C. Schreiber: Natürlich künstliche Befruchtung?

Titel
Natürlich künstliche Befruchtung?. Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950


Autor(en)
Schreiber, Christine
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 178
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Horwitz, Berlin

Der Titel der Arbeit von Christine Schreiber über eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation (künstliche Befruchtung, kurz IVF) deutet es bereits an: Statt der wird eine Geschichte der Heraufkunft des Verfahrens erzählt, das schließlich die Geburt von Louise Brown, dem am 26. Juli 1978 per Kaiserschnitt zur Welt gekommenen ersten Retortenbaby der Welt, möglich machte. Insofern scheint es plausibel, Schreiber zu unterstellen, es gehe ihr nicht zuletzt um eine Dekonstruktion bisheriger Rekonstruktionsversuche. Wie aber lässt sich rekonstruktiv von der Erzählung abweichen? Und welche Methoden stehen dafür zur Verfügung? Erstens formuliert Schreiber ihre Dekonstruktion als Kritik biowissenschaftlich-objektivistischen Selbstverständnisses. Dem stellt sie Erkenntnisproduktion als sozialen, ergebnisoffenen Prozess entgegen, der keineswegs folgerichtig auf das heutige IVF-Verfahren zuläuft. Auf diese Weise will sie vermeiden, eine strategische Metaerzählung in legitimatorischer Absicht zu produzieren. Vor diesem Hintergrund bezieht sich ihre Rekonstruktion zweitens darauf, frühe Arbeiten zur extrakorporalen Befruchtung in Bezug auf ihre Anschlussfähigkeit hin zu beobachten, um sodann die Bedingungen auszumachen, die schließlich den Weg für das Verfahren IVF frei machten. Drittens stützt sie sich methodisch auf Konzepte vor allem der neueren Wissenschaftssoziologie, die es ihr erlauben, die angedeutete Perspektive umzusetzen.

Schreiber nähert sich einer Rekonstruktion der Entstehung der IVF anhand von zwei Fallstudien, deren erste sich mit frühen Versuchen zur extrakorporalen Befruchtung von Kanincheneizellen im 19. Jahrhundert beschäftigt. Schreiber kann zeigen, dass die Versuche von Samuel Leopold Schenk, die gewöhnlich als Pionierversuche der IVF dargestellt werden, nicht etwa wegen ihrer Nähe zur Sexualität ins Leere liefen, eine These, die von Adele Clarke und Barbara Orland vertreten wird, sondern weil sie im Rahmen der auf Beobachtung von Naturprozessen abzielenden Embryologie des 19. Jahrhunderts als anstößig galten und insofern nicht anschlussfähig waren. Die zweite Fallstudie beschäftigt sich mit Befruchtungsversuchen an Kanincheneizellen in den 1930er-Jahren, die in Cambridge an der School of Agriculture begannen, in der Physiologie von Harvard unter dem Einfluss der boomenden Hormonforschung fortgesetzt und überformt wurden und schließlich in einer Bostoner Klinik landeten, in der Versuche zur extrakorporalen Befruchtung von menschlichen Eizellen stattfanden. Hier rückte eine mögliche Anwendung zwecks Behandlung weiblicher Unfruchtbarkeit in den Horizont beteiligter Forscher und kam in den 1950er-Jahren zu einem gewissen Abschluss.

Als Aufhänger ihrer Fallbeispiele dienen Schreiber biowissenschaftliche Erklärungsansprüche: Die wenigen historischen Studien, interessanterweise gerade diejenigen von Reproduktionsmedizinern selbst verfassten, präsentieren die Geschichte der IVF und zwar als einen von Beginn an auf Behandlung weiblicher Unfruchtbarkeit abzielenden Prozess. Auch die wenigen kritischen Studien folgen mehr oder weniger dem Erzählmodus dieser Metaerzählung, selbst wenn sie das Verfahren in einen weiteren Rahmen von Technologieentwicklung einordnen, wie etwa „eugenische Verbesserung“ des Menschen oder umfassende Kontrolle weiblicher Fortpflanzungsfähigkeit. Schreibers Vorwurf besteht darin, dass solche Studien das komplexe Geflecht von Bedingungen, das zur Etablierung dieser Technologie führte, vernachlässigten. Sie würden die Kontinuität wissenschaftlicher Arbeit im Sinne einer schlichten Fortschrittsvorstellung betonen, wobei soziale Entwicklungen (zum Beispiel innerhalb von Wissenschaft sowie zwischen verschiedenen Disziplinen) unterbelichtet blieben. Historische Rekonstruktionen von Forschungslinien und -prozessen zeichnen sich nach Schreiber aber eher durch Ergebnisoffenheit, Brüche, Sackgassen, Diskontinuitäten als durch Linearität und Folgerichtigkeit aus. Entgegen der Logik einer Fortschrittsgeschichte erhebt ein so vorgetragener Versuch nur den Anspruch, eine Rekonstruktion komplexen historischen Geschehens zu sein. Aus dem Ausgangspunkt IVF wird ein Endprodukt, in dem Kontingenzen soweit reduziert sind, dass eine einheitliche Bezeichnungspraxis möglich wird, das uns geläufige Verfahren IVF: Eine Geschichte hin zu der IVF.

Dies wirft unweigerlich die Frage auf, wie man wissenschaftshistorisch Forschungsprozesse untersuchen kann, ohne auf die Unterstellung längerer Entwicklungslinien (der sich ja auch Schreiber verpflichtet fühlt) zu verzichten. Mit Bezug auf Elihu Gerson führt Schreiber den Begriff der Forschungslinie ein, von dem sie spricht, wenn verschiedene Labors auf ein einheitliches Gegenstandsverständnis, auf vergleichbare Praktiken und ähnliche theoretische Vorstellungen zugreifen. Diese Bedingungen lagen bezogen auf die Befruchtungsversuche bei Schenk nicht vor, scheint es sich bei ihm doch vielmehr um einen Außenseiter gehandelt zu haben, dessen Arbeiten in der scientific community wenig Aufmerksamkeit fanden. Erst in den 1950er-Jahren waren diese Bedingungen gegeben. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich also von Forschungen „an der IVF“ sprechen. Im Rahmen heterogener Kooperationen war der Transfer der Versuche von einem agrarwissenschaftlichen in ein physiologisches Labor und von da aus in eine Klinik abgeschlossen. Innerhalb dieser Versuche wurde zugleich die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen natürlicher und künstlicher Befruchtung nachhaltig verschoben. Seit den späten 1930er-Jahren wurde natürliche Befruchtung als bisheriges „Gegenüber“ einer künstlichen Einflussnahme ins Labor integriert. Die Technik des Embryotransfers erlaubte es, Eizellen außerhalb des Körpers zu manipulieren, sie in ein Kaninchen zu transplantieren und so den Erfolg der Manipulation zu überprüfen. Auch „in vivo“ stellte nun eine Kulturbedingung dar. Hier zeigt sich beispielhaft, dass ein Nachvollzug der Verbesserung eines „immer schon“ vorhandenen Instrumentes, genau diese Dimension einer Rekonstruktion der theoretischen und experimentellen Voraussetzungen des Verfahrens verfehlen muss.

In der theoretischen Anlage ihrer Arbeit verknüpft Schreiber die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Ludwik Flecks mit den Untersuchungen von Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner zu Experimentalsystemen und beides mit Konzepten aus dem Symbolischen Interaktionismus. Aus diesem Horizont stammen neben der Untersuchung von Adele Clarke weitere wissenschaftssoziologische Forschungen zur Reproduktionsmedizin und Biotechnologie, etwa von Joan Fujimura. Mit der Verschränkung dieser Angebote kann Schreiber zeigen, dass weder die Versuche im 19. Jahrhundert noch die in den 1930er-Jahren auf die Entwicklung der IVF zielten, die als experimentelle Möglichkeit eher beiläufig aus Versuchen hervorging, die sich um andere Fragen drehten. Der Forschungsgegenstand IVF entstand langsam und eher zufällig in einer „heterogenen Kooperation“ verschiedener Forschungslabore in den 1930er-und 1940er-Jahren, die ihre jeweilige Arbeit über „unscharfe Begriffe“ wie der „artificial insemination“ oder der „fertilization“ vermittelten, ohne dass es der Steuerung durch eine handlungsleitende Idee bedurfte. Erleichternd für die Kooperation verschiedener Labore war die Herausbildung von „standardized packages“, also von standardisierten Praktiken zur Befruchtung von Keimzellen, standardisierten Versuchsobjekten und Theorieelementen, mit denen der Transfer der Versuche von einem Labor zum nächsten ermöglicht wurde. Ein solches Theorie-Methoden-Paket zeichnete sich in den 1930er-Jahren ab und war die Voraussetzung dafür, dass das Verfahren zu einem der wichtigsten der heutigen Reproduktionsmedizin werden konnte.

Schreibers Verdienst besteht aus der hier eingenommen Perspektive vor allem darin, ein bisher in Soziologie und Geschichtswissenschaft wenig bekanntes und verwendetes Instrumentarium, das des Symbolischen Interaktionismus und verwandter Konzepte für eine wissenschaftshistorische Studie anschlussfähig zu machen und so auf deren Leistungsfähigkeit aufmerksam zu machen. Auf diese Weise unterstützt sie seine bisher vor allem von Jörg Strübing vorangetriebene Rezeption. Die Ergebnisse zeigen, dass eine an Geschichten interessierte Wissenschaftsgeschichte durchaus gut beraten ist, sich hier in Zukunft stärker zu bedienen. Schließlich sei noch darauf aufmerksam gemacht, wie schwierig es ist, eine Abkehr von der Geschichte auch semantisch durchzuhalten, hier ist Schreiber nicht immer auf der Höhe eigener Einsichten: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

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