Der alte und im Kern unproduktive Streit der 1980er-Jahre um das Verhältnis von Mikro- und Makrohistorie ist längst verklungen. Heute muss man jungen Historiker/innen, die die Generalstäbler-Attitüden der „Historischen Sozialwissenschaft“ allenfalls noch aus nostalgischen Erzählungen kennen, die Hintergründe und Motive dieses wissenschaftlichen Getöses erst mühsam erklären – liegt es doch auf der Hand, dass der „mikroskopische Blick“ auf das Detail auch die großformatigen historischen Entwicklungsprozesse in ein anderes, differenzierteres Licht zu rücken vermag. Es ging im Grunde nicht um Ideologien, wie Hans-Ulrich Wehler und andere argwöhnten, sondern um Maßstabsveränderungen der Untersuchungsanordnung und um den lebensweltlichen wie auch theoretischen Anschauungszugewinn, den das ethnographisch inspirierte „Schauen im Kleinen“ mit sich bringt. Sein größter Vorzug ist vermutlich die engmaschige Vernetzung sehr verschiedener Quellenarten, die neue Erkenntnismöglichkeiten geradezu generiert. Schließlich lernt man nach wie vor am meisten in der interpretativen Schulung am konkreten Detail.
Otto Ulbrichts Buch sucht eine Lanze zu brechen für die mikrohistorische Forschung, die allen polemischen Einwänden zum Trotz in den letzten Jahrzehnten wohl eine der innovativsten Strömungen in der Geschichtswissenschaft darstellte. Es beschreibt diesen Perspektivenwechsel nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern zugleich auch unmittelbar aus der eigenen Arbeitspraxis heraus. „Mikrohistorie besteht aus wenigen Grundsätzen, einem guten Maß an theoretischer Reflexion und großer Vielfalt in der Praxis“ (S. 13). Das Buch gliedert sich in drei Teile: Einer profunden Einführung in die Entwicklungsgeschichte der microstoria, die Ende der 1970er-Jahre in Italien begann (C. Ginzburg, G. Levi) und sich unter fortschrittlich gesinnten Historiker/innen in der westlichen Welt rasch ausbreitete, folgen im Hauptteil sechs Fallstudien aus der eigenen Werkstatt, die im Schlussteil resümiert und erweitert werden. Die Fallstudien stammen fast alle aus einem relativ kleinen Raum an der norddeutschen Ostseeküste, sind in der Regel um einen außergewöhnlichen Quellenfund herum organisiert und so ausgewählt, dass sie sich in die unterschiedlichsten sozialen Schichten und Milieus auffächern und gleichsam ein frühneuzeitliches Gesellschaftspanorama von innen entfalten. Auf diesem Weg setzt Ulbricht seine Leitidee einer „Mikrogeschichte als Menschengeschichte“, „die von einzelnen Menschen ausgeht, genau: von einer bestimmten Episode im Leben eines Menschen“ (S. 63), in eine bemerkenswert subtile und eigenständige Forschungspraxis um, die die geläufige historische Makroperspektive mit Verve, aber auch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf den Kopf stellt. Auf vier dieser Studien möchte ich mich deshalb im Folgenden weitgehend konzentrieren.
Da ist zunächst der Gutsvogt Clauß Paulsen, der seiner Herrschaft fünfzig Jahre lang treue Dienste als Verwalter leistete, dafür mit einer auskömmlichen Bauernstelle ausgestattet wurde und nebenbei lukrative Kreditgeschäfte betrieb. Ein vermeintlich solider sozialer Aufstieg im Rahmen der Möglichkeiten jener Mittelsmänner also, die die Nahtstelle zwischen Adelsherrschaft und bäuerlicher Arbeit besetzten. Doch als die Gutsherren nach 1600 die Bestimmungen der Gutsuntertänigkeit sukzessive verschärften, schlich sich Misstrauen in das patronale Vertrauensverhältnis ein. Paulsen befürchtete, von seinem jungen Gutsherrn in die Leibherrschaft hinabgedrückt zu werden. Nachdem zwei seiner Söhne den gutsherrlichen Repressalien zum Opfer gefallen waren, kam es zum offenen Bruch. Der getreue Vogt sah keinen anderen Ausweg mehr, als sein Lebenswerk hinter sich zu lassen und trotz seines hohen Alters mit seiner Familie in die benachbarte Stadt Eckernförde zu flüchten. Seine – von Ulbricht sorgfältig aufgeschlüsselte und um analoge Fälle ergänzte – Supplikation an den herzoglichen Landesherrn von 1620 ist ein persönlich bewegendes Dokument der „Umstrukturierungskrise“ der Gutswirtschaft am Anfang des Dreißigjährigen Kriegs.
Ein geradezu filmreifes Musterstück für das „außergewöhnliche Normale“ (E. Grendi) ist die zweite Studie über „Die verweigerte Ehe: Margaretha Dalhusen, 1637-1644“. Die 22-jährige Schleswiger Kaufmannstochter und Vollwaise wurde von ihrer Verwandtschaft und ihrem Vormund zur Eheschließung mit dem benachbarten Seidenhändler Willers gedrängt, den sie von Kindesbeinen an nicht ausstehen konnte. All ihre Bekundungen herzlicher Abneigung wurden überfahren, und da es einer ehrbaren Bürgerstochter nicht ziemte, sich den ihr vorgesetzten Autoritäten widerspenstig zu erzeigen, verlegte sie sich auf eine ambivalente Haltung von Teilzugeständnissen und erhöhtem symbolischen Widerstand. Es kam zu zahlreichen grotesk anmutenden Auftritten. Sie gipfelten schließlich im Eklat einer öffentlichen Verlobungsfeier, bei der der Bräutigam am Ende alleine am Tisch saß, während sich die Braut vor ihm auf dem Speicher versteckte und die Gäste betreten das Weite suchten. Eine durchaus übliche arrangierte Eheanbahnung eskalierte aufgrund der Uneinsichtigkeit ihrer Betreiber zum städtischen Skandal, und fortan ging es eigentlich nicht mehr um das uneinige Paar, sondern nur noch um die Ehre der betroffenen Familien. Willers klagte die Eheschließung nun vor Gericht ein – und erhielt Recht, da die profane Zeremonie des Verlöbnisses und nicht die kirchliche Heirat der rechtlich die Verbindung besiegelnde Vertragsakt war. Kein Zweifel, Margaretha Dalhusen hätte den ihr zutiefst unsympathischen Nachbarn heiraten müssen, wenn ihr nicht am Ende der Zufall beigesprungen wäre, der bekanntlich ein Schelm sein kann. Als in der Stadt ruchbar wurde, dass Willers ein uneheliches Kind mit einer anderen Frau hatte, eröffnete sich ihren Anwälten die Gelegenheit, nun ihrerseits Gegenklage wegen Ehebruchs gegen den Seidenhändler zu erheben, wohlgemerkt in einer Eheangelegenheit, die noch gar nicht vollzogen war. In dieser heiklen Situation gab Willers auf. Die Geschichte ist außergewöhnlich, weil sie den Extremfall einer erzwungenen und entgleisten Eheanbahnung schildert, und sie wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Normalität der arrangierten Ehe im städtischen Bürgertum. Sie zeigt, wie stark das Besitz- und Versorgungsdenken die Gefühlswelt überschattete und – geschlechtergeschichtlich wichtiger noch – wie schwer es einem jungen Mädchen, das keinen emotionalen Familienrückhalt besaß, gemacht wurde, in dieser mehrstufigen Prozedur auch nur seinen negativen Gefühlen Geltung zu verschaffen.
Der übernächste Fall „Die Liebe des Ehrenfried Andreß Kien, 1716-1717“ nimmt seinen Ausgang von einem seltenen Quellenfund, nämlich neun Liebesbriefen eines Flensburger Goldschmiedegesellen an die in Eckernförde wohnende junge Soldatenwitwe Metta Stephens. Nun gehörten die weitgereisten und überdurchschnittlich gebildeten Goldschmiede allerdings zur so genannten „Handwerkeraristokratie“ und waren zudem Leute von Manieren, weil die von ihnen hergestellten Luxuswaren sie an den Umgang mit der besseren Gesellschaft banden. Daher verwundert es nicht, dass sie auch das schwierige Metier des Schreibens von Liebesbriefen einigermaßen beherrschten. Der Adressatin dürften die ungewohnten Briefe zwar geschmeichelt haben, doch was hatte sie ihnen entgegenzusetzen? Antwortbriefe von ihr sind nicht überliefert, lediglich ein Brief an ihren Pastor, an den sie sich hilfesuchend wandte, als ihr die Angelegenheit über den Kopf zu wachsen drohte. Vermutlich stellten Kiens Briefe selbst aufgrund der unterschiedlichen Ausdrucksgewandtheit schon eine schiefe Ebene her, die den Ansatz des Scheiterns der imaginierten Beziehung in sich trug. Wichtiger für den Niedergang der Liebesaffäre war jedoch der Umstand, dass das Meisterpaar, bei dem Kien in Arbeit stand, die Soldatenfrau für eine Mesalliance hielt. Wie weit es sich dabei lediglich um Standesdenken handelte oder ob ein schlechter Ruf der Witwe hineinspielte, bleibt unklar. Nach dem Konflikt mit seinem Meisterpaar verlegte sich Kien auf eine fragwürdige Doppelstrategie: Während er nach außen hin so tat, als habe er die Liaison beendet, um den Ehrbegriffen des Handwerks Genüge zu leisten, setzte er die Beziehung heimlich fort. Ihr jähes Ende bleibt ein wenig im Nebel, wenngleich Ulbricht plausible Hinweise darauf gibt, dass die Geheimniskrämerei des Goldschmieds, seine ungedeckten materiellen Heiratsversprechungen und nicht zuletzt die Ungereimtheit, dass er schriftlich zu formulieren versuchte, was man sich üblicherweise nur in mündlicher Vertrautheit sagt, die – in Liebesdingen ja nicht unerfahrene – Frau an der Ernsthaftigkeit seiner Avancen zunehmend zweifeln ließen. Auf jeden Fall galten die Wanderjahre der ledigen Gesellen nicht nur der Ausbildung, sondern – von einer spröden Handwerksforschung allenfalls am Rande thematisiert – stets auch der Suche nach der richtigen Ehefrau.
Die fünfte Fallstudie „Die Welt eines Bettlers um 1775: Johann Gottfried Kestner“ schließlich stellt ein weiteres Highlight des Bandes dar. Der halbblinde Berliner Fleischhauergeselle konnte nach einem Arbeitsunfall, der seinen rechten Arm lähmte, seinen Beruf nicht mehr ausüben und stürzte, da es noch keine Invaliditätsversicherung gab, in die randständige Welt des Bettels ab. Am 19. September 1776 wurde er zusammen mit seiner Lebensgefährtin in Osnabrück wegen Betrugsbettels festgenommen. Was die gerichtlichen Verhöre und Leibesvisitationen zutage förderten, ergibt ein faszinierend dichtes Bild vom Leben und Überleben auf der Straße in der Pauperisierungsphase des späten 18. Jahrhunderts. Wir lernen nicht nur die Bettelpraktiken des „Manns mit der Pudelmütze“ kennen, der sich mit allerlei leicht zu fälschenden Papieren gegen die verstärkte Diskriminierung ortsfremder Bettler zu Wehr setzte, sondern auch seine sorgfältig kalkulierten Wanderrouten. Wir erhalten frappierende punktuelle Einblicke in die Infrastruktur der damaligen Armutsszenerie mit ihren am Rande der Legalität angesiedelten Unterschichten-Geschäften, ja sogar in die Ökonomie eines fahrenden Haushalts. Wir lernen hinzu, wie sehr einen die Fortführung der Handwerkerrituale im harten Straßenalltag stützte und wie clever die professionellen Bettler durch die Verfeinerung ihrer Arbeitsmethoden auf die obrigkeitliche Repression reagierten. Und wir erfahren eine ganze Menge über Kestners persönliche Züge, etwa seine Religiosität, die Besorgnis um seine Gesundheit oder die Liebe zu seiner Gefährtin, die zwar auf wechselseitiger Fürsorge beruhte, aber dennoch einer tieferen Zuneigung nicht entbehrte. Insgesamt ergibt sich das Bild eines Mannes, der sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln nur unwesentlich von der sesshaften Bevölkerung unterschied. Ulbricht gelingt es, ein Gesicht aus der rasch anwachsenden Menge der Armen am Ende des 18. Jahrhunderts hervorzuheben und so anschaulich zu porträtieren, dass die handelsüblichen Stereotype und Feindbilder über die Bettler verblassen. Vielleicht ist das die beste Antwort auf die Einäugigkeit der Sozialdisziplinierungsdebatte, die die obrigkeitliche Repressionspolitik gegenüber dem Bettelwesen lediglich unter umgekehrten Vorzeichen fortgeschrieben hat.
Ein Kernproblem der Mikrohistorie ist ihre Darstellungsform, für die es kein Patentrezept gibt. Die Crux besteht darin, dass man bei der Arbeit aus dem Detail heraus ständig auf mehr oder weniger unbekannte Einzelheiten stößt, an denen sich die mikrohistorische Forschung bewähren, das heißt die man mühsam erschließen, kontextualisieren und erklären muss. Exkurse über Exkurse also, die den Erzählfaden immer wieder durchtrennen und der Erzählung eine gewisse Unübersichtlichkeit verleihen. Man kann das rigoros im Dienste des Plots handhaben, die unvermeidlichen Seitenwucherungen des Texts möglichst knapp halten und weitgehend in die Fußnoten verbannen – oder man kann es offensiv austragen. Ulbricht hat sich für letzteres entschieden und damit wohl in der Situation, in der sich die Mikrogeschichte heute befindet, die richtige Wahl getroffen. Er legt seine eigenen Suchbewegungen offen, markiert die Erkenntnisgrenzen, an die er stößt, sehr genau, unterscheidet stets präzise zwischen dem, was man wissen kann und was man gerne darüber hinaus wüsste, kurz: Er schreibt an keiner Stelle seiner Texte vornehm über die erfahrenen Schwierigkeiten hinweg. Sein offener und selbstkritischer Umgang mit der mikrohistorischen Arbeitsweise zeitigt zwar im Text mitunter einige Längen, erweist sich aber am Ende als die eigentliche Stärke des Buchs. Es gelingt ihm, den nüchternen Einblick in die eigene Geschichtswerkstatt in die historische Erzählung einzubetten und so dem Leser die Wahl seiner Untersuchungsschritte nachvollziehbar zu machen. Selbst dort, wo – wie im Falle des Goldschmiedegesellen Kien – Untersuchungsaufwand und Ertrag etwas disproportioniert wirken und der Leser ein wenig enttäuscht sein mag über den abrupten Ausgang, behält er recht. So ist das nun mal in diesem Metier, dass mit der Generierung neuer Fragestellungen vieles offen bleiben muss. Damit hat man sich abzufinden, weil es einer experimentellen Forschungslogik entspricht.
Die Mikrohistorie ist kein Königsweg zur historischen Erkenntnis, aber sie wird nach wie vor dort Anwendung finden, wo dichte Quellenbestände zur intensiveren Interpretation einladen, und sie wird Bestand haben als hemdsärmelige empirisch-theoretische Korrekturinstanz gegenüber akademisch hochfliegenden Historikerideen. Betrachtet man die Entwicklung der Geschichtswissenschaft einmal grob schematisch als Dreischritt von der älteren Politik- und Verfassungsgeschichte über die politische Sozialgeschichte hin zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte, so tritt die Vorreiter- bzw. Durchlauferhitzer-Rolle der Mikrohistorie und der Alltagsgeschichte deutlicher hervor. Erst mit ihnen verabschiedeten sich Teile der Disziplin endgültig von einem politisch verengten Fachverständnis und machten die Vielfalt gesellschaftlicher Erfahrungen zu ihrem Ausgangspunkt. Die historische Mikrologie ist meines Erachtens auf gutem Weg, zu einer ebenso unverzichtbaren wie selbstverständlich gehandhabten Arbeitsweise im Arsenal historischer Praktiken zu werden. Dazu trägt Otto Ulbrichts erfrischend unprätentiöse Präsentation seiner nahe an der Ego-Dokument-Forschung angesiedelten, sie aber zugleich vielfach brechenden Version der Mikrogeschichte ein gerüttelt Maß bei. Nicht von ungefähr verlangt sie am Ende nach einer Differenzierung des Agency-Konzepts, also einer Feinanalyse der individuellen Handlungsspielräume in der Frühen Neuzeit, und nach einem stärkeren Akzent auf der Geschichte der – oft nur mühsam beherrschbaren und daher sprechenden – menschlichen Emotionen. Es ist ein engagiertes und ehrliches Lehr- und Lernbuch im besten Sinne, das aus jahrzehntelanger Erfahrungspraxis schöpft und deshalb zur Pflichtlektüre nicht nur den Anhänger/innen der Mikrohistorie, sondern vor allem auch all denen empfohlen sei, die ihr immer noch mit spitzen Fingern begegnen.