J. Abbate u.a. (Hrsg.): Abstractions and Embodiments

Cover
Titel
Abstractions and Embodiments. New Histories of Computing and Society


Herausgeber
Abbate, Janet; Dick, Stephanie
Reihe
Studies in Computing and Culture
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 459 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Homberg, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Ergründung des Zusammenhangs von digitalem und sozialem Wandel zählt zu den drängenden Fragen unserer Gegenwart, inzwischen aber auch zu den ausgesprochen dynamischen Feldern der internationalen Historiographie des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei hat die historische Forschung in den letzten Jahren ihren Gegenstand sowohl zeitlich als auch geographisch erheblich erweitern können: vom Beginn des Hollerithmaschinenzeitalters am Ende des 19. Jahrhunderts über den Siegeszug der Elektronengehirne in den 1950er-Jahren und die Umbrüche in den Lebens- und Arbeitswelten im Zeichen von Mikrochips und Personal Computern ab den 1970er-Jahren bis hin zu den neuesten Entwicklungen mobiler, digitaler Devices und Netzwerke, der Robotik und der künstlichen Intelligenz reichen nun die Erzählungen, in deren Fokus vor allem die sozialen und kulturellen Veränderungen stehen.1 Zugleich dezentrieren neuere Arbeiten die bislang vorherrschenden US-amerikanischen und eurozentrischen Narrative, indem sie sich zusehends – etwa aus der Perspektive des globalen Südens – den verschlungenen Wegen ins digitale Zeitalter widmen.2

Der vorliegende Sammelband, welcher von Janet Abbate, einer ausgewiesenen Kennerin des Felds „Science, Technology and Society“ an der Virginia Tech, sowie Stephanie Dick, Historikerin an der School of Communication der Simon Fraser University, herausgegeben wurde, bezeugt, wie vielgestaltig die digitalgeschichtlichen Forschungsansätze und -schwerpunkte inzwischen sind. Geographisch erstrecken sich die Beiträge von den USA über West- und Osteuropa sowie die UdSSR bis nach Singapur und decken neben den bereits stark untersuchten 1950er- bis 1970er-Jahren auch neuere Entwicklungen seit den 1980er- und 1990er-Jahren ab. Überdies bezeugt der Band, dass die Untersuchung der Geschichte des digitalen Wandels ein interdisziplinäres Vorhaben geworden ist, an dem sich neben Historiker:innen auch Vertreter:innen aus Soziologie, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Anthropologie, Computer Sciences und Digital Humanities gewinnbringend beteiligen. Die Auswahl der hier versammelten Beiträge aus Amerika, Europa und Asien, die hohe Anzahl von Autorinnen, aber auch das ausgeglichene Verhältnis von „advanced“ und sogenannten „early career researchers“ verleihen zudem dem Anspruch der Herausgeberinnen Ausdruck, die Potentiale der zusehends diversen Forschung zur Digitalgeschichte sichtbar zu machen.

Im Anschluss an neuere Arbeiten3 erörtern die Beiträge des Bandes das Wechselverhältnis von technologischem und gesellschaftlichem Wandel und schreiben dazu gegen populäre, auch in der Forschung nach wie vor verbreitete lineare Entwicklungsnarrative und einen naiven Technikoptimismus an. Der Band gliedert sich dabei in zwei große Blöcke, die sich als Variation der überkommenen Dichotomie von „Geist“ und „Körper“ lesen lassen und der Publikation zugleich ihren Titel geben: „Abstractions and Embodiments“. Die binäre Heuristik von Ideen und Materialitäten wird programmatisch in der Einleitung von Abbate und Dick als Spannungsverhältnis wechselseitiger Bezüge und Bedingungslagen beschrieben: „Our goal is [...] to explore how, historically, the material conditions of computing and the abstract ideas and stories that shape its use are co-produced.“ Dabei erinnern Abbate und Dick an einen Appell der MIT-Soziologin Sherry Turkle, die bereits zur Mitte der 1980er-Jahre – im Anschluss an Claude Lévi-Strauss' berühmtes Diktum „Animals are good to think with“ – die Devise ausgegeben hatte, „mit Computer zu denken“ (S. 1f.), um die sozialen Bedingungslagen und Folgen des digitalen Wandels näher zu untersuchen: „Thinking about computers also means thinking about people, with whom computers have such intimate and myriad relations. [...] no matter where you are looking in computing [...] you can see social relations. They are encoded in algorithms, they are embodied in hardware, they are at work in legal proceedings, they operate in the creation of ‚users‘ and communities, they are everywhere.“ (S. 2; 10) Zugleich plädieren die Herausgeberinnen dafür, auch die Computergeschichtsschreibung keineswegs als lineare Verschiebung des Interesses von der Hardware zu den Nutzer:innen oder auch von den Zentren zur Peripherie zu lesen, sondern vielmehr als das Ergebnis einer gewinnbringenden Wiederkehr alter Themen, Akteure und Maschinen vor der Folie neuer Erkenntnisse und Fragen (vgl. S. 5).

In diesem Geiste versammelt der erste Block des Bandes unter dem Titel „Abstractions“ diverse Beiträge, die Ideen, Konzepte und Theorien des Einsatzes von Computertechnik und darüber das spannungsreiche Mensch-Maschine-Verhältnis im digitalen Zeitalter erörtern. Dazu gehören Einsichten in die vielgestaltigen, historisch wandelbaren Vorstellungen und Terminologien von dem, was wir unter Algorithmen, Systemen oder Programmen verstehen, von Daten(schutz) und Netzwerken, aber auch von Konzepten wie Innovation und geistigem Eigentum. Dass diese Konzepte in der Praxis zugleich Fragen von „Macht“ und „Herrschaft“ provozieren und soziale Identitäten prägen, wird von Beginn an deutlich: „The question of who has a mind and who has a body – who will be remembered for their ideas and who will be remembered for their physical labor – is always at once a historical, a technical, and a social question.“ (S. 10f.) So betonen viele Autor:innen denn auch, dass es weniger um eine strikte Trennung der beiden Sphären von „Körper“ und „Geist“ gehen könne als vielmehr um die Spannungen, Friktionen und Bezüge zwischen den Sphären.

Die Einzelbeiträge dieses ersten Blocks reichen von der spannenden Kontroverse um den berühmten „Millennium Bug“ und die sozialen, politischen und ökonomischen Risiken der digitalen Technik (Loeb), über die Auseinandersetzungen um eine (De-)Zentralisierung des Internets (Aidinoff) und die rechtlichen Fallstricke des Copyrights im Cyberspace (Con Diaz), die Rolle von Programmiersprachen, den Siegeszug der Formalen Semantik und die Paradigmen der europäischen Computer Sciences (Astarte) bis hin zu den sich wandelnden Vorstellungen von Computerbetrieb und -experten. So werden immer wieder auch die Menschen hinter den Debatten um die Konzepte sichtbar, die an Computern – ob in Industrie, Büro oder auch an den Hochschulen – arbeiten, etwa in einem bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung des Konzepts des „Help Desk“ und der Geschichte der Computer-Services in der Ära des PCs (Halvorson). Hinter der glänzenden Fassade der Hersteller verbargen sich, wie der Autor am Beispiel der USA zeigen kann, vielerorts prekäre Arbeitsbedingungen der sogenannten „Ghost Workers“. Ein anderer Beitrag, der sich der Idee des Kopierens von Programmen und des Klonens von Produkten in Zeiten des Kalten Krieges widmet, spannt den Bogen von staatlich lancierten Initiativen zum Nachbau von Hardware bis hin zu den privaten Plänen und Netzwerken einer Distribution von Programmen durch Gamer und Cracker, deren geklonte Fabrikate am Ende sogar den Eisernen Vorhang überwanden (Švelch). Dabei kommen in vielen Beiträgen durchaus bekannte Namen (J. C. R. Licklider, Stewart Brand, Grace Hopper) vor. Zugleich bereichern die Autor:innen die Geschichte des digitalen Zeitalters aber auch – wie hier – durch die (Wieder-)Entdeckung zahlreicher neuer Protagonist:innen.

Der zweite Block unter dem Titel „Embodiments“ widmet sich den sinnlichen Erlebnissen, physischen und materiellen Konsequenzen des Computereinsatzes und dazu besonders der Frage, in welcher Weise Kategorien wie Herkunft, Geschlecht oder auch sozialer Status die Möglichkeiten der Partizipation an der viel beschworenen „digitalen Gesellschaft“ zu reglementieren begannen und wie sich neue Ungleichheitsrelationen etwa in die Körper von Arbeiter:innen in der Computerindustrie oder auch von Nutzer:innen der neuen Technik einschrieben. Dabei thematisieren die Beiträge Körper(bilder) in verschiedenen Konstellationen und aus wechselnden Perspektiven – unsichtbare Körper, sexualisierte und rassistisch stereotypisierte Körper, aber auch Körper bei der Arbeit sowie alternde und behinderte Körper. Neben imaginierten Körperbildern problematisieren viele Beiträge auch die realen physischen Auswirkungen des Arbeitens am Computer ab der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag, der einen blinden Fleck der US-amerikanischen Computergeschichte ausleuchtet, indem er ausdrücklich die Bezüge zwischen digitalem Wandel und Bürgerrechtsbewegung erörtert, widmet sich dazu unter dem Titel „Inventing the Black Computer Professional“ (Gibbons) der diskursiven Inszenierung und praktischen Bedeutung schwarzer Computer-Spezialist:innen in den USA zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren. Postkoloniale Perspektiven kommen überdies in den Beiträgen zur Rolle der IT als nationaler Entwicklungstechnologie in Singapur (Chan/Stevens) und zu globalen Produktionsregimen der Elektronikindustrie vor, in denen Ungleichheiten in puncto race, class und gender im Fokus stehen (Nakamura). Daneben stehen inspirierende Mikrostudien aus geschlechterhistorischer Perspektive, etwa zur Geschichte des Programmierens und des computergestützten Arbeitens von zu Hause (Hicks), sowie kulturhistorische Arbeiten, die sich dem Konnex von (Cyber-)Punk- und Hacker-Kultur widmen (Graham). Besondere Erwähnung sei überdies einem Beitrag zur Geschichte von Menschen- und Maschinenbildern beschieden, der unter dem Imaginativ vom Computer als „Prothese“ eindrücklich die sich wandelnden Zuschreibungen und Funktionen der neuen Technik darstellen kann (Petrick).

Im Ganzen leisten die Artikel, zu denen auch zwei (gekürzte) Wiederabdrucke einschlägiger Publikationen zum Thema gehören (André Brock / Lisa Nakamura), gewichtige Beiträge zur Wissens- und Technikgeschichte des Computers, zur Geschichte der Arbeitswelten, der Politik- und Mediengeschichte, der Rechtsgeschichte, zum Feld der Körpergeschichte oder auch der disability studies. In ihrer thematischen Vielfalt, aber auch in ihrem methodisch-konzeptionellen Reichtum bezeugen sie das breite Spektrum der aktuellen Forschungen zur langen Geschichte des digitalen Zeitalters. Der Band, der ein eindrucksvolles Panorama dieser neuen Forschungsperspektiven bietet, unterstreicht so einmal mehr die Schlüsselrolle, die der Untersuchung des digitalen Wandels für das Verständnis moderner Gesellschaften in den nächsten Jahren zukommen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Martin Campbell-Kelly u.a., Computer. A History of the Information Machine, New York 2023; Thomas Haigh / Paul Ceruzzi, A New History of Modern Computing, Cambridge 2021; Lars Heide, Punched-Card Systems and the Early Information Explosion 1880–1945, Baltimore 2009; James W. Cortada, The Digital Flood. The Diffusion of Information Technology Across the U.S., Europe and Asia, New York 2012; Dick van Lente (Hrsg.), Prophets of Computing. Visions of Society Transformed by Computing, New York 2022.
2 Vgl. Thomas S. Mullaney, The Chinese Typewriter. A History, Cambridge 2017; Eden Medina, Cybernetic Revolutionaries. Technology and Politics in Allende's Chile, Cambridge 2014; Michael Homberg, Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter – eine internationale Geschichte, Göttingen 2022.
3 Zur Kritik des Technikutopismus des digitalen Zeitalters und seinen materiellen Konsequenzen vgl. Thomas S. Mullaney u.a. (Hrsg.), Your Computer is On Fire, Cambridge 2021.