D. Ziegler u.a. (Hrsg.): 1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen

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Titel
1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen.


Herausgeber
Ziegler, Dieter; Hesse, Jan-Otmar
Reihe
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 74,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Donges, Abteilung Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim

Der Versailler Vertrag hatte tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik. Bereits 1919 hatte John Maynard Keynes in seinem weit verbreiteten Werk „The Economic Consequences of the Peace“ die wirtschaftlichen Bestimmungen des Vertrags scharf kritisiert, da sie seiner Ansicht nach eine Erholung der deutschen Wirtschaft nach dem verlorenen Krieg verhinderten.1 Inzwischen herrscht Konsens darüber, dass es nach dem Ersten Weltkrieg zu keinem nachhaltigen „Rekonstruktionsaufschwung“ kam und das Wachstum der deutschen Wirtschaft im langfristigen Trend unter ihrem Potential blieb2, was nicht ausschließlich, aber zumindest teilweise auf den Versailler Vertrag zurückgeführt werden kann. Die Forschung hat sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die alliierte Reparationspolitik und die Frage der deutschen Zahlungsfähigkeit konzentriert, während die anderen Bestimmungen des Vertrags in der Wirtschaftsgeschichte bislang weniger Beachtung gefunden haben.3 In diese Lücke stößt der von Dieter Ziegler und Jan-Otmar Hesse herausgegebene Sammelband „1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen“, dessen Beiträge die direkten und indirekten Auswirkungen des Versailler Vertrags auf Unternehmen verschiedener Branchen beleuchten.

Dieter Ziegler gibt einleitend einen kurzen Überblick über die Historiographie sowie über die Inhalte des Vertrags. Während die Reparationszahlungen nur vage geregelt waren – die endgültige Höhe sollte erst im Rahmen einer Reparationskonferenz festgelegt werden –, enthielt der Versailler Vertrag eine Vielzahl von Detailregelungen wie beispielsweise genau spezifizierte Mengen an Kohle und anderen Gütern, die Deutschland an die jeweiligen Siegerstaaten abzuliefern hatte, oder die Bestimmungen zum Außenhandel, mit denen die deutsche Zollautonomie eingeschränkt wurde. Aufbauend auf diesem Überblick zeigen die Beiträge des Sammelbandes, inwieweit einzelne Branchen und Unternehmen von den jeweiligen Regelungen betroffen waren. Berücksichtigt werden der Steinkohlenbergbau (Dieter Ziegler), Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie, die in vier Beiträgen im Fokus stehen (Charles Barthel; Christian Risse und Dieter Ziegler; Christian Marx; Christian Böse), die Reichsbahn (Christopher Kopper), die Schifffahrtsindustrie (Harald Wixforth), die chemische Industrie (Werner Plumpe) sowie die elektrotechnische Industrie (Johannes Bähr). Abgerundet wird der Band durch Beiträge zur Beschlagnahme deutscher Vermögenswerte in den USA (Joachim Scholtyseck), zu Unternehmen in den (ehemaligen) deutschen Kolonien (Nina Kleinöder), zur Rolle des Reichswirtschaftsrates (Franz Hederer) sowie durch eine abschließende Betrachtung zur Frage, wie sich die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg veränderten (Jan-Ottmar Hesse).

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags ergibt sich ein gemischtes Bild. Betrachtet man zunächst die Sachreparationen, so belasteten diese einerseits die deutsche Volkswirtschaft, da sie die Güterknappheit vergrößerten und damit die Inflation anheizten, andererseits profitierten einzelne Unternehmen von der so geschaffenen Nachfrage. Dies gilt insbesondere für die Kohlelieferungen, die, wie Dieter Ziegler zeigt, zur „Kohlenot“ beitrugen. Da die Unternehmen die Kohle nicht kostenlos abliefern mussten, sondern der deutsche Staat sie aufkaufte, bescherten diese Lieferungen den Unternehmen des Steinkohlenbergbaus aber gleichzeitig eine „Sonderkonjunktur“. Ein weiteres Beispiel sind Lokomotiven und Waggons. Als Folge des Versailler Vertrags musste das Deutsche Reich einen erheblichen Teil seines Lokomotiv- und Waggonparks abtreten. Wie der Beitrag von Christopher Kopper zeigt, musste die 1920 gegründete Deutsche-Reichsbahn-Gesellschaft, in der die ehemaligen Länderbahnen aufgingen, daher zunächst in den Wiederaufbau investieren. Von diesem staatlich finanzierten Investitionsprogramm profitierten nicht nur die deutschen Lokomotiv- und Waggonbauer, sondern auch die Reichsbahn, die auf diese Weise ihren Fuhrpark modernisieren konnte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in der von Harald Wixforth untersuchten Schifffahrtsindustrie beobachten. Durch die im Versailler Vertrag vorgesehene Abgabe der deutschen Handelsschiffe waren die Reeder gezwungen, in den Wiederaufbau ihrer Flotte zu investieren. Dadurch konnten die deutschen Werften zumindest einen Teil des Nachfragerückgangs kompensieren, der durch die Rüstungsbeschränkungen und die damit verbundene Verkleinerung der Marine entstanden war. Da der Staat die Güter kaufte oder, wie im Fall der weitgehend privatwirtschaftlich organisierten Schifffahrtsindustrie, die Reeder subventionierte, belasteten die Sachreparationen den Staatshaushalt und trugen dazu bei, dass das Deutsche Reich zur Finanzierung seiner Haushaltsdefizite weiterhin auf die Diskontierung von Schatzanweisungen durch die Reichsbank angewiesen war, was inflationär wirkte.

Mit Blick auf die Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie sind vor allem die Folgen hervorzuheben, die sich aus der Abtretung von Beteiligungen an Bergwerken und Hütten in Lothringen und Luxemburg ergaben. Die dortigen Eisenerzvorkommen waren im Kaiserreich von deutschen Unternehmen erschlossen worden und bildeten nicht nur die Rohstoffbasis für die dort errichteten Hüttenwerke, sondern versorgten unter anderem auch die rheinisch-westfälische Schwerindustrie mit Erz. Nach dem Waffenstillstand waren die Stahlkonzerne gezwungen, sich von ihren Beteiligungen zu trennen. Charles Barthel beleuchtet in diesem Zusammenhang die Veräußerung der deutschen Hüttenwerke in Luxemburg. Zwar zahlte das Deutsche Reich eine Entschädigung, doch erforderte der Verlust der lothringisch-luxemburgischen Beteiligungen nicht nur eine neue Rohstoffbasis, sondern in vielen Fällen auch eine strategische Neuausrichtung, wie Christian Risse und Dieter Ziegler am Beispiel der Rombacher Hüttenwerke AG zeigen. Ein weiteres Beispiel ist die von Christian Marx untersuchte Gutehoffnungshütte (GHH), die sich nach dem Ersten Weltkrieg durch Übernahmen im Bereich des Maschinenbaus diversifizierte. Der Krupp-Konzern war im Gegensatz zu den anderen Unternehmen der Montanindustrie bereits vor dem Ersten Weltkrieg stark diversifiziert, wobei der Schwerpunkt auf der Rüstungsproduktion lag. Der Beitrag von Christian Böse zeigt, wie sich Krupp aufgrund der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrags umorientieren und die Produktion weitgehend auf zivile Güter umstellen musste.

Mehrere Beiträge beleuchten die Auswirkungen des Versailler Vertrags auf den deutschen Außenhandel. Vor dem Ersten Weltkrieg profitierten deutsche Unternehmen in der „ersten Globalisierung“ von einer noch weitgehend liberalen Weltwirtschaftsordnung. Die kriegsbedingten Verwerfungen in Verbindung mit den Bestimmungen des Vertrags erschwerten die Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft. Dies zeigen die Beiträge von Werner Plumpe über die chemische Industrie und von Johannes Bähr, der die Robert Bosch AG und den Siemens-Konzern vergleichend betrachtet. Bosch und Siemens gelang es trotz erschwerter Bedingungen, auf den großen Auslandsmärkten wieder Fuß zu fassen, auch wenn die Exportanteile in den 1920er-Jahren unter denen des Jahres 1913 blieben. Besonders schwer wog der Verlust des Auslandsvermögens in den USA. Gerade die exportorientierten Unternehmen der Chemie- und Elektroindustrie hatten dort vor dem Ersten Weltkrieg Niederlassungen gegründet, Beteiligungen erworben und eine Vielzahl von Patenten zum Schutz ihrer Produkte und Technologien angemeldet. Der Beitrag von Joachim Scholtyseck zeigt, wie dieses Vermögen in den USA verwaltet, beschlagnahmt und verwertet wurde. Dennoch spielten die USA als Auslandsmarkt in den 1920er-Jahren wieder eine wichtige Rolle. Als Beispiel sei hier die Firma Bosch genannt, die bereits 1921 wieder in den USA vertreten war, wenn auch unter erschwerten Wettbewerbsbedingungen durch den Verlust von Beteiligungen und Schutzrechten. Auch im Kolonialgeschäft tätige Unternehmen wie die Brückenbauabteilung der GHH, die Nina Kleinöder in ihrem Beitrag über Unternehmen in den deutschen Kolonien untersucht, versuchten nach dem Ersten Weltkrieg ihr Auslandsgeschäft wieder aufzubauen. Die ehemaligen deutschen Kolonien spielten dabei keine wesentliche Rolle mehr, da sich Unternehmen wie die GHH anderen Märkten wie Südamerika zuwandten. Vor dem Hintergrund der untersuchten Fallstudien, die eine rasche Reintegration deutscher Unternehmen in den Weltmarkt zeigen, ist es plausibel, dass Jan-Otmar Hesse in seinen Überlegungen zur Neuordnung der Wirtschaft nach dem Versailler Vertrag die These einer „De-Globalisierung“ nach dem Ersten Weltkrieg kritisch hinterfragt.

Die Beiträge des Sammelbandes zeigen, wie sich die einzelnen Bestimmungen des Versailler Vertrags auf einzelne Branchen und Unternehmen auswirkten, wobei es in vielen Fällen schwierig ist, diese Auswirkungen von anderen Faktoren zu isolieren. Dies gilt insbesondere für die Inflation und den Verfall des Außenwerts der Mark in der Zeit bis 1924. Zwar wirkten sich auch die Bestimmungen des Versailler Vertrags auch auf die Inflationsdynamik aus (vgl. auch die Debatten im Reichswirtschaftsrat, die Franz Hederer in seinem Beitrag nachzeichnet), doch lassen sich die Krise der Jahre 1919–23 und die Wachstumsschwäche der Jahre 1924–29 nicht allein darauf zurückführen.

Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass der von Dieter Ziegler und Jan-Otmar Hesse herausgegebene Sammelband einen hervorragenden Überblick über die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags bietet und dabei viele Aspekte beleuchtet, die – anders als die Frage nach der Höhe der Reparationen und der deutschen Zahlungsfähigkeit – in der einschlägigen Literatur bislang weniger Beachtung gefunden haben. Der Sammelband ist jedem zu empfehlen, der sich mit der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik beschäftigt.

Anmerkungen:
1 John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, London 1919.
2 Hierzu grundlegend: Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982, S. 100–124.
3 Als Beispiel für einen Aufsatz, der sich nicht mit den Reparationen beschäftigt, sondern mit den Auswirkungen der Grenzänderungen auf die Handelsströme: Nikolaus Wolf / Max-Stephan Schulze / Hans-Christian Heinemeyer, On the Economic Consequences of the Peace: Trade and Borders After Versailles, in: Journal of Economic History 71 (2011), S. 915–949.

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