Was ist Geschichtswissenschaft, welches Handwerkzeug, welcher Techniken und Kompetenzen bedarf es, um geschichtswissenschaftlich zu arbeiten? Mit welchen Herausforderungen sah und sieht sich die Disziplin konfrontiert, und wie wird eine geschichtswissenschaftliche Arbeit geschrieben? Diesen und weiteren Fragen geht Stefan Haas in seinem neuen Einführungswerk zur Geschichtswissenschaft auf 320 Seiten nach.
In den Mittelpunkt seines Bands stellt Haas die Grundlagen des Doing History, also die einzelnen Schritte der Praxis geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, die Generierung von geschichtswissenschaftlichem Wissen, dessen Absicherung und kritische Reflexion. Viele Kapitel liefern dabei zusätzlich, verschieden umfangreich, historiografische Einblicke über bedeutende Entwicklungen in der Disziplin Geschichtswissenschaft und stellen heraus, warum und wie wir als Historiker:innen heute auf eine bestimmte Art und Weise wissenschaftlich arbeiten und nicht anders. Erklärtes Ziel ist es, einzuführen „in die Geschichte als Wissenschaft, und damit in eine spezifische Praxis, Probleme zu sehen, Lösungen zu entwickeln, Forschungen durchzuführen, relevante Geschichten zu schreiben und Erkenntnisse und Einsichten zu vermitteln“ (S. 11).
Dieses Vorhaben setzt der Autor in 14 Hauptkapiteln um. Dabei beschäftigen sich Kapitel 1 bis 10 mit Doing History in der Geschichtswissenschaft, Kapitel 11 bis 14 beziehen sich stärker auf das Geschichtsstudium, die Selbstorganisation, das Schreiben einer Hausarbeit und die anschließende Berufspraxis. Im Sinne eines Einführungswerks beginnt jedes Kapitel mit einer kurzen Inhaltswiedergabe und Zielformulierung. Es gibt zusätzliche „Definitionskästchen“, und einzelne Absätze sind mit Stichworten am Rand versehen. Jeweils zum Ende werden die wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse zusammengefasst. Es folgt für jedes Kapitel weiterführende Literatur, die der Autor sehr sorgfältig und auf die einzelnen Themen zugeschnittenen ausgewählt hat. „Textfragen“ ermöglichen es, das Gelesene in eigene Worte zu fassen. Antworten und Lösungsvorschläge können über die utb-Seite abgerufen werden.
Das Buch beginnt mit einer kurzen, einleitenden Hinführung über die Doppeldeutigkeit des Begriffs Geschichte (als Vergangenheit und Wissenschaft) und einer Erklärung, was Haas unter Doing History versteht. Im zweiten Kapitel („Was ist Wissenschaft?“) widmet sich der Autor den Fragen, wann Wissen wissenschaftlich ist, welche Kriterien zugrunde liegen müssen, wie Hypothesenbildung stattfindet und wie Theorie, Empirie und Praxis zusammenhängen. Die Kapitel 3 bis 9 schlüsseln dann Wissen und weitere Fertigkeiten auf, die es braucht, um geschichtswissenschaftlich zu arbeiten. Neben den „klassischen“ Ausführungen zu Quellen und quellenkritischer Methode (Kapitel 3), der disziplinären Ordnung von Geschichte, die in die Einteilung/das Denken von Epochen (Zeit), Raum- und Sachdisziplinen einführt (Kapitel 6), sowie zu Geschichte und Medien (Kapitel 9) setzt Haas eigene Akzente, wodurch sich dieses Einführungswerk von anderen unterscheidet. Das Buch weist insgesamt einen stark theoretischen Fokus auf, was sich auch in zwei längeren Kapiteln niederschlägt. Während sich Kapitel 7 eher historiografiegeschichtlich mit ausgewählten Theorien und Konzepten in der Geschichtswissenschaft auseinandersetzt, nimmt Kapitel 8 vor allem geschichtstheoretische Fragen und Reflexionen in den Blick. Ein weiteres Kapitel hebt „Geschichte schreiben und erzählen“ hervor und zeigt auf, wie aus Vergangenheit Geschichte entsteht. Dabei beschreibt Haas die Bestandteile von Text und historischer Erzählung ebenso wie er den Zusammenhang von Daten, Fakten, Phänomenen, Bedeutungsgebung und Sinnerzeugung diskutiert und problematisiert. Sehr anschaulich verdeutlicht Haas an einem Beispiel zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, wie das Auslassen einzelner Fakten bzw. Ereignisse zu einer „falschen“ Geschichte oder besser gesagt Geschichtsdeutung führen kann, die dem Forschungsstand entgegensteht (S. 67–71). Haas' Beobachtung zum Ende des Kapitels ist beizupflichten, dass die deutsche Geschichtswissenschaft es bisher weitgehend versäumt hat, das Erzählen und Schreiben von Geschichte curricular in den geschichtswissenschaftlichen Studiengängen zu verankern. Ein dezidiertes Alleinstellungsmerkmal ist ein Kapitel zum Argumentieren, das thematisiert, was Hypothesenbildungen und Erklärungen in der Geschichtswissenschaft sind, wie sie zustande kommen und dass sie durch Argumente abgesichert werden müssen. Hier hätte man gerne mehr gelesen über die Spezifika geschichtswissenschaftlicher Argumentationspraxis. Die Zuhilfenahme von Kontext, Vergleich, Quellen, Zeit und vielem mehr für die Argumentation – auch wenn es zwischen den Zeilen anklingt – hätte stärker explizit gemacht werden können.
Der Teil zu Doing History in der Geschichtswissenschaft schließt mit einem Kapitel zu aktuellen Herausforderungen. Haas erklärt, wie gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen in der Welt Einfluss auf die Geschichtswissenschaft und ihr Selbstverständnis nehmen und damit Fragen an und Perspektiven auf die Vergangenheit verändern. Zudem zeichnet er nach, wie durch Herausforderungen (unter anderem Globalisierung und Digitalisierung) innerhalb der Disziplin neue Forschungsfelder entstehen.
Die anschließenden zwei Kapitel beinhalten viele Beispiele und praktische Ratschläge, wie das zuvor Gelesene in die eigene geschichtswissenschaftliche Arbeit während des Studiums übermittelt werden kann. Fragen und Erklärungen geben wichtige Denkanstöße und helfen, eine Hausarbeit bzw. ein Forschungsdesign für eine Abschlussarbeit zu konzipieren. Praktische Tipps und Methoden unterstützen bei der Selbstorganisation, Strukturierung und Systematisierung von Recherche, Forschung und Durchführung der Forschungsarbeit, zum Beispiel durch die Verwendung von Datenbanken und Literaturverwaltungssystemen, deren Nutzen und Umgang erklärt wird. Zugleich reflektieren die Ausführungen an verschiedenen Stellen Machbarkeit, Zeitbudget und Probleme bei der Umsetzung der eigenen Forschungsarbeit mit. Diese beiden Kapitel eignen sich mitunter für den Einsatz in der Lehre, zum Beispiel für Proseminare und Grundkurse; wie hilfreich sie für Studierende beim Anfertigen von Haus- und Abschlussarbeiten sind, wird sich zeigen. Das Kapitel „Doing History im Studium“ gibt zudem Auskunft über die Dauer größerer Forschungsarbeiten, die Finanzierung bzw. Begutachtung von Anträgen und den möglichen „Bias“ von Gutachter:innen. Vermutlich als zusätzliche Informationen gedacht, bleibt auch mit Blick auf die nicht immer klar differenzierten Anforderungen unklar, an welche Zielgruppe sich das Kapitel genau richtet: Studierende (an welchem Punkt ihres Studiums) und Promovierende?
Spätestens hier vermisst die Rezensentin ein Vorwort bzw. eine knappe Einleitung. Neben der Nennung möglicher Zielgruppen (Studierende, Promovierende, Lehrende?) wären Lesehinweise zum Aufbau wünschenswert gewesen, die beim praktischen Umgang mit dem Einführungswerk helfen, zum Beispiel wie das Buch gelesen werden kann, ob auszugsweise, oder von vorne nach hinten abfolgend, also ob es jeweils der Kenntnis vorangegangener Kapitel bedarf. Das vorletzte Kapitel verweist unter anderem auf Berufsfelder außerhalb von Wissenschaft, deren knappe Auswahl eher exemplarisch ist. Die weiterführende Literatur und insbesondere Internetlinks geben vertiefende Einblicke in Berufsfelder und -karrierewege für ausgebildete Historiker:innen. Das Buch schließt mit einem Kapitel zu Hilfsmitteln in der Geschichtswissenschaft.
Wie jede Einführung liegt die Schwierigkeit in einer notwendigen Auswahl und thematischen Verknappung, die hier jedoch vielfach gelingt und zudem eine ausgewogene Mischung bietet einerseits aus Historisierung der Disziplin, Überblick und Schwerpunktsetzung sowie andererseits Einblicke hier und da in den Alltag von Historiker:innen und deren Arbeitsleben über die Forschung hinaus. Ebenso legt der Autor Wert darauf, mit zu veranschaulichenden Beispielen alle Epochen zu bedienen. Neben sehr umgangssprachlichen Formulierungen, insbesondere im ersten Drittel des Buchs, die manchmal irritieren, stellt Haas immer wieder die Notwendigkeit der Geschichtswissenschaft heraus (Orientierungsbedürfnis, gesellschaftliche Verantwortung, Umgang mit aktuellen Herausforderungen, zum Beispiel Postcolonial Studies/Umwelt). Gleichzeitig macht er die Vielfalt des Fachs stark, ermutigt zum kreativen Denken, geht selbstkritisch mit der eigenen Disziplin um und zeigt Gefahren der Instrumentalisierung von Geschichte auf (Kapitel 10.5. „Geschichte und Rechtsradikalismus“). Mit der Entscheidung, das Buch aus der Perspektive der Praxis geschichtswissenschaftlichen Arbeitens her zu denken und diese explizit zu machen, ist es eine gute Ergänzung zu bestehenden Einführungswerken.