Der Wiederaufbau kriegszerstörter Baudenkmäler und städtebaulicher Ensembles nach historischen Vorbildern in Polen nach 1945 begründete den Ruhm der „polnischen Schule der Denkmalpflege“. Restauratoren wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren zum „Exportschlager“ der Volksrepublik. 1980 wurde die Altstadt von Warschau aufgrund der einzigartigen Umstände und der Dimension ihres Wiederaufbaus in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen.1 So liegt es auch für die Befürworter einer Wiederherstellung des Berliner Stadtschlosses nahe, sich auf polnische Erfahrungen zu berufen.
Allerdings sind außerhalb Polens die Kenntnisse über die Hintergründe, theoretischen Diskussionen und praktischen Umsetzungen der in den einzelnen Städten unterschiedlich verlaufenden Wiederaufbauprozesse eher oberflächlich, auch wenn beispielsweise einige deutschsprachige Beiträge zum Thema greifbar wären.2 Jacek Friedrichs im Jahr 2000 als Dissertation vorgelegte Studie über den Wiederaufbau des historischen Zentrums von Danzig/Gdańsk zeichnet sich selbst innerhalb der polnischsprachigen Forschungsliteratur durch die Fülle der ausgewerteten Quellen – darunter auch Zeitzeugengespräche – aus. Seine detailreiche Darstellung eröffnet nun in deutscher Übersetzung einen profunden Einblick in die zeitgenössischen Debatten und Entscheidungsfindungen.
Die Konzepte des Wiederaufbaus wurden in Polen (ebenso wie in Deutschland) kontrovers diskutiert. Es gab zahlreiche Stimmen, die eine moderne Neugestaltung der zerstörten Städte ohne Reminiszenzen an die historische Bebauung forderten, nicht zuletzt um den Aufbruch in eine neue, sozialistische Zukunft zu manifestieren. Als stärkeres Argument erwies sich jedoch der nationale Behauptungswille: Die versuchte Auslöschung der polnischen Kultur durch die deutschen Besatzer sollte durch die Rekonstruktion bedeutender Kulturdenkmäler rückgängig gemacht werden. Dieses Ziel, so der 1945–1957 amtierende polnische Generalkonservator Jan Zachwatowicz, rechtfertigte die „tragische Ausnahme“ der Rekonstruktion3, obgleich in der Denkmalpflege seit Alois Riegl und Georg Dehio das Ethos des Originals galt. Das Wissen um die integrative Kraft der Denkmäler bewog auch die kommunistischen Machthaber, in vielen Fällen für einen rekonstruierenden Wiederaufbau zu votieren.
Ausgangs- und Kernpunkt der polnischen Debatten war die zerstörte Hauptstadt Warschau, allein wegen ihrer Bedeutung für die nationale Identität; ähnliches galt auch für Posen/Poznań, die „Wiege“ des polnischen Staates. In den deutsch geprägten Städten der sogenannten Wiedergewonnenen Nord- und Westgebiete mussten die Bezüge zur polnischen Nationalkultur hingegen erst herausgestellt und im Bewusstsein der neuen Bewohner – Zugezogene aus unterschiedlichen Regionen Polens, insbesondere Zwangsumsiedler aus den an die UdSSR gefallenen polnischen Ostgebieten („Kresy“) − verankert werden.
Dieser mentalen „Aneignung des Ortes“ widmet sich das erste Kapitel von Friedrichs Studie. Im Falle Danzigs fiel sie nicht nur aufgrund der historischen Bedeutung der Stadt als Hafen der Rzeczypospolita vom 16. bis zum 18. Jahrhundert deutlich leichter als in Breslau/Wrocław oder Stettin/Szczecin. Eine wesentliche Rolle spielten dabei diejenigen Protagonisten des öffentlichen Lebens nach 1945, die sich bereits in der Zwischenkriegszeit für das polnische Kulturleben in der unter Aufsicht des Völkerbundes stehenden Freien Stadt Danzig engagiert hatten, allen voran die Historiker Jan Kilarski und Marian Pelczar. Im zweiten Kapitel, das die „Diskussion über den Wiederaufbau“ dokumentiert, erweist sich Kilarski als Verfechter einer Rekonstruktion des historischen Stadtzentrums. Bereits 1947 popularisierte er in einem Stadtführer die Grundzüge der späteren Maßnahmen, doch erst die Zustimmung des Generalkonservators Zachwatowicz und die Einsetzung einer Planungskommission im Frühjahr 1948 besiegelten die Entscheidung für den rekonstruierenden Wiederaufbau der historischen Rechtstadt mit Rathaus, Artushof und Marienkirche, mit dem „Königsweg“ entlang der Langgasse und des Langen Marktes samt deren Parallelstraßen. In den übrigen innerstädtischen Quartieren sollten lediglich bedeutende Baudenkmäler wiederaufgebaut werden, die Neubauten jedoch der alten Parzellierung und den ursprünglichen Proportionen folgen. Gründerzeitliche Veränderungen im Stadtbild wurden unter dem Schlagwort der „Entpreußung“ eliminiert. Die Bebauungsdichte wurde deutlich reduziert; anstelle der engen Hofbebauungen der Vorkriegszeit sollten begrünte Wohnhöfe entstehen.
Die Korrektur der eklektizistischen Architektur des späten 19. Jahrhunderts hatte ebenso wie die Entkernung und Durchgrünung der dicht bebauten Altstädte zur Verbesserung der Wohn- und Hygienesituation bereits seit den 1920er-Jahren international zum Programm von Stadtplanern und Denkmalpflegern gehört. Gerade in Danzig wurden derartige Maßnahmen in den 1930er-Jahren intensiv debattiert und realisiert.4 Den schon vor dem Krieg in Danzig aktiven polnischen Kulturschaffenden wie Kilarski waren diese Planungen mit Sicherheit bekannt, vermutlich sorgten sie auch für deren Tradierung an die polnischen Planer nach 1945 – es scheint kein Zufall zu sein, dass die vehementesten Befürworter der Wiederherstellung eines historischen Stadtbildes sowohl vor als auch nach 1945 aus dem Umfeld der Technischen Universität Danzig bzw. Politechnika Gdańska kamen. Daher wäre es aufschlussreich gewesen, die teilweise frappierend ähnlichen Entwürfe der deutschen und der polnischen Architekten zu vergleichen sowie den biographischen Hintergründen maßgeblicher Protagonisten des Wiederaufbaus insgesamt mehr Beachtung zu schenken.
Ein wesentlicher Faktor des Danziger Wiederaufbaus war die Funktionsbestimmung der neuerrichteten Häuser als Arbeiterwohnungen, die das staatliche Engagement auch im Sinne der neuen Ideologie untermauerte. Die Ausführung übernahm das Arbeitersiedlungskombinat (Zakład Osiedli Robotniczych). Anhand des ersten Bauabschnitts an der Hundegasse (ul. Ogarna) verdeutlicht Jacek Friedrich die aus diesen Prämissen resultierenden Probleme wie Monotonie und Kulissenhaftigkeit, da das Innenleben der Häuser den Standards des Arbeiterwohnungsbaus und nicht den Vorgaben der Fassadeneinteilung folgte. Auch die „größte Niederlage beim Wiederaufbau“, die Vernachlässigung und der daraus resultierende Einsturz der vom Krieg verschonten historischen Häuserreihe an der Häkergasse (ul. Straganiarska) führt Friedrich auf die spezifische Organisationsstruktur des Arbeitersiedlungsbaus zurück.
Der größte Aufwand galt der Wiederherstellung des „Königswegs“, doch auch hier kann Friedrich zeigen, dass bei der Fassadengestaltung kaum historische Vorlagen genutzt wurden: Neben kreativen Neuschöpfungen spielten ahistorische Anleihen bei der italienischen Renaissance eine größere Rolle als die tatsächlichen niederländischen Vorbilder des 17. Jahrhunderts. Auch die zeitgenössische Architektur des Sozialistischen Realismus forderte ihren Tribut: Wettbewerbsentwürfe für das Gelände am Ausgang des „Königswegs“, jenseits der Motlau, entwickelten ein Forum mit einem Kulturpalast sowjetischer Prägung wie er zeitgleich in Warschau entstand. Zur Realisierung kam es nicht, doch erhielt beispielsweise das Postamt an der Langgasse innerhalb der traditionellen Silhouette des Danziger Bürgerhauses eine sozrealistische Gestaltung.
Den fortdauernden Konflikt zwischen „historischen“ und „kreativen“ Konzepten spiegelt auch das Kapitel über die Planungen der Breitgasse (ul. Szeroka). Während die Architekturhistoriker Rekonstruktionen nach historischen Vorbildern einforderten, strebten die Architekten nach mehr planerischen Freiheiten – diese hatten allerdings in der Doktrin des Sozialistischen Realismus ihre Grenzen. Als sich seit Mitte der 1950er-Jahre die Architekturmoderne wieder entfalten konnte, lief auch die Zeit des historisierenden Wiederaufbaus ab. Bereits begonnene Maßnahmen wurden zwar bis Anfang der 1960er-Jahre fortgeführt, doch der lange geplante Wiederaufbau des klassizistischen Theaters neben dem Hohen Tor und dem Arsenal geriet schließlich zu einem „Triumph der Moderne“ aus Glas und Beton (1956–67, Architekt Lech Kadłubowski).
Zusammenfassend charakterisiert Jacek Friedrich die wiederaufgebaute Danziger Rechtstadt als „Hybrid“ zwischen Historie und Moderne, zwischen mittelalterlicher Stadtstruktur und moderner Stadtplanung. Um sowohl Spezifika als auch übergreifende Phänomene der Danziger Planungen noch deutlicher herauszuarbeiten, hätte sich ein Vergleich mit den beiden anderen großen polnischen Wiederaufbauprojekten Warschau und Breslau angeboten. Doch auch ohne diesen komparatistischen Ansatz bietet der vorliegende Band vielschichtige Einblicke in die polnischen Wiederaufbaudiskurse zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren. Dabei führt Friedrichs profunde Untersuchung eindrücklich vor Augen, wie sehr sich das neue Gdańsk vom Danzig der Vorkriegszeit unterscheidet, obgleich es doch auf den ersten Blick als Rekonstruktion nach historischem Vorbild erscheint.
Anmerkungen:
1 Vgl. die Kurzbegründung der Eintragung auf der Homepage der UNESCO <http://whc.unesco.org/en/list/30> (25.01.2012).
2 Zu nennen wären u.a.: Konstanty Kalinowski, Der Wiederaufbau der historischen Stadtzentren in Polen. Theoretische Voraussetzungen und Realisationen am Beispiel Danzigs, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 2 (1989), S. 102–111; Andrzej Tomaszewski, Zwischen Denkmalpflege und Ideologie − Konzepte in Polen 1945–1989, in: Beate Störtkuhl (Hrsg.), Hansestadt − Residenzort − Industriestandort. Beiträge der 7. Tagung deutscher und polnischer Kunsthistoriker. München 2002, S. 299–311.
3 Jan Zachwatowicz, Program i zasady konserwacji zabytków [Programm und Grundsätze der Denkmalpflege], in: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury Nr. 1/2 (1946), S. 48−52.
4 Dazu Birte Pusback, Stadt als Heimat. Die Danziger Denkmalpflege zwischen 1933 und 1939, Köln 2006.