N. Sylla: Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen

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Titel
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen. Mediale Diskurse über Asyl in der Bundesrepublik 1977–1999


Autor(en)
Sylla, Nadine
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emilia Henkel, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Migration ist im Superwahljahr 2024 das bestimmende politische Thema. Selbst in Thüringen, wo der Anteil von Ausländer:innen an der Gesamtbevölkerung bundesweit einer der geringsten ist, erklärten Teilnehmer:innen einer MDR-Umfrage vor der Landtagswahl Migration zum wichtigsten Problem.1 Am häufigsten geht es dabei um Asylmigration, so etwa nach den islamistischen Angriffen in Mannheim vom Mai 2024 und in Solingen vom August 2024, als Forderungen nach Abschiebung straffälliger Asylbewerber:innen die Titelseiten füllten. Die aktuelle Konjunktur ist Teil einer langen Geschichte medialer Diskurse über Asyl in der Bundesrepublik, mit der sich die Sozialwissenschaftlerin Nadine Sylla in ihrem Buch „Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen“ auseinandersetzt. Für die Jahre 1977 bis 1999 beschreibt die Autorin das Sprechen über Asyl anhand von sieben als Fallstudien ausgewählten Diskursen, von der „Erfindung des Asylmissbrauchs“ Ende der 1970er-Jahre bis zur zunehmenden (Selbst-)Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland Ende der 1990er-Jahre.

Mit ihrem Forschungsinteresse schließt Sylla an den aus der postkolonialen Theorie abgeleiteten Ansatz der Okzidentalismuskritik an, der das Eigene, das im Prozess des Othering hervorgebracht wird, zum Analysegegenstand erhebt. Zudem stützt sich die Autorin auf die Diskurstheorie Foucaults und die Maximen einer reflexiven Migrationsforschung. Ihr primäres Ziel ist eine Beschreibung der untersuchten Diskurse, „wie [...] über Migration gesprochen wird, welche Deutungsmuster und Wissensordnungen ersichtlich werden und wie das Eigene dabei ausgehandelt wird“ (S. 17). Ergänzend nennt sie Besonderheiten des Asyldiskurses sowie Unterschiede im zeitlichen Verlauf und zwischen den beiden von ihr untersuchten Zeitungen als Erkenntnisinteressen.

Die Grundlage für Syllas Untersuchung, die sie im Rahmen ihrer Dissertation am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück durchführte, bilden 2.800 Zeitungsartikel aus der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ). Über deren zentrale Themen im zeitlichen Verlauf verschaffte sich die Autorin zunächst mithilfe einer quantitativen Struktur- und Inhaltsanalyse einen Überblick. Davon ausgehend wählte Sylla Themen als Fallstudien, die mit einer dichteren Berichterstattung einhergingen und daher eine intensivere gesellschaftliche Aushandlung vermuten ließen. Diese Artikelcluster bilden die eigentliche Quellengrundlage der Arbeit. Sie wurden von der Verfasserin ausgehend von ihrer Leitfrage kodiert und im Hinblick auf die diskursive Bedeutungsproduktion analysiert. Sylla zufolge ermöglichte dieses Vorgehen Relevanzsetzungen aus dem empirischen Material heraus und damit eine induktive Darstellung der Diskursentwicklung.

Die Analyse ist, ähnlich wie in einer geschichtswissenschaftlichen Studie, chronologisch strukturiert und gliedert den Untersuchungszeitraum in drei Abschnitte. Als Anfangspunkt wählt Sylla das Jahr 1977, das sie anschließend an Patrice G. Poutrus und Ursula Münch als Beginn einer intensiveren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Asyl und „Asylmissbrauch“ in der Bundesrepublik identifiziert. Die folgenden dreizehn Jahre bis 1990 – ihren ersten Abschnitt – charakterisiert sie als Übergang von einer großzügigen hin zu einer restriktiven Grundhaltung in Asylfragen. Den zweiten, zeitlich und textlich wesentlich kürzeren Abschnitt setzt sie zwischen 1991 und 1993, mit der Aushandlung des „Asylkompromisses“. In dieser krisenhaften Hochphase habe sich der Asyldiskurs im „Spannungsfeld zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung“ bewegt (S. 235). Im dritten Abschnitt identifiziert Sylla die Rückkehr „zu einer (neuen) Ordnung“, gekennzeichnet durch den Konsens „Wir helfen, aber nicht allen!“ (S. 335). Als Schlusspunkt ihrer Untersuchung wählt die Autorin das Jahr 1999, in dem sich mit der Debatte um die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ein neuer, dem Anderen mehr Agency zugestehender Diskurs herausgebildet habe (S. 453–458).

Den drei Abschnitten hat Sylla jeweils zwei bis drei Fallstudien zugeordnet, die in einheitlich strukturierten Kapiteln ausgeführt werden. Sie beginnen alle mit einer ereignisgeschichtlichen, hauptsächlich aus der Forschungsliteratur erarbeiteten Kontextualisierung des betreffenden Teils der Asylgeschichte, gefolgt von einer Vorstellung des Falldiskurses, die den bisherigen Forschungsstand zusammenfasst. Erst dann folgt die Analyse des gewählten Quellenmaterials, unterteilt in Konstruktionen des Eigenen und des Anderen. In dieser Form setzt sich die Autorin mit der Etablierung des Begriffes „Asylmissbrauch“ sowie mit den Debatten um die Rettung der Boat People und um das „Schlupfloch Berlin“ als frühen Diskursereignissen auseinander. Für die Hochphase der Asyldebatte analysiert sie die Diskurse um rassistische Gewalt und die Änderung des Asylgrundrechtes „als Überlebensfrage der Nation“, für die Zeit nach 1993 die mediale Auseinandersetzung mit den „Bürgerkriegsflüchtlingen“ aus Bosnien und der Gruppe der Kurd:innen. In einem Epilog beleuchtet Sylla die Diskursverschiebung Ende der 1990er-Jahre, als mit der erneuten Debatte um „Deutschland als Einwanderungsland“ das Eigene erstmals direkt statt wie zuvor nur indirekt verhandelt worden sei.

Als Ergebnis ihrer ausführlichen Analyse identifiziert Sylla fünf zentrale Deutungsmuster des Asyldiskurses: Misstrauen, Großzügigkeit, Selbstschutz, Selbstkritik und Zugehörigkeit. Die Änderung des Asylgrundrechtes habe einen markanten Wandel dieser Deutungsmuster ausgelöst und sei deshalb als diskursives Ereignis mit Zäsur-Charakter zu verstehen. Während in den Jahren vor 1993 das Deutungsmuster des Misstrauens, phasenweise ergänzt durch die Erzählung von der eigenen Großzügigkeit, in beiden analysierten Zeitungen gleichermaßen dominiert habe, habe sich nach der Grundgesetzänderung der Diskurs diversifiziert. Während in der FAZ Selbstschutz zum dominanten Deutungsmuster aufgestiegen sei, habe sich in der SZ eine selbstkritische Haltung durchgesetzt (S. 462f.). Darüber hinaus beschreibt die Autorin als Ergebnis ihrer Arbeit zwei zentrale Verhältnisse zwischen dem Eigenen und dem Anderen: Im ersten Muster erscheine das Eigene als Retter:in und das Andere als Opfer, im zweiten Diskursmuster dagegen das Eigene als Opfer und das Andere als Täter:in. Diese binäre Sicht von Geflüchteten entweder als Täter:innen oder als Opfer steht in engem Zusammenhang mit der Einteilung in „echte“ und „unechte“ Flüchtlinge, in legitime und illegitime Fluchtgründe, die den Asyldiskurs seit Ende der 1970er-Jahre durchzieht. Dies verhindere eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Rolle Deutschlands als Aufnahmeland von Fluchtmigration und verstelle den Blick für die Agency Geflüchteter (S. 474f.).

Die große Stärke des Buches ist die Breite der Untersuchung, mit der unterschiedliche Spektren der Asyldebatte umrissen werden. Geleitet von ihrem Interesse an den Konstruktionen des Eigenen und des Anderen durchschreitet Sylla ganz verschiedene Diskurszusammenhänge, die in wissenschaftlichen Debatten sonst meist getrennt voneinander diskutiert werden. So wird die Geschichte der Boat People viel häufiger im Kontext internationaler Zusammenarbeit verhandelt als im Kontext der rassistischen Gewalt Anfang der 1990er-Jahre. Über die von ihr herausgestellten Deutungsmuster gelingt es Sylla in der Schlussbetrachtung, die Fallstudien zusammenzudenken und zu zeigen, dass die Behauptung der eigenen Großzügigkeit historisch eng verknüpft ist mit dem Verweis auf angebliche Ausnutzung und der Forderung nach dem Ausschluss Asylsuchender. Gerade im Hinblick auf aktuelle Debatten, in denen paradoxerweise trotz immer aggressiverer Hetze gegen Asylmigration gleichbleibend auf Humanität verwiesen wird, leistet Sylla eine wichtige Einordnung der Zweischneidigkeit von Asyldiskursen.

Aufgrund des breiten Untersuchungsfeldes und des diskurssoziologischen Zugangs bleibt das Buch an einigen Stellen, an denen gerade aus historischer Sicht Fragen auftauchen, Antworten schuldig. Das betrifft insbesondere die Analyse zur Entwicklung der Asyldebatte im zeitlichen Verlauf, die trotz der chronologischen Anlage der Studie in sich zu wenig diskutiert wird. Zentrale Thesen wie der Zäsurcharakter der Grundgesetzänderung gehen zwischen den verschiedenen Fallstudien etwas unter. Schade ist zudem, dass aufgrund der Orientierung an Foucaults Diskurstheorie die Autor:innen und die Redaktionen, die die Diskursfragmente verfasst bzw. koordiniert haben, weitgehend ausgeklammert werden. An einigen Stellen steht dieser Zuschnitt einer tieferen Analyse entgegen, etwa im Hinblick auf das Deutungsmuster der Selbstkritik in der SZ, das im Wesentlichen auf den Journalisten Heribert Prantl zurückgeht, wie Sylla selbst anmerkt, aber nicht weiter ausführt. Wer genau spricht oder schreibt, bleibt für die Untersuchung ausgeklammert, denn die Autorin sieht Massenmedien pauschal als „hegemoniale Orte der Produktion und Distribution“ eines nicht näher bestimmten gesellschaftlichen Wissens (S. 18). Die Auswahl der beiden Zeitungen wird daher nur sehr oberflächlich begründet. Der spezifische Blick der Redakteur:innen von FAZ und SZ, die im Untersuchungszeitraum in überwältigender Mehrheit weiß, männlich, westdeutsch und ohne eigene Fluchterfahrung waren, wird universalisiert. Gezielt anders geht Maria Alexopoulou vor, die in ihre Untersuchung der Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland die Perspektiven von Migrant:innen einbezieht, erhoben zum Beispiel durch Oral-History-Interviews.2

Insgesamt ist Nadine Syllas Buch als ein wichtiger diskurssoziologischer Beitrag zur Erforschung der bundesdeutschen Asylgeschichte zu empfehlen, die von Historiker:innen bisher kaum in vergleichbarer Breite und in so gründlicher Auseinandersetzung mit (Presse-)Quellen bearbeitet wurde. Der gewählte Zugang lässt aber durchaus noch Platz für stärker geschichtswissenschaftlich akzentuierte Arbeiten.

Anmerkungen:
1 Infratest Dimap, ThüringenTREND Juni 2024, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/thueringen/laendertrend/2024/juni/ (29.09.2024, dritte Grafik).
2 Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Ditzingen 2020; jetzt auch dies., Rassistisches Wissen in der Transformation der Bundesrepublik Deutschland in eine Einwanderungsgesellschaft 1940–1990, Göttingen 2024.