischen Monarchien wie Japan oder Großbritannien gebräuchlich sei. Als Kennzeichen der modernen Öffentlichkeit gelten demgegenüber einerseits ein betont informelles, legeres Auftreten wie auch andererseits die politisch-ideologische Selbstdarstellung der modernen Wahlkämpfe. Doch kennt auch die moderne Mediendemokratie ihre Zeremonien, ja sie erscheinen gar als Ausdruck der „Würde“ der parlamentarischen Demokratie, wie Bundestagspräsident Lammert in einem Beitrag für den von Andreas Biefang, Michael Epkenhans und Klaus Tenfelde herausgegebenen Sammelband über das „politische Zeremoniell“ im Kaiserreich schreibt. Er eröffnet die Buchreihe „Parlament und Öffentlichkeit“ der vom Deutschen Bundestag getragenen „Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ und demonstriert damit die erstaunliche methodische Öffnung, welche die einst strikt politikhistorisch ausgerichtete Parlamentarismusforschung in den vergangenen Jahren erfahren hat.

Gerade das deutsche Kaiserreich, so macht der Band deutlich, bietet sich für diese Fragen als Untersuchungszeitraum an, liefert es doch durch das charakteristische Spannungsverhältnis von monarchischen und bürgerlich-parlamentarischen Tendenzen seiner repräsentativen Symbolordnung eine Vielzahl interessanter Analyseobjekte. Die Forschung hat sich daher auch seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Akzenten und methodischen Implikationen mit diesem Zeitraum befasst, von Theodor Schieders Studie zum „Kaiserreich als Nationalstaat“ über Klaus Tenfeldes wegweisenden, kultur- und sozialgeschichtliche Ansätze aufnehmenden Aufsatz über das Adventus-Zeremoniell von 1982 bis hin zur Nations- und Festforschung der 1990er- und 2000er-Jahre. In jüngerer Zeit ergaben sich Impulse einerseits aus der Frühneuzeitforschung, welche insbesondere den Zeremoniell-Begriff aufwertete und ihn als einen möglichen Leitbegriff der „Kulturgeschichte des Politischen“ anbot. Andererseits richteten die aus den Theaterwissenschaften stammenden Ansätze zur „Performanz“ den Blick der Historiker auf das Zeremoniell als symbolisch verdichtete Form einer praktischen Darstellung und Umsetzung von Machtbeziehungen. An diese heterogenen Forschungsrichtungen knüpft auch der vorliegende Band an, der einen anschaulichen Überblick über die verschiedenen Themen und Perspektiven der Forschung bietet.

Dabei gehen die Beiträge – anders als es der Titel suggerieren mag – aber nicht von einem einheitlichen Bild des „politischen Zeremoniells“ und einem klaren gemeinsamen Ansatz im Sinne der Performanz-Forschung aus, wie es die Einleitung verspricht. Vielmehr untersuchen die Autoren gleichermaßen staatliche und monarchische Zeremonien im Hofzeremoniell oder bei Parlamentseröffnungen wie auch bürgerliche Feste von Schützenvereinen oder die Maifeiern der Arbeiterbewegung. Die Einleitung verweist daher auf die schwierige Abgrenzung von Ritualen und Zeremoniellen und weitet den Blick des Buches auf jegliche Formen einer „figurativen Politik“ (Soeffner/Tänzler). Außen vor gelassen wird damit aber der wichtige Aspekt der Normierung des Rituellen, welcher die zeremonielle Ordnung charakterisiert – ein Unterscheidungskriterium, das eine vergleichsweise operative Differenzierung der beiden Sphären, des „politischen Zeremoniells“ auf der einen und der Rituale der Macht auf der anderen Seite, ermöglicht hätte. Die Folge sind recht schwankende, ja widersprüchliche Begrifflichkeiten, welche manche Autoren zu wahren Kapriolen zwingen, um die Vorgaben der Herausgeber einzuhalten. Besonders amüsant erschienen dem Rezensenten hier die Äußerungen Wolfram Pytas, der in seinem Aufsatz über den Wandel des politischen Zeremoniells nach 1918 dem Ansatz der Performanz einerseits einen „enormen heuristischen Wert“ zuweist und ihn im gleichen Atemzug andererseits als „weniger geeignet“ beschreibt, um „Handlungen mit einem dezidierten ‚symbolischen Verweisungszusammenhang’ begrifflich zu strukturieren“.

Lässt man jedoch den sicherlich zu hoch gehängten Anspruch einer vollständigen konzeptuellen Kohärenz beiseite, den tatsächlich nur wenige Sammelbände erfüllen, bietet das Buch mit seinen Aufsätzen doch einen sehr anschaulichen Überblick über die verschiedenen Forschungsthemen und Ansätze zur öffentlichen Repräsentation und den Feierlichkeiten im Kaiserreich, der hier leider nicht in seiner Gesamtheit gewürdigt werden kann. Martin Kohlrausch beispielsweise räumt in seinem exzellenten Aufsatz über „Tradition und Innovation“ im Hofzeremoniell der wilhelminischen Monarchie einmal mehr mit dem Mythos einer massiven Ausweitung der monarchischen Selbstdarstellung durch Kaiser Wilhelm II. auf: „Die vermeintliche wilhelminische Änderungswut beruht zu großen Teilen auf einer optischen Täuschung.“ Die eher Details betreffenden „Erweiterungsmaßnahmen“ unter Wilhelm II. rieben sich vielmehr an den bestehenden preußischen Traditionen, den Abgrenzungsbedürfnissen von Adel, Militär und Bundesstaaten wie auch an der bürgerlichen Hofkritik, die sich schon früh in der allgemeinen Presse äußerte.

Dennoch, dies zeigen die von Frank Bösch anschaulich präsentierten Kaisergeburtstage ebenso wie die von Alexa Geisthövel klug analysierten Begräbnisfeierlichkeiten der Hohenzollernkaiser, bildete das monarchische Zeremoniell eine wesentliche Dimension der Zurschaustellung der politischen Macht der Monarchen, die nach 1870/71 durch die entstehende parlamentarische Ordnung allerdings deutlich eingeschränkt wurde. Dennoch behielten, wie Josef Matzerath in einem etwas unausgewogenen Artikel über die „Parlamentseröffnungen im Reich und in den Bundesstaaten“ deutlich macht (der Text widmet sich ausführlich vor allem den Eröffnungszeremonien des sächsischen Landtags und lässt dabei die anderen Bundesstaaten weitgehend außer Acht), die Monarchen und die Bürokratie weiterhin die Inszenierungshoheit über die staatliche Repräsentation. Allerdings konnte sich der Reichstag im Laufe der Zeit durchaus den Rang einer wichtigen Legitimationsinstanz für das Kaisertum erobern, wie etwa die feierliche Parlamentseröffnung durch den jungen Kaiser Wilhelm II. unterstrich.

Auch das von Andreas Biefang untersuchte „demokratische Zeremoniell“ der Reichstagswahlen trug hierzu bei, selbst wenn sich eine eigene rituelle ‚Grammatik’ für diese Momente der politischen Partizipation erst über die Jahre entwickelte. Hier wie auch in den Versammlungen der politischen Parteien und Gruppierungen bildeten sich jedoch die ersten Ansätze zu einer eigenständigen Repräsentation des Parlamentarismus, denn die Parteitage der Sozialdemokraten (Walter Mühlhausen) wie auch die vom Zentrum organisierten Katholikentage (Marie-Emmanuelle Reytier) waren stets auf die Anwesenheit und die Reden der Reichstagsabgeordneten hin choreographiert. Sie betonten damit die Bedeutung der parlamentarischen Ordnung für jene „alternativen Kulturen“, die mehr und mehr das politische Leben im Kaiserreich bestimmten.

Angesichts der großen Materialfülle des Bandes kann man es nur bedauern, dass die Herausgeber nicht auf eine systematischere internationale Einbettung der vorgestellten Fallbeispiele gedrängt haben. Denn die zeremoniellen Ordnungen und politischen Feierrituale des Kaiserreichs entwickelten sich ja nicht allein in der Auseinandersetzung mit den einzelstaatlichen Traditionen der verschiedenen deutschen Bundesstaaten, sondern auch in Anlehnung an und Abgrenzung von ausländischen Feiern und Zeremonien. Deutsche wie internationale Literatur hierzu ist reichlich vorhanden, wie einzelne Autoren des Sammelbandes eindrücklich demonstrieren (zu denken ist hier zum Beispiel an die einschlägigen Studien von Helke Rausch, Laurence Cole und Daniel Unowsky oder auch von Jan Rüger 1). Nahe liegend wäre es etwa gewesen, das Ritual der kaiserlichen Hofjagden, das Katherine Lerman minutiös präsentiert, mit ähnlichen Veranstaltungen des britischen Königshauses zu vergleichen, um noch eindrücklicher die Besonderheiten des preußisch-deutschen Falles herauszuarbeiten. Ähnliches gilt auch für die Inszenierung des Kaisers als „Summus Episcopus“ des preußischen Protestantismus (Aufsatz von Claudia Lepp) – ebenfalls ein Element der monarchischen Repräsentation, das sich in ähnlicher Form auch in anderen Ländern wie in Schweden oder im katholischen Österreich-Ungarn findet. Tatsächlich gewinnen auch die schwierigen Entstehungsprozesse des deutschen Wahlzeremoniells an Anschaulichkeit, wenn man – wie Biefang es an manchen Stellen tut – die parallelen Entwicklungen in Frankreich in den Blick nimmt.

Wie lohnend ein derartiger, auch in den Einzelheiten international vergleichender Blick für die Bewertung der zeremoniellen Repräsentation des Kaiserreiches gewesen wäre, macht am Ende der Artikel von Christoph Cornelißen deutlich, dem die Herausgeber nichts weniger als einen umfassenden „europäischen Vergleich“ des politischen Zeremoniells aufgetragen haben. Denn tatsächlich kann Cornelißen am Ende nur auf die Notwendigkeit weiterer empirisch vergleichender Studien verweisen, um die wirklichen Besonderheiten des „politischen Zeremoniells“ im Kaiserreich von den allgemeineren Trends zu scheiden, die Eric Hobsbawm und andere mit einer immer größeren Ausweitung der staatlich-monarchischen Repräsentation und von massenwirksamen Politikinszenierungen in den Jahrzehnten des „Age of Empire“ umschrieben haben. „Man muss das Phänomen nicht notwendig einen Sonderweg nennen, aber irgendwie benennen muss man die Unterschiede schon“ ist daher auch das nahe liegende Fazit von Cornelißens breit angelegter Reflexion. Der Sammelband ist auf diesem Weg einen guten Schritt vorangegangen – schade nur, dass dieser Schritt nicht noch größer war.

Anmerkung:
1 Helke Rausch, Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848-1914, München 2006; Laurence Cole / Daniel Unowsky (Hrsg.), Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, New York 2007; Jan Rüger, Great Naval Game. Britain and Germany in the Age of Empire, Cambridge 2007.