Der Prozess der jüdischen Emanzipation von jahrhundertelanger Verfolgung und Benachteiligung baute auf dem universalistischen Anspruch der Aufklärung auf, dass alle Menschen gleichberechtigt seien. Antisemiten mobilisierten gegen die bürgerliche Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden und modernisierten den Antagonismus Christ vs. Jude zu Deutscher vs. Jude und schließlich zu Volk vs. Judentum.1 Doch auch Vertreter des Universalismus wendeten sich mit vermeintlich guten Absichten gegen das Judentum: sie warfen jüdischen Bürger:innen Partikularismus vor und forderten sie auf, alles Jüdische aufzugeben, um Teil des universalistischen Projekts sein zu dürfen. In dieser Interpretation von Gleichheit als Gleichförmigkeit, nicht Gleichberechtigung, manifestierte sich die Ambivalenz des Universalismus als Rückfall in Binärlogiken, wie von Robert Fine treffend beschrieben: „The most cherished ideas of universalism can function as renewed sources of dichotomous thinking.“2
Till van Rahden befasst sich seit seiner Fallstudie zum Breslauer Bürgertum mit den Ambivalenzen des Universalismus vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage, welche Rolle Vielfalt, Mannigfaltigkeit oder Pluralität in modernen Gesellschaften spielen. Sie lieferten Belege und theoretische Überlegungen für ein Verständnis der deutschen Geschichte seit 1848 als ko-konstitutives (Steven Aschheim), also jüdisches ebenso wie nicht-jüdisches, Unternehmen.
Denn Geschichtspolitik mag zwar meist auf Eindeutigkeit, Reinheit und Binärlogiken setzen (und es fragt sich, ob nationale Geschichtspolitik das per definitionem überhaupt anders kann), doch auch die deutsche Geschichte war alles andere als das. Sie war, das macht van Rahden in der Einleitung des vorliegenden Bandes klar, geprägt von vielfältigen Einflüssen, uneindeutigen Tendenzen und den Spannungen zwischen Universalem und Partikularem, Gleichheit und Differenz, Minderheit und Mehrheit, Kommunitarismus und Liberalismus, Eigenem und Fremdem, Nationalismus und Kosmopolitismus.
Der Band versammelt neue Überlegungen ebenso wie Überarbeitungen von Beiträgen aus den Jahren 1996 bis 2006. Titel und Einleitung versprechen, unter dem Begriff der „Vielheit“ Fallstudien zum Minderheiten-Konzept, zur situativen Ethnizität, zur ambivalenten Bürgerlichkeit und zu Gemeinschaftsvorstellungen des deutschen Judentums zusammenzudenken und theoretisch neu zu fassen. Van Rahden plädiert dafür, Uneindeutigkeiten und Spannungen nicht zwanghaft in starre Dichotomien oder versöhnlerische Synthesen aufzulösen, sondern auszuhalten. Es geht ihm um das Sowohl-als-Auch, oder, mit Heraklit, die „gegenstrebige Fügung“ (S. 14). Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Universalem und Partikularem: Das Besondere prägt das Verständnis des Allgemeinen und umgekehrt.
Gerade in Bezug auf das Judentum lässt sich die Einheit der Gesellschaft – unter Rückgriff auf Leibniz – nur als „Einheit in der Vielheit“ begreifen (S. 9). Die Einleitung befasst sich mit der theoriegeschichtlichen Herleitung der mit der „Vielheit“ korrespondierenden Begriffe Gleichheit, Freiheit, Universalität und Partikularität. Van Rahdens Hauptfrage an die liberale Gesellschaft ist letztlich, wie das Versprechen der allgemeinen Gleichheit mit dem Anspruch auf Verschiedenheit vermittelt werden kann.
Das Buch liefert damit einen historiografischen Beitrag zur Debatte, inwiefern „das Leben im Widerstreit“ (S. 12, unter Bezug auf Sabine Hark) und die Vielheit unverzichtbares Kennzeichen liberaler Demokratie sind. Und auch wenn er sich der Einschätzung anschließt, dass gerade mit der Durchsetzung allgemeiner Gleichheit und Freiheit sich der „Streit über religiöse und kulturelle Differenz“ (S. 13) verschärfte, verweigert sich van Rahden einem seiner Einschätzung nach zu pauschalen Pessimismus, demzufolge die Epoche seit der Aufklärung zunehmend von Vereindeutigung und Kampf gegen Ambiguität geprägt sei.
Im ersten Kapitel widmet sich das Buch dem Konzept der Minderheit. Es zeichnet die Geschichte des Begriffs nach, der lange Zeit mit fehlender Mündigkeit und intellektueller Unreife ganzer Stände oder Völker assoziiert war. Erst seit 1919, mit dem Zusammenbruch von vier Imperien und der Dominanz der Idee homogener Nationalstaaten, breitete sich das Begriffspaar Minderheit-Mehrheit aus. Es wurde zu jener heute noch wirkmächtigen ideologischen Grundlegung von Dominanzpolitik, die von der Vorstellung ausgeht, Staat und Gesellschaft wären gewissermaßen das rechtmäßige Besitztum der Mehrheit, während die Minderheiten darin als nicht vollständig dazugehörig, anders, fremd, untergeordnet und schutzbedürftig verstanden werden.
Dass ein rechtlich kodifizierter Minderheitenschutz, wie er in den Pariser Vorortverträgen festgeschrieben wurde, nicht vor Verfolgung oder der Shoah schützen konnte, wurde schnell klar: „Wer von Minderheitenrechten sprach, landete schnell beim Minderheitenproblem“ (S. 42). An seinen Fallbeispielen belegt van Rahden, dass es hier nicht um ein neutral-statistisches Mehrheitsverhältnis, „sondern um Macht“ geht (S. 43). Minderheiten sind nicht einfach gegeben, sondern ihr Status wird im Prozess der minoritization erst „durch politische Entscheidungen geschaffen“ (S. 25). Darum hält van Rahden mit Eric Wolf den Begriff Minderheit für ebenso gefährlich wie den von „Rasse“ oder von Volk (S. 44). Sinnvoller für die europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert sei es vielmehr, stattdessen das Verhältnis zwischen dem Partikularen und Universalen in den Blick zu nehmen. Denn im politischen Sinn seien „alle Bürgerinnen und Bürger Einwanderer“ mit jeweils spezifischen Eigenschaften (S. 46).
Das zweite Kapitel diskutiert den Grundgedanken des Buches am Verhältnis des deutschen Judentums zu den Ambivalenzen der bürgerlichen Gesellschaft, das geprägt war von einer komplexen Gleichzeitigkeit von Teilhabe und Ausgrenzung. So gehörte im Kaiserreich keineswegs die Mehrheit der Juden und Jüdinnen den bürgerlichen Einkommensschichten an, dennoch bildeten sie das „Rückgrat des Linksliberalismus“ (S. 55) und spielten eine bedeutende Rolle im Bürgertum der Großstädte. Sie prägten „spezifische Formen der Bürgerlichkeit“ (S. 69) wie das Wohlfahrtswesen als soziales Recht, die Politisierung der Frauen, die Emotionalität von Männern (vor der zunehmenden Bedeutung des Militärs) oder die Annäherung von „Hoch“- und Unterhaltungskultur. Geradezu als Warnung für die Gegenwart kann van Rahdens Beschreibung gelesen werden, wie anfällig sich insbesondere das Bürgertum für völkisches Denken und Antisemitismus zeigte und wie schnell das linksliberale bürgerliche Lager zerfiel.
Im dritten Kapitel wendet sich van Rahden jenen jüdischen Vorstellungen von Gemeinschaft zu, die sich in besonderer Weise als fruchtbar für die Diskussionen um das „Verhältnis zwischen nationaler Einheit und kultureller Vielheit“ (S. 87) erwiesen. Der Begriff des Stammes wurde dabei erfolgreich zum kleinsten gemeinsamen Nenner jüdischen Selbstverständnisses: Er wurde dem Bedeutungsverlust der Religion gerecht und berief sich auf gemeinsame Erfahrungsgeschichte und Herkunft. Aber er war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch zum „Schlüsselbegriff für die allgemeine Diskussion über das Verhältnis zwischen nationaler Einheit und kultureller Vielfalt“ (S. 87) geworden. Die deutsche Nation wurde verstanden als Projekt verschiedener Stämme, die alle ein „allgemeines Recht auf kulturelle und ethnische Vielheit“ beanspruchten (S. 89).
Ins Zentrum des Kapitels stellt van Rahden zu Recht den deutsch-jüdischen Philosophen und Sozialpsychologen Moritz Lazarus, einen der wichtigsten Vordenker jenes „kulturellen Pluralismus“ (S. 97), der die Spannung aus Einheit und Vielheit bewahren wollte statt sie aufzuheben. Lazarus entwickelte einen „voluntaristischen, pluralistischen und prozessualen Begriff der Nation“ (S. 75). Für ihn lag die „wahre Kultur in der Mannigfaltigkeit“ (S. 76)3 – sich zu einer liberalen Nation zu rechnen, hieß nicht, die eigene kulturelle Eigenart aufzugeben, sondern sie, eingebunden in eine universelle menschliche Moral, zu fördern.
Die beiden letzten Abschnitte widmen sich der situativen Ethnizität des Judentums im Vergleich zum Katholizismus im Kaiserreich und der Geschichte des Begriffs der Assimilation zwischen den Lesarten als Verrat, Schicksal und Chance. Leider bricht der Band danach recht unvermittelt ab und lässt die Leser:in mit dem diffusen Gefühl zurück, dass noch etwas fehlt. Seinem Anspruch, Vielheit als Grundelement liberal-demokratischer Gesellschaft im Kontext der Ambivalenzen des Universalismus konzeptionell und historisch belegt auszubuchstabieren, hätte das Buch noch besser gerecht werden können, wenn die Überlegungen aus der Einleitung in einem Schlusskapitel noch einmal zusammengebunden und weitergeführt worden wären.
Dessen ungeachtet legt Till van Rahden hier einen wichtigen konzeptionellen wie historiografischen Beitrag dazu vor, essentialistische und homogenisierende Geschichtskonstruktionen in Frage zu stellen: Gruppen wie die deutschen Juden und Jüdinnen waren nicht einfach fremd, zugewandert oder anders, sondern von Anfang an Teil eines mannigfaltigen Ganzen und gestalteten den kulturellen Pluralismus von Staat und Gesellschaft mit. Jede Negierung dieser Vielheit beschreibt keine tatsächlichen Zustände, sondern konstruiert post festum homogene Wunschbilder.
Anmerkungen:
1 Jan Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen 2016, S. 145.
2 Robert Fine, Two Faces of Universalism: Jewish Emancipation and the Jewish Question, in: Jewish Journal of Sociology 56 (2014), S. 29–47, hier S. 39.
3 Moritz Lazarus, Was heißt national? Ein Vortrag, gehalten am 2. Dezember 1879, Berlin 1880. Zu Lazarus und seinem Idealismus der Mannigfaltigkeit vgl. Mathias Berek, Moritz Lazarus. Deutsch-jüdischer Idealismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2020.