Die 150. Jahrestage des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Krieges und der Reichsgründung 1870/71 waren Anlass für zahlreiche Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen, die an diese für Deutschland, Frankreich und Europa wichtigen Ereignisse erinnerten. Trotz „Corona“ sind die Ergebnisse beachtlich. Zu den bemerkenswerten Publikationen, die im Vorfeld des Jahrestages oder als Ergebnis von teils online durchgeführten Tagungen vorgelegt wurden, gehört auch der vorliegende Sammelband. Dieser ist das Ergebnis von Veranstaltungen des Kölner Stadtmuseums und der Universität Bonn.
Die Beiträge des Bandes versuchen das bisherige „dominierende“ (S. 10) Narrativ politik- und militärgeschichtlicher Darstellungen durch „vergleichsweise wenig beachtete Dimensionen der Wissenschafts-, Kultur-, Medien-, Musik- und Kunstgeschichte“ (ebd.) zu ergänzen. Hinzu kommt ein Blick auf die Erinnerungskultur. Gleichzeitig, so die Herausgeber:innen, ist jeder „Abschnitt darauf angelegt, sowohl transnationale und regionale als auch interdisziplinäre Perspektiven zu eröffnen und sie nach Möglichkeit produktiv aufeinander zu beziehen“ (ebd.). Dieser Versuch ist, um es vorwegzusagen, geglückt.
Im Anschluss an eine fundierte Einleitung, die den Rahmen noch einmal ausleuchtet, zeichnet Ulrich Lappenküper auf der Grundlage bekannter und neuer Quellen aus deutschen und französischen Archiven souverän „Ursachen und Folgen“ des Deutsch-Französischen Krieges nach. Das „anarchische Staatensystem“, „Nationalismus und die unheilvolle Rolle von Ehre und Prestige“, die „Umkehr der preußisch-deutschen und französischen Machtverhältnisse“, das „nicht gelöste Elsass-Lothringen-Problem“, die „nach 1867 mangelnde Gipfeldiplomatie“ sowie „die vor dem Hintergrund einer ökonomischen wie soziokulturellen Selbstüberhöhung beider Nationen […] sehr beschränkt wirksamen Vermittlungsfunktionen der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Kultur“ gehören aus seiner Sicht zu den Faktoren, die erklären helfen, „wieso es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den Verwerfungen der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft‘ kommen konnte“ (S. 69f.).
Ute Planert wirft in ihrem Beitrag noch einmal einen Blick auf das schwierige Verhältnis zwischen Preußen und der deutschen Nation im 19. Jahrhundert. So zeichnet sie das Entstehen der Nationalbewegung und die Strahlkraft des Nationalismus nach, die ohne die Revolutions- und napoleonischen Kriege gar nicht zu erklären sind. Zu Recht verweist sie abschließend darauf, dass an der „Wiege des deutschen Nationalstaates“ aufgrund der Bismarckschen Politik dann allerdings „keine nationale Einigung, sondern der Ausschluss der deutschsprachigen Gebiete des Habsburgerreiches aus machtpolitischen Gründen“ gestanden habe (S. 81). Dieses Ergebnis offenbare „die Beliebigkeit des nur scheinbar natürlichen Begriffs der Nation, der sich geschmeidig den unterschiedlichen Interessen anpassen ließ“ (ebd.). Dies zu sagen bedeutet für Planert aber nicht, die alte Sonderwegsthese wiederzubeleben. Der europäische Vergleich mache, wie sie zutreffend betont, vielmehr deutlich, „dass es nicht den einen Königsweg in die Moderne gab, sondern verschiedene Entwicklungspfade mit ihren je eigenen Problemen“ (S. 82f.).
Oliver Stein setzt sich in seinem Beitrag mit „Deutsche[n] Soldaten und französische[r] Bevölkerung“ auseinander. Detailliert und quellennah beschreibt er die Ängste der Bevölkerung, Franctireurkrieg und wechselseitige Gewalt, interkulturelle Kommunikation, die weitgehend unbekannte Besatzungszeit 1871–1873 sowie das Verhältnis in der Erinnerungskultur. So stellt er – für manche Leser:innen sicherlich erstaunlich – fest, dass – ungeachtet aller Belastungen und Gräueltaten – „positive und mitunter sogar herzliche Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und französischen Einwohnern“ überwogen (S. 111). Der Deutsch-Französische Krieg, so seine These, sei „ungeachtet der Entgrenzungen im Franctireurkrieg noch kein durchgehend von Nationalhass geprägter Kampf der Völker“ gewesen (S. 111f.). Erst ab Mitte 1871 sei „konkretes Leiden durch Narrative des Heldentodes überdeckt“ worden, sei „an die Stelle zwischenmenschlicher Erfahrungen mit dem Gegner ein nationales Feindschaftsnarrativ“ getreten, „das kaum mehr Raum für eine andere Deutung“ gelassen habe (S. 112).
Diesen Befund bestätigt am Beispiel der französischen Kriegsgefangenen in Köln in Teilen auch der Beitrag von Mario Kramp über „Franzosen und Rheinländer 1870/71“. Im Rheinland scheinen die französischen Gefangenen nicht zuletzt aufgrund des gemeinsamen katholischen Glaubens „herzlicher begrüßt“ worden zu sein als im restlichen Preußen (S. 128). Manchen „Kriegseiferern“ sei eine solch gute Behandlung auch ein Dorn im Auge gewesen. Dieses Verhalten änderte an den harten Lebensbedingungen in den Lagern aber nur wenig. Allein Offiziere waren – nach damaligen Gepflogenheiten – privilegiert. Sie waren allerdings auch ein Wirtschaftsfaktor, da sie für ihre Unterkünfte in Hotels und bei Privatleuten bezahlten. Afrikanische Soldaten hingegen wurden mit Neugier beobachtet, litten aber bald an offenem Rassismus. Wie ambivalent das Verhältnis war, zeigen die Aufzeichnungen eines französischen Offiziers. So sehr dieser es genoss, sich regelmäßig mit Bürgern der Stadt zu treffen, so sehr träumte er davon, eines Tages „mit dem Degen in der Hand zurückzukehren, seine frankophilen Kölner Freunde wiederzusehen und die französische Trikolore auf dem Dom zu errichten“ (S. 136). „Möge dieses siegreiche Volk bald erkennen, dass sein neues Reich, das auf den Ruinen Frankreichs gegründet wurde, auf Sand gebaut ist“, notierte er in den letzten Tagen seiner Gefangenschaft im März 1871.
Frank Becker weist in seinem Beitrag zu Beginn des II. Abschnitts namens „Intellektuellen- und wissenschaftsgeschichtliche Dimensionen“ nach, dass der Krieg von 1870/71 auch bereits „in Rassenkategorien“ (S. 153) gedacht wurde. Dafür stehen die Schlagwörter „Germanen“ gegen „Romanen“. Die Belege, die er für die „Deutungsmuster des ethnischen Gegensatzes“ (S. 155) anführt, sind für beide Seiten erschreckend. Auch wenn Becker zu Recht darauf hinweist, dass diese Muster keineswegs den Diskurs dominiert hätten, so machte die Verwendung von „Rasse“ als Kampfbegriff doch deutlich, dass der Krieg von 1870/71 „den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts auch in dieser Hinsicht bereits näher“ gestanden habe, als vielfach angenommen würde (S. 173).
Wie groß die Gegensätze waren, zeigt auch der Beitrag von Corentin Maron. Am Beispiel führender Intellektueller – Ernest Renan, David Strauß oder Theodor Mommsen – vermag er nicht nur schlüssig die Verwendung des „Rassenbegriffs“ nachzuweisen, sondern auch die Rolle des Krieges bei der Suche nach der eigenen nationalen Identität. „Transfer- und Dialogprozesse“ (S. 191) spielten dabei eine große Rolle.
Julia Letow beschreibt am Beispiel der Bonner Medizinischen Fakultät den Einsatz der dortigen Mediziner und Studenten im Krieg. „Die Gründe und Motivation waren vielfältig und reichten von Kriegsbegeisterung, patriotischen und nationalistischen Gefühlen, Abenteuerlust, medizinischem Selbstverständnis der notwendigen Versorgung der Verwundeten, Sammeln von Erfahrungen, Verbesserung eigener chirurgischer Praxis bis hin zur allgemeinen Profilierung bzw. Verdienstmachung im Krieg“ (S. 219f.).
Im III. Abschnitt „Kriegsberichterstattung und Publizistik“ widmen sich Jürgen Herres, Paul Mellenthin und Thomas F. Schneider Karl Marx, Friedrich Engels und der „Internationalen“ sowie der Rolle von Fotografie und Malerei. Herres macht deutlich, wie diese nicht nur den Krieg beobachteten – Engels habe angeblich Ende 1870 sogar einen Feldzugsplan entworfen, der den Franzosen noch den Sieg ermöglichen sollte –, sondern auch den Jubel über den Kommune-Aufstand und die katastrophalen Fehleinschätzungen von Karl Marx. Den machtpolitischen Umbrüchen und der damit einhergehenden Verfolgung sei das Netzwerk der Internationale allerdings nicht gewachsen gewesen. So wenig Marx’ Urteile und Prognosen insgesamt falsch gewesen seien, so groß war dessen mit seiner „vehementen Ablehnung der Annexion von Elsass und Lothringen […] bedenkenswerte Weitsicht“ (S. 241). Die Dilemmata der Fotografie zeichnet Paul Mellenthin nach. Sie war „Gefangen im Augenblick“, so der überzeugende Titel seines Beitrags. Allein aufgrund der damaligen Aufnahmetechnik waren die Fotografen eher Historiker, die „immer zu spät“ kamen (S. 271), da sie das eigentliche Ereignis nicht festhalten konnten. Insofern war der Krieg noch einmal die „Stunde“ der Maler, wie Thomas F. Schneider an zahlreichen Beispielen aufzeigt. Mit ihren Gemälden und Zeichnungen, die leicht in Masse reproduziert werden konnten, prägten sie – noch – das Bild der Öffentlichkeit vom Krieg mit seinen Siegen, Niederlagen und Grausamkeiten.
Mit seinem Beitrag leitet er inhaltlich bereits zum IV. Abschnitt „Ästhetische und kulturelle Aneignungen“ über. Katja Protte beleuchtet noch einmal die Militär- und Kriegsmalerei. Sie zeigt auf, wie die Besiegten danach strebten, „mit Hilfe der Kriegsmalerei noch in der Niederlage nationale Größe zu finden, während die Sieger bei der malerischen Verewigung ihrer Erfolge kaum aus dem Blick verloren, dass mit dem militärischen Sieg der Kampf um zivilisatorische-kulturelle Dominanz keineswegs gewonnen war“ (S. 303f.). Auch wenn diese Form der Malerei um 1880 ihren Höhepunkt erreichte und allmählich an „Gewicht“ verloren habe (S. 341), bleibe aber festzuhalten, dass viele Soldaten 1914 „mit diesen Bildern glorreicher Siege oder Niederlagen im Kopf in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges“ gezogen seien, „nur um zu erfahren, ‚daß der Krieg anders war, als wir ihn uns gedacht hatten‘“, wie Goerge Soldan 1927 zutreffend festgehalten habe (ebd.).
Ralf-Olivier Schwarz zeichnet ausführlich und überzeugend das „Musikleben im Umfeld des Deutsch-Französischen Krieges“ am Beispiel Kölns nach. Philipp Hoffmann widmet sich dem Zusammenhang von Krieg und Karneval auf der einen, deutscher Nationsbildung auf der anderen Seite am Beispiel der Gründung der Blauen Funken. Deren Uniformen machten deutlich, dass das gängige Bild, „die Kölner Karnevalisten hätten die unliebsamen Preußen munter aufs Korn genommen“, so nicht zutreffe (S. 376).
Die drei Beiträge von Oliver Schulz, Tobias Hirschmüller und Eva Muster in Abschnitt V „Was bleibt? Deutsche und französische Erinnerungskultur“ widmen sich am Beispiel der Kriegerdenkmäler in Belfort, der Bismarckgeburtstage, Reichsgründungsdebatten und Sedanfeste in Köln sowie – unter den Stichworten „Nation – Demokratie – Geschichte“ – verschiedenen Aspekten der Auswirkungen von Krieg und Reichsgründung auf beide Nationen.
Sammelbände sind immer ein Wagnis, wissen die Herausgeber:innen doch selten, was bei diesen am Ende herauskommt. Dieser hier kann, wie gesagt, in jeder Hinsicht als gelungen gelten. Die Autor:innen zeigen, wie fruchtbar es sein kann, Altbekanntes gegen den Strich zu bürsten oder in die Mikrogeschichte in der Region beziehungsweise einzelner Orte „abzutauchen“. Gleiches gilt für interdisziplinäre Fragestellungen: Sie eröffnen – insbesondere, wenn sie neue Quellen erschließen – fruchtbare Perspektiven für neue Forschungen und Projekte. Mehr kann man als Leser:in nicht wollen.