J.-W. Link: Gelingensbedingungen von Schulreform

Cover
Titel
Gelingensbedingungen von Schulreform. Bildungshistorische Befunde als Schlüssel zum pädagogischen Verständnis von Schulentwicklungsprozessen und als Erweiterung des Theorienverbundes zur Schulreform


Autor(en)
Link, Jörg-W.
Reihe
klinkhardt forschung. Historische Bildungsforschung
Erschienen
Bad Heilbrunn 2023: Verlag Julius Klinkhardt
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Daniel Töpper, Abteilung Historische Bildungsforschung, Humboldt-Universität zu Berlin

Bildungshistorische Befunde zum Gelingen von Schulreformen verspricht das zu besprechende Buch und bedient damit die in Forschung gesetzte Hoffnung, zur Verbesserung der jeweils behandelten sozialen Felder beizutragen. Schule wird häufig als reformbedürftig diskutiert, entsprechend sind Gelingensbedingungen von Reformen relevant. Statt konkreter Wirkungsversprechen entwickelt der Band ein Modell, das Forschungen zur Schulreformgeschichten zusammenführt, systematisiert und an Schulentwicklungsforschungen anschließt. Die in dem Band gesammelten Texte wurden 2022 von der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg als schriftliche (kumulative) Habilitationsleistung angenommen.

Dem etwas mehr als 40 Seiten langen Manteltext gehen Zusammenfassung, Abstract und Einleitung voraus. Im Manteltext arbeitet Link seinen Beitrag zu „Gelingensbedingungen“ von Schulreformen heraus, indem er zunächst den Forschungsstand zu Historischer Schulforschung und Schulentwicklungsforschung referiert sowie hierbei Schnittmengen und Leerstellen identifiziert. Vor allem würden keine empirisch fundierten Modelle zu „Gelingensbedingungen“ vorliegen. Die Schulentwicklungsforschung wird darüber hinaus vielfach durch nicht-pädagogische Referenzen und Theorieimporte geprägt, wogegen das von Link herausgearbeitete Modell „im Prozess professionellen pädagogischen Handelns, gestaltet durch professionelles pädagogisches Handeln und Interaktion und ausdifferenziert, für professionelles pädagogisches Handeln“ (S. 10) vielfach anschlussfähiger hergeleitet wird. Hierin besteht die anzuerkennende Leistung Links, dass er ein pädagogisch gebundenes und empirisch belegtes Modell vorlegt, mithilfe dessen sich – wie er zeigen kann – auch aktuelle Schulreformprozesse beschreiben und rekonstruieren lassen. Diese Modellbildung und Systematisierung selbst auszuführen sowie nicht auf eine schulische oder schulpolitische Aktivität zu verschieben, zeichnet die Arbeit vor vielen anderen vor allem auf den wissenschaftlichen Diskurs rekurrierenden Arbeiten aus. Dies erweitert beide durch das Modell verbundene Forschungsbereiche und weist damit klug sowie behutsam deren soziale Relevanz nach.

Links pädagogische Systematisierung, die er als „Fünf-plus-zwei-K-Struktur“ bezeichnet, umfasst fünf eigenständige und zwei ergänzende konstitutive Gelingensbedingungen, die er auf etwas weniger als 10 Seiten darstellt (S. 32–41). Hier werden Bezüge zwischen den kumulierten Einzelstudien, historischen Reformprozessen und dem Modell hergestellt. Die sieben „K“ stehen für „Krise“ als Anlass für Reformen, „Kommunikation“ und „Kooperation“ als Reaktionen auf die Krise und „Kapazitäten“ und „Kompetenzen“, die sich aus „denkender Erfahrung“ (im Anschluss an Dewey) als Ergebnisse der ausgelösten Reformprozesse bei Erfolg entwickelten. „Kinder, Jugendliche und Eltern“ (K 6) begleiten diese und „Kollegiale Kreativität“ (K 7) würde ebenfalls für das Gelingen von Reformen wichtig sein. Diese Bedingungen fassen Prozess und Voraussetzungen gelingender Reformen zusammen. Das Modell und die etwas arbiträr wirkenden Bezeichnungen der Phasen ergeben sich – durchaus plausibel – induktiv aus den historischen Analysen und sind entsprechend nicht als theoretisch hergeleitetes Modell zu verstehen. Die begrifflichen, theoretischen und systematischen Ausführungen zu den einzelnen Begriffen des Musters sind entsprechend kurz. Die Vagheit der Hauptbegriffe ist Stärke und Schwäche zugleich, da sich unter den offenen konzeptionellen Ausführungen sehr viel als „Krise“ verstehen lässt. Es scheint zumindest diskutabel, dass nahezu jede Reform auf krisenhafte Anlässe zurückführbar sein soll. Eine Aufarbeitung des Forschungsstandes zum vielfach bearbeiteten Begriff der „Krise“ fehlt dabei ebenso wie Begriffsdiskussionen für die anderen Bedingungen.

Der Anhang des Manteltextes dokumentiert die Prüfung der entwickelten Gelingensbedingungen an aktuellen Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises (S. 67–91). Die hier ausgeführte und belegte Prüfung der Gelingensbedingungen an jüngeren Reformen hätte etwas mehr Analysebeschreibung, Datenerhebung und Datenauswertungsausführungen umfassen können, um interpersonal nachprüfbar zu sein. Was Link hier aber en passant leistet, ist eine Zusammenstellung und Ordnung jüngerer einzelschulischer Schulreformen, die einen guten Einstieg für weitere Qualifikationsarbeiten und Forschungen bilden.

Es folgen die elf dem Modellvorschlag zugrunde liegenden Einzelstudien. Schwerpunkte der Studien sind Metastudien und bildungshistorische Quellenstudien zur Reformpädagogik, die Begriffsgeschichte leisten, Einzelschulen fokussieren und übergeordnete multiplizierende Bildungsinstitutionen darstellen. Auch verschiedene Zeiträume werden dabei thematisiert. Weniger umfangreich sind solche Beiträge, die direkter der Schulentwicklungsforschung zuordenbar sind. Zwar erschließt Link nur begrenzt neue Quellen oder Quellentypen, aber die Überblicksleistung der Arbeit für weniger prominente Bereiche der Reformpädagogik lässt hierüber leicht hinwegsehen. Die Einzelstudien wurden zwischen 2005 und 2022 veröffentlicht und sind erwartbarerweise in Teilen inzwischen durch Folgeforschungen ergänzt worden, was aber nicht ihre generelle Relevanz mindert. Die begrifflich konzeptionellen Metastudien (insbesondere Studie 1, 2 und 4) ergänzen anteilig den Forschungsstand, indem sie die Rolle und Relevanz von Schulwirklichkeit und Landschulreformen in ihrer Zeit (2012–2018) integrieren, während sonstige Überblicksliteratur vielfach dazu tendiert, Reformpädagogik auf Ideen- und Schullandheime zu reduzieren. Die Arbeit zum Institut für Völkerpädagogik in Mainz (1931–1933) (Studie 5) arbeitet nicht nur Existenz und Relevanz eines schulpolitisch prägenden Instituts heraus. Link diskutiert das Institut als besonderen Ort der emergierenden international-vergleichenden Schulforschung, die nicht allein über verschiedene Schultypen informiert, sondern einen eigenen Präsentationsmodus wählt, der diese Institution als eigenständige und von Schulmuseen aber auch Forschungsinstitutionen unterscheidbare Vorläuferinstitution vergleichender Forschung markiert. Die Studien 3 und 6 wiederum entwickeln einen ganz eigenen Deutungsvorschlag einer Chronologie der Landschulreform, der vom Reformdebattenaufkommen zu einer Verdichtung spezifischer Reformvorhaben führt, welche durch die historische Situation allerdings nicht zur Realisierung der hier geforderten Reformen führte, sondern durch NS-Zeit und Nachkriegsveränderungen unterbrochen und verändert wurde.

Der pointierte Schulrealitätsbezug, ein breites Schulreformverständnis, das auch ländliche Schulreformen theoretisch berücksichtigt, sowie eine punktuell sehr präzise Rekonstruktion von Reformernetzwerken zeichnen Links Arbeit aus und bereichern das Wissen zur Schulreformgeschichte erheblich. Zwei Grenzen der Arbeit sollen dabei aber angemerkt werden. Das herausgearbeitete Modell klammert zwei durchaus wesentliche Dimensionen gelingender Schulreform aus, die man „Kontext“ und „Konzession“ nennen könnte. Link stellt in seinem Manteltext mehrfach heraus, dass der Fokusansatzpunkt seiner Rekonstruktionen und seiner Modellierung die Einzelschule ist, womit er sich den gegenwärtigen Forschungen zur Schulentwicklung anpasst. Schulreform ist hier vielfach ein auf Ebene der Einzelschule sich vollziehender Reformprozess, der sich – wenn überhaupt – durch die öffentliche Anerkennung aufgrund der Deutschen Schulpreise verbreiten kann. Diese Fokussierung blendet die kontextuelle Einbindung und potentielle Reformbedürftigkeit des Sozialen oberhalb der Einzelschulen aus, die der Begriff „Schulreform“ aufrufen könnte und die er historisch auch aufgerufen hat. Es gibt einen gesellschaftlichen Kontext, der Grundlage beziehungsweise Bezugsgröße der einzelschulischen Reformen in der historischen Phase der Reformpädagogik nach 1900 war, der im Muster mehr oder weniger ausgeblendet wird. Dieser „Kontext“ konkretisiert sich noch einmal in dem, was ich „Konzession“ nennen möchte. Das Modell berücksichtigt zweitens, so meine Kritik, kaum, dass Reformprozesse wesentlich an die Unterstützung beziehungsweise zumindest Zulassung durch staatliche Schulverwaltungs- und Schulaufsichtsstrukturen gebunden sind. Eine Engführung des Schulreformverständnisses klammert diese Vordispositionen einzelschulischer Handlungsfähigkeiten aus. Entsprechend kann Links Modell nur sehr begrenzt überschulische Sozialveränderungen als „Krisen“ modellieren beziehungsweise wäre für solche noch einmal zu erweitern. Steigende gesellschaftliche Ungleichheit, Klimawandel und Rechtsruck brauchen womöglich andere als einzelschulorientierte Schulreformen und für solche Herausforderungen bot die historische Reformpädagogik durchaus Anschlussmöglichkeiten, die in Links Muster leider aus dem Blick geraten. Neben der Ausblendung der Schulverwaltung könnte auch Öffentlichkeit als für Schulreformprozesse wichtige Dimension diskutiert werden. Im auch von Link beispielhaft herangezogenen Fall der Rütli-Schule löste erst eine durch stadtgesellschaftliche Öffentlichkeit hergestellte Reformunterstützung den Reformprozess aus. Die Reduktion von Schulverwaltung und Schulaufsicht auf bloße Prozessierung politischer oder lokaler Entscheidungen setzt einseitige bürokratiekritisch geprägte Verwaltungsvorstellungen fort, die historiografisch inzwischen mindestens ergänzt, eher hinterfragt und überholt wurden.1 Es bleibt eine kleine Enttäuschung zurück, wenn selbst Autoren wie Link, die systematisch und kontinuierlich Schulreformen reflektieren, „pragmatisch“ für eine Ausklammerung überschulischer Sozialdimensionen plädieren.2

Bemerkt werden soll abschließend noch, dass von den besonders prominent behandelten Einzelreformschulen in den Beiträgen bei Link die Odenwaldschule mehrfach in den wiedergedruckten Einzelstudien benannt wird. Diese Reformschule ist ein Ort, an dem nachweislich und kontinuierlich systematisch sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde, worauf Link in einer wichtigen Zwischenbemerkung auch eingeht (S. 56–57). Ob und inwieweit Reformerfolge und Missbrauchsfälle zusammenhängen, hätte durchaus auch in der Modellierung aufgegriffen werden können, insbesondere im Abschnitt der „Kollegialen Kreativität“ (K 7), in der die „visionären Moderatoren“ und Schulleiter herausgestellt wurden. Der Zusammenhang zwischen (erfolgreichen) Reforminnovationen und strukturellen Verantwortlichkeiten, Risiken und Problemlagen herausgehobener Führungspositionen könnte womöglich noch weiter diskutiert werden.

Insgesamt sollen die Anmerkungen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Link mit dem besprochenen Muster der Gelingensbedingungen und den sehr lesenswerten, weiterführenden Studien Wesentliches zur lange nicht abgeschlossenen Geschichte der Schulreformen und Reformpädagogik beiträgt, die für Forschung und Lehre auch aufgrund der klaren Struktur und zugänglichen Sprache der Arbeiten sehr geeignet ist. Links Muster ist ein sinnvoller, in seiner pädagogischen Anbindung und „empirischen“ Fundierung wichtiger Beitrag, der über Programmatik und präskriptive Modelle hinausgeht.

Anmerkungen:
1 Michael Geiss / Andrea de Vincenti (Hrsg.), Verwaltete Schule, Wiesbaden 2012.
2 Diese Verengung von Schulentwicklung hat eine Geschichte, die Link wiederum nicht diskutiert. Vgl. dazu Hans-Günter Rolff, Schulentwicklung als Entwicklung von Einzelschulen? Theorien und Indikatoren von Entwicklungsprozessen, in: Zeitschrift für Pädagogik 37 (1991), S. 865–886.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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