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Titel
Ravenna. Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen


Autor(en)
Herrin, Judith
Erschienen
Darmstadt 2022: wbg
Anzahl Seiten
605 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Thies, Historisches Institut, Universität Bern

Im Vergleich mit den beiden großen Metropolen Rom und Konstantinopel stößt das kleine Ravenna, immerhin zunächst Hauptstadt des Weströmischen Reiches, später des Königreichs Odoakers, des Ostgotischen Reiches und des byzantinischen Exarchates von 402 bis 751, im modernen Tourismus wie auch in der historischen Wissenschaft seit jeher auf weniger Interesse. Dass Ravenna in diesem Zeitraum jedoch gleichfalls eine enorme kulturhistorische Bedeutung zukommt und dabei ein glanzvolles Erbe mit seinen Mosaiken hinterlassen hat, zeigt mit Judith Herrin die Doyenne der zeitgenössischen Byzantinistik in ihrer umfassenden Monographie über diese Stadt, die nun auch in der Übersetzung einem deutschsprachigen Publikum näher gebracht wird. In insgesamt neun Hauptkapiteln, die nach großen Schlüsselfiguren benannt sind, zeichnet sie dabei ein meisterhaftes Porträt der Stadt in chronologischer Reihenfolge vom 5. bis zum 8. Jh. nach; eine Epoche, die sie nicht als verfallende Spätantike, sondern als dynamisches „Frühchristentum“ verstanden haben will, wo mit neuen christlichen Organisationsformen experimentiert wurde. Dabei betont sie, eventuell in Abgrenzung zur kunsthistorischen Forschung, die sich häufiger auf die Zeit Galla Placidias, Theoderichs und Justinians konzentriert, dass Ravenna auf seinem Höhepunkt eine genuin byzantinische Stadt war. Herrin vertritt die Hauptthese, dass Ravenna, wie auch der Untertitel verrät, nicht nur Knotenpunkt und Hauptstadt, sondern auch ein Schmelztiegel der Kulturen war. Jedes Kapitel vermengt indes historische Ereignis- und Personengeschichte der einzelnen Schlüsselfiguren mit Abschnitten zu theologischen Veränderungen, zur Kunst und Architektur sowie zur Sozialgeschichte der Stadt, welche sie anhand der erhaltenen Papyri meisterhaft rekonstruiert.1

Nach einem kurzen Einleitungskapitel (S. 28–43) zur Geschichte Ravennas vor 402 und der Angabe der Gründe für den Weströmischen Hof, in diesem Jahr in die Adriastadt überzusiedeln, widmet sich Herrin zunächst der Zeit Galla Placidias (S. 44–93). Sie stellt das Leben und Wirken der Kaiserin und die Einrichtung des Hofstaats dar, betont aber auch das Wirken des Bischofs Ursus für die Christianisierung der Stadttopographie. Es folgt ein Kapitel über den Aufstieg der Bischöfe von 450–493 (S. 94–121), in dem sie die Bedeutung der Bischöfe als Mäzene anstelle des Kaiserhauses hervorhebt und sich den zivilen wie klerikalen Eliten der Stadt widmet. Indes hebt sie die aufkommende, friedlich-gelebte Bikonfessionalität (Katholizismus und Arianismus) sowie die Mehrsprachigkeit der Stadt (Latein, Griechisch, Gotisch) hervor. Daran knüpft entsprechend die Regierungszeit Theoderichs und seiner ostgotischen Nachfolger an (S. 122–189), wo diese Phänomene verstärkt hervortraten und Ravenna von seinen Herrschenden architektonisch zu einem Imitat Konstantinopels ausgeschmückt wurde. Es folgt die Zeit der byzantinischen Rückeroberungen und Konsolidierungen von 540–570 (S. 190–247), wo Herrin nicht nur die Bedeutung von Justinian I., Erzbischof Maximianus, dem Bankier Julius Argentarius und ihrem gemeinsamen Monument, der Kirche San Vitale, hervorhebt, sondern auch insbesondere die Integrationsmaßnahmen der Goten und ehemaligen Arianer in den Schoß der katholischen Kirche und in die neue Verwaltungs- und Bildungselite betont, als sich Ravenna zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum im lateinischen Westen für (auch griechischsprachige) Rhetorik, Medizin, Jura und Philosophie zu entwickeln begann. Diese kulturell hybriden Entwicklungen sieht Herrin auch während der Eroberung Norditaliens durch Alboins Langobarden und der Einrichtung des Exarchates von Ravenna von 568–643 (S. 248–297) fortgeführt, für die sie als Beispiel den Arzt Agnellus anführt, den sie als Mittler griechischer Medizin für den lateinischen Westen charakterisiert. Gleichzeitig betont sie die Rivalität Ravennas und seiner Herren mit dem Papst in Rom, da erstere zwar den politischen Vorrang hatte und sich stärker nach Byzanz hin orientierte, während Rom – auch durch den Monotheletismus-Streit – mit der Fremdbestimmung zu fremdeln begann und der Papst als lateinischer Patriarch noch den religiösen Vorrang besaß. Erst im Zeitalter der islamischen Expansion von 610–700 (S. 298–343) vermochte es Ravenna die religiöse Autokephalie von Rom zu erlangen, die jedoch bereits 681 wieder kassiert wurde. In der Zeit traten jedoch ebenfalls Konflikte zwischen Erzbischof und Volk stärker hervor. Ravennas Bedeutung als Knotenpunkt und Schmelztiegel zwischen Ost und West wurde jedoch deutlich durch die prominente Rolle, welche die ravennatischen Kleriker beim 6. ökumenischen Konzil spielten als auch durch eine Weltkarte, welche ein anonymer Kosmograph um 700 aus lateinischen, griechischen und gotischen Quellen erstellte. In der Zeit Justinians II. und der folgenden Jahre von 685–725 (S. 344–375) erkennt Herrin einen Bruch mit der bisherigen Tradition, in denen es zu religiösen und militärischen Auseinandersetzungen der Stadt gegen Konstantinopel und das Kaisertum kam. Dies führte zur Formierung einer neuen Sozialstruktur in 12 Stadtvierteln mit eigenen Milizen (numeri) und eines eigenen Stadtbewusstseins gegen die Byzantiner, wodurch Ravenna jedoch auch zum „Prototyp des italienischen Stadtstaates“ (S. 352) mutierte – eine anregende Interpretation. Diese Tendenzen der Abkehr vom Osten und der inneren Konflikte setzten sich auch im allmählichen Abstieg der Stadt von 700 bis 769 fort (S. 376–415), als die Ermordung des Exarchen Paulus 726, Erdbeben, der Bilderstreit sowie die Eroberung durch die Langobarden 751 Ravennas glanzvolle Epoche beendeten. Zuletzt schildert Herrin noch das symbolische und marmorne Kapital, dass Ravenna für Karl den Großen hatte (S. 416–468) und fasst noch einmal die ihr wichtigen Punkte des Charakters der Stadt zusammen.

Insgesamt hat Herrin mit ihrer Monographie eine exzeptionelle Darstellung der Stadt geschrieben, die sicherlich auf viele Jahre hinaus sowohl dem wissenschaftlichen wie auch dem interessierten populärwissenschaftlichen Publikum ein unverzichtbarer Zugang zu Ravenna bieten wird. Drei marginale Kritikpunkte seien hier nichtsdestotrotz angeführt: Eine der großen Stärken des Buches, die breite Kontextualisierung in das jeweilige Zeitgeschehen, kann auch bisweilen ermüdend wirken, da beispielsweise Theoderichs Außenpolitik zu den übrigen Germanenreichen so gut wie nichts mit der unmittelbaren Stadtgeschichte Ravennas zu tun hat. Manchmal neigt Herrin auch zu fragwürdigen Wertungen. Zum Beispiel betont sie, dass Galla Placidia „als Mutter komplett versagt“ (S. 81) hat, weil ihre Kinder Valentinian III. und Honoria beide kapitale Fehler begangen hätten, die zum Untergang des Reiches beitrugen. Zwar hat die Autorin bereits an früherer Stelle dargelegt, dass Erziehung die Aufgabe von Kaiserinnen in Byzanz war,2 konkrete politische Entscheidungen der beiden, die Jahrzehnte später erfolgten, daraus herzuleiten, ist dagegen übertrieben. Ferner ist das Buch ein genuin historisches. Natürlich kommen die bedeutenden Kirchen und Mosaike jeweils vor; wer sich jedoch einen ausführlicheren kunst- und architekturgeschichtlichen Zugriff auf Ravenna und seine Monumente wünscht, wird wohl enttäuscht werden.3 Diese eben genannten Punkte können aber keineswegs die Virtuosität von Herrins Monographie schmälern: In ihrem Werk erwachen Ravenna, die spätantik-frühchristliche Epoche sowie ihre Protagonistinnen und Protagonisten bewundernswürdig zum Leben; es kann daher als Lektüre nur nachdrücklich empfohlen werden!

Anmerkungen:
1 In der Struktur daher nicht unähnlich dem Buch von Deborah M. Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity, Cambridge u.a. 2010, das sich jedoch mehr an ein wissenschaftliches Fachpublikum richtet.
2 Vgl. Judith Herrin, Unrivalled Influence. Women and Empire in Byzantium, Princeton 2013, S. 80–114.
3 Als deutschsprachige Alternative böte sich dafür Carola Jäggi, Ravenna. Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt, Regensburg 2013 (2. Auflage 2016) an.

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