In der Nacht zum 1. Januar 1990 veränderte sich nahezu alles gleichzeitig in der bis dahin staatssozialistischen polnischen Wirtschaft: Regulierte Preise wurden freigegeben, Energiekosten drastisch angehoben, Subventionen gestrichen und Löhne fortan kontrolliert. Die sogenannte „Schocktherapie“ führte zu kontroversen Privatisierungen, Jahren der Massenarbeitslosigkeit und dem Verlust von über 2 Millionen Arbeitsplätzen, bevor die nun kapitalistische Wirtschaft sich erholen konnte. Warum entschieden sich polnische Politiker für einen so schnellen, schmerzhaften Systemwechsel? Wie kam es dazu, dass die polnische Gesellschaft sich auf dieses Experiment einließ?
Diese und andere Fragen beantwortet Florian Peters in seiner Monographie, die sich damit befasst, „wie der Kapitalismus nach Polen kam“. Das Buch, in der IfZ-Reihe zur Geschichte der Treuhandanstalt veröffentlicht und in einem eigenständigen DFG-Projekt erforscht, schildert die intellektuellen, politischen und sozialen Entwicklungen, die diesen Weg bereiteten. Dabei wechselt Peters immer wieder zwischen den Perspektiven der Kommunisten, der Opposition und verschiedener Wirtschaftsliberaler.
Anfang 1980 war die Volksrepublik Polen bei westlichen Gläubigern hochverschuldet. Als die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) zur Zahlung der Kredite Preiserhöhungen ankündigte, antwortete die Gesellschaft mit Streiks und der Gründung der freien Solidarność-Gewerkschaft. Solidarność war, wie Peters im ersten Kapitel argumentiert, anfangs keine prinzipielle Gegnerin des Sozialismus an sich, sondern verkörperte eigentlich dessen egalitaristischen Werte. Sie forderte die Einführung von Lebensmittelkarten – damit wenn nicht schon die Versorgung, so doch wenigstens die Verteilung verbessert werden könnte – und die Auflösung der Devisenläden, „damit alle Bürger in denselben Schlangen stehen!“ (S. 58). Zu diesem Zeitpunkt wollte die Mehrheit der Bevölkerung, so Peters, nicht das Gleichheitsprinzip aufgeben oder den Staatssozialismus mit der Marktwirtschaft ersetzen, sondern die Dysfunktionalitäten des Systems korrigieren.
Es gab aber schon einige, die gerne die Planwirtschaft über Bord geworfen hätten, wie Peters in seinem zweiten Kapitel beschreibt. Dazu gehörte Mirosław Dzielski, ein polnischer Anhänger von Milton Friedman, der sich auch nicht vor marktwirtschaftlichem Autoritarismus à la Pinochet oder Videla scheute. Dzielski und seinesgleichen trugen zu einer intellektuellen Tradition des polnischen Liberalismus bei, aber ihre Ideen waren im Lande nie mehrheitsfähig. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts gewannen andere, gemäßigtere Wirtschaftsliberale (wie die Danziger Janusz Lewandowski und Donald Tusk) im Solidarność-Milieu an Einfluss. Während die wahren Liberalen vorerst marginal blieben, lernten immer breitere Kreisen den Kapitalismus kennen, und zwar unter kommunistischer Führung. Nach der Ausrufung des Kriegsrechts Ende 1981 lockerte General Jaruzelski die Beschränkungen auf den Privatsektor, um durch Firmengründungen von Auslandspolen an Devisen zu kommen. In der wirtschaftlichen Misere suchten viele Pol:innen einen Nebenverdienst in kleingewerblicher Produktion, Saisonarbeit im Ausland oder Schwarzmarkthandel, wo sie (durchaus ambivalente) Erfahrungen mit der Marktwirtschaft sammelten. Auch Teile der Opposition, vor allem die Untergrunddruckereien, machten sich kapitalistische Praxen zu eigen. All dies trug Mitte der 1980er-Jahre zum „Sinneswandel“ bei, den Peters im dritten Kapitel beschreibt.
Als sich die 1981 angekündigten, 1986 erneuerten Wirtschaftsreformen der PZPR im Sand verliefen, zweifelten selbst Parteimitglieder immer mehr am Sozialismus und wandten sich in der Ära Margaret Thatchers Marktlösungen zu (viertes Kapitel). Eine Gruppe hochrangiger Kommunisten schlug sogar das zentrale Element der späteren „Schocktherapie“, die Freigabe der regulierten Preise, schon 1987 vor. Um schmerzhafte Reformen durchzusetzen – oder eben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu zeigen, dass sie unmöglich wären – suchte Jaruzelski in einem Referendum Unterstützung aus der Bevölkerung, was aber am hoch angesetzten Quorum scheiterte. Spätestens dann waren sich aber alle wichtigen Akteure – Regierung, Opposition, IWF und heimische Wirtschaftswissenschaftler – einig, dass der Weg aus Polens Wirtschaftskrise über die Marktwirtschaft führen würde. Die letzte kommunistische Regierung hob Ende 1988 die übrigen Beschränkungen für den Privatsektor auf; gleichzeitig ermöglichte sie es der Nomenklatura, sich am Staatsvermögen zu bereichern.
Das fünfte, besonders thesenstarke Kapitel des Buchs behandelt den sogenannten „Balcerowicz-Plan“ der ersten nichtkommunistischen Regierung Nachkriegspolens. Hier räumt Peters mit verschiedenen Mythen auf. Während der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs gerne behauptet, er habe den Plan zur Schocktherapie vorgeschlagen, verweist Peters auf die polnischen Akteure, die sich schon längst kapitalistische Denkweisen angeeignet hatten, den polnischen Systemwechsel gestalteten und das Tempo maßgeblich bestimmten. Hierzu gehörten die Kommunisten selbst, die nach ihrer Niederlage bei den Wahlen vom 4. Juni 1989 überstürzt die Lebensmittelpreise freigaben, aber vor allem der erste nichtkommunistische Finanzminister, Leszek Balcerowicz.
Der Mann, dessen Namen zum Synonym für die polnische „Schocktherapie“ wurde, galt vorerst als gemäßigter Kandidat für den Posten des Finanzministers, entpuppte sich aber kurz darauf als harter Neoliberaler: dass er die letzten Devisen des Staatshaushaltes zur Zahlung von Zinsen ausgab, verblüffte selbst internationale Finanzexperten; er beschleunigte das Stabilisierungsprogramm des IWF drastisch, damit es zum Jahreswechsel 1989/90 in Kraft trat. Zwar sagte Balcerowicz offen, dass die Wirtschaftsreformen schmerzhaft seien, Zustimmung aus der Bevölkerung suchte er aber nicht. Die „Schocktherapie“ war nur deshalb durchsetzbar, so Peters, weil die neue Regierung – und nicht etwa ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen – breite Unterstützung und die Segnung der Solidarność-Gewerkschaft genoss. Letztere versuchte, die Arbeiterschaft eher auf harte Maßnahmen vorzubereiten als ihre Interessen zu verteidigen. Auch wenn das Stabilisierungsprogramm „in letzter Konsequenz aus dem Westen importiert“ wurde (S. 410), geschah dies Peters zufolge nicht plötzlich auf Vorschlag eines Jeffrey Sachs oder des IWF, sondern es wurde über mehrere Jahre aktiv von polnischen Eliten angeeignet.
Peters untersucht in seinem letzten Kapitel die langwierigen Debatten über die Privatisierung der Staatsbetriebe (eine Maßnahme, die nicht zum Gesetzespaket des Balcerowicz-Plans gehörte). Er erläutert die verschiedenen Privatisierungsmöglichkeiten einleuchtend am Beispiel der Schokoladenindustrie. (Hier dient eine polnische Oral-History-Studie als wichtige Quelle.1) Zum Beispiel kaufte PepsiCo die Traditionsfirma „E. Wedel“ auf, wo sie schnell Stellen und soziale Infrastruktur abbaute, dafür aber Produktionsanlagen modernisierte und Löhne erhöhte. In anderen Fällen übernahmen die Mitarbeiter:innen (oder vielmehr das Management) selbst den Betrieb, wie bei „Wawel“. Die Firma konnte ihre Belegschaft sogar vergrößern, auch wenn die Löhne viel langsamer anstiegen. Die Firma „Goplana“ wiederum erlebte eine feindliche Übernahme durch Nestlé. Die Schweizer Firma entließ zwei Drittel der Belegschaft, bevor sie die Reste des Betriebs ausgerechnet an eine polnische Mitarbeitergesellschaft weiterverkaufte.
Peters betont immer wieder, dass der Kapitalismus nicht mit einem Schlag nach Polen kam, sondern nach und nach im Laufe der 1980er-Jahre, als der kommunistische Parteiapparat, die politische Opposition und die Gesamtbevölkerung zunehmend nach marktwirtschaftlichen Lösungen suchten. Dennoch waren, wie Peters überzeugend argumentiert, nur wenige, eher marginale Vordenker von vornherein begeisterte Anhänger des Liberalismus. Anfangs wollten oder konnten sich die meisten Pol:innen keinen Systemwechsel vorstellen, und sie schätzten die egalitaristischen Werte des Sozialismus. Infolge des wiederholten Scheiterns der Wirtschaftsreformen blieben aber immer weniger Optionen, und unter den Führungseliten von PZPR und Solidarność bildete sich ein stillschweigender Konsens zugunsten der Marktwirtschaft heraus. Der Systemwechsel wurde erst durch den Machtwechsel 1989 ermöglicht, denn nur eine nichtkommunistische Regierung mit der Unterstützung der Solidarność verfügte über ausreichend Vertrauenskapital, um die tiefgreifenden Maßnahmen einer „Schocktherapie“ durchzusetzen. Nach den kollektiven Ohnmachtserfahrungen des Kriegsrechts 1981–83 akzeptierte die leiderprobte Gesellschaft die Schmerzen des schnellen Übergangs eher „achselzuckend“ und „aus Mangel an erkennbaren Alternativen“ (S. 417) als mit Begeisterung.
Florian Peters hat eine nuancierte Erzählung des polnischen Wegs in den Kapitalismus geschrieben. Dabei analysiert er Thesenpapiere, Partei- und Gewerkschaftsprogramme sowie graue Literatur, Memoiren, Umfragen, Presse und auch Gedichte. An manchen Stellen ist es schade, dass er nicht mehr Gebrauch von seinen kultur- und alltagsgeschichtlichen Quellen macht, wie etwa der Text eines Punk-Lieds, der leider in eine Fußnote verbannt ist (S. 485), oder die polnische Oral History, aus der er harte Fakten, aber kaum prägende Eindrücke zitiert. Dennoch zeigt Peters hervorragende Kenntnisse der relevanten (meist polnischsprachigen) Literatur und liefert eine überzeugende, klar argumentierte, gut lesbare Ideen- und Wirtschaftsgeschichte des schwierigen Übergangs vom Staatssozialismus zum Kapitalismus in Polen.
Anmerkung:
1 Aleksandra Leyk / Joanna Wawrzyniak, Cięcia. Mówiona historia transformacji, Warszawa 2020.