M. Friedrich: Jakob Wilhelm Imhoff and the Meanings of Genealogy in Early Modern Europe

Titel
The Maker of Pedigrees. Jakob Wilhelm Imhoff and the Meanings of Genealogy in Early Modern Europe


Autor(en)
Friedrich, Markus
Reihe
Information cultures
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 301 S.
Preis
$ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Magnus Ressel, Historisches Seminar, Goethe Universität Frankfurt am Main

Die Bedeutung der Genealogie in der gegenwärtigen Gesellschaft lässt sich leicht an dem Erfolg von Firmen wie Geneanet, Ancestry und weiteren ablesen. Auch jenseits von diesen Firmen existiert ein breiter Markt für genealogische Forschungen von der Ebene der interessierten Laien bis hin zu (quasi-)beruflich tätigen Genealogen, die gegen Honorar spezifische genealogische Informationen aufspüren. Bis zur weitgehenden Digitalisierung der Kirchenregister im deutschsprachigen Raum stellten solche Genealogen – nach der persönlichen Erfahrung des Rezensenten – häufig wohl die Mehrheit der Besucher in vielen Archiven. Die Existenz von mehreren Computerprogrammen für die Organisation von genealogischen Daten in unterschiedlichsten Datenbanksystemen vervollständigt den Eindruck eines auch und gerade in der Gegenwart viele Emotionen und allerlei Interesse erregenden Themas, welches entsprechend Umsätze generiert.

Die Obsession mit der Genealogie – oder vielmehr der Produktion, Speicherung und Präsentation genealogischen Wissens – in Teilen der gegenwärtigen Gesellschaft hat Wurzeln, die tief in die europäische Vergangenheit reichen, wie Markus Friedrich in seiner Arbeit „The Maker of Pedigrees“ [Der Macher von Stammbäumen] eindrücklich aufzeigen kann. Dabei fokussiert er sich in seinem Buch auf die Genealogie der Adelsgesellschaft um 1700 durch die Konzentration auf den wohl bedeutendsten europäischen Genealogen dieser Jahre, den Nürnberger Jakob Wilhelm Imhoff (1651–1728). Von diesem ist im Germanischen Nationalmuseum und weiteren Archiven Nürnbergs ein großer Nachlass zu seinen genealogischen Arbeiten aufbewahrt. Imhoff, der aus einer sehr bedeutenden Familie des Nürnberger Patriziats stammte, steht in diesem Werk für eine Internationalisierung der Genealogie sowie nachhaltige mediale und publizistische Innovationen. Von circa 1685 an hatte er damit große Erfolge und gewann eine europaweite Reputation – um dann 1712 am Höhepunkt seines Erfolgs nach dem Tod seiner Frau und zunehmenden Gesundheitsproblemen sowie einer Zuwendung zu einer verinnerlichten Frömmigkeit diese Arbeiten einzustellen und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.

Die Arbeit ist neben einer 22-seitigen Einleitung und einem 9-seitigen Schluss in sechs Kapitel zu je etwa 20 bis 35 Seiten eingeteilt. Die Einleitung stellt das Thema vor und beleuchtet eingehend die Problemstellung des Buches, welches hauptsächlich zum Feld der neueren Wissensgeschichte zu rechnen ist. Hier werden die enorme Bedeutung genealogischen Wissens in der Adelsgesellschaft des Ancien Régime, ebenso der dazugehörige Markt, die Praxis des Wissenserwerbs und dessen Handhabung sowie Dissemination, wie auch die Instabilität und fast permanente Vorläufigkeit dieses Wissensbestandes beleuchtet. Auch eine kurze biographische Skizze Imhoffs wird geboten.

Im ersten Kapitel zur „Genealogy circa 1700“ beleuchtet Friedrich das Gebiet der Genealogie vor allem aus historischer Perspektive. Die Genealogie war ein traditionsreiches Feld, welches aber in den Jahrhunderten vor 1700 noch relativ stark zur Mythologisierung neigte. Viele Adelige oder Fürstengeschlechter rühmten sich legendärer Vorfahren, seien es die Trojaner oder bedeutende Gestalten aus der Zeit Karls des Großen. Das späte 17. Jahrhundert brachte eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Genealogie, was auch einer verschärften Überprüfung der Adelstitel vor allem in Frankreich geschuldet war. Der Trend der Zeit ging hin zu möglichst exakten, umfangreichen und verifizierbaren Ahnentafeln. Skepsis wurde eine wichtige Tugend der Genealogen. Dabei bemerkt Friedrich für die Zeit vor Imhoff einen Hang zum „Präsentismus“, da die Ahnentafeln vor Imhoffs Arbeiten selten über das Jahr 1400 ins Mittelalter reichten.

Das zweite Kapitel „A Patrician Genealogist and His City“ stellt Imhoff, seine reichhaltige Vorfahrenschaft und in Europa verteilte Verwandtschaft sowie die Stadt Nürnberg selbst heraus. Die Stadt war und blieb, wie Friedrich mehrfach betont, um 1700 – und entgegen einer älteren Literatur, die den Niedergang Nürnbergs seit dem Dreißigjährigen Krieg besonders betonte – in vielerlei Hinsicht ein europäischer Zentralort. Die hiesigen Patrizier konnten just gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach langjährigen und zähen Bemühungen vom Kaiser das Recht auf Kooptation und den Titel „edel“ erlangen, was die erhöhte Sensitivität für das Themenfeld der Genealogie weiter erklären mag. Jemand wie Imhoff, der einigen Wohlstand geerbt hatte, Mitglied einer über ganz Europa verzweigten Familie war, in einer Stadt mit einem besonders aktiven Verlagswesen lebte und in seinen Jugendjahren viel durch Europa gereist war, war wohl ideal geeignet, um einer der europaweit führenden Experten für Genealogie um 1700 zu werden.

Das dritte Kapitel „Genealogy and the Nobility“ beleuchtet die Zusammenarbeit Imhoffs mit den Adels- und Fürstenhäusern des Alten Reichs und des weiteren Europa. Für Imhoff war es besonders wichtig, von den verschiedensten Adelsfamilien genealogische Informationen über ein ausgedehntes Korrespondenzwesen zu erhalten, da er kaum selbst archivalische Recherchen vornehmen konnte – und wenn, dann nur in Nürnberg. Für die unter stetigem Konkurrenz- und teilweise auch bereits Legitimationsdruck stehende Adelsgesellschaft Europas war es aus manchen Gründen attraktiv, an Imhoff die entsprechenden Informationen zu versenden. So konnten die eigenen genealogischen Herkünfte sowie verschiedenen Linien und damit die tatsächliche Zugehörigkeit zur Welt des Adels quasi öffentlich nachgewiesen werden. Ein nicht intendierter Nebeneffekt mit langfristig eventuell subversiven Effekten war aber auch die stärkere Sichtbarmachung des Adels als eine personal greifbare und klar umrissene Gruppierung mit dazugehörigen Verhaltensweisen und Werten – die von den Lesern auch als kritikwürdig empfunden werden konnten. In diesem Kapitel sieht man latent ein Forschungsdesiderat bei der Frage aufschimmern, wann die Beschäftigung mit der Genealogie auch für das Bürgertum interessant wurde – um 1700 war dies offenbar noch keineswegs der Fall.

Im vierten Kapitel betrachtet Friedrich „The Genealogical Brotherhood“, auch als europaweite „respublica genealogica“ bezeichnet. Hier werden die Kontakte Imhoffs mit vielen weiteren Genealogen im Alten Reich und ganz Europa beleuchtet und beispielsweise die genealogischen Arbeiten von Zeitgenossen wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Philipp Jakob Spener hervorgehoben. Es zeigt sich, dass sich die Gruppe offenbar als eine lose Verbindung Gleichgesinnter begriff, was aber keineswegs unmittelbar zu einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und damit zum freigiebigen Teilen von Informationen führte. Mit manchen Genealogen Europas blieben die Kontakte Imhoffs kühl, da diese Personen ihr Wissen für sich behalten wollten. Häufig jedoch gelang eine dauerhafte – auch problemlos interkonfessionelle – Zusammenarbeit über die Ferne. Insgesamt betrachtet waren die Erfolge Imhoffs daher auch recht beeindruckend, er konnte neben seinen Büchern über Deutschland auch über Frankreich (im Wesentlichen sogar vor seinen Kontakten zu dessen wichtigsten Genealogen), die meisten Staaten Italiens (die Republik Venedig und der Kirchenstaat blieben allerdings eher außen vor) und nach einigen Schwierigkeiten auch über Spanien und Portugal umfangreiche Werke publizieren. Man vermerkt nebenbei bei einigen der hier vorgestellten Akteure eine gewisse Verbindung des Pietismus zur Genealogie, die zu vertiefen künftig noch lohnen mag.

Das fünfte Kapitel zeigt uns „The Genealogist at Work“. Dieses Kapitel ist reich bebildert mit den Entwürfen und diversen Formen von Notizen zu den gewünschten Stammtafeln. Es präsentiert uns Imhoff quasi am Schreibtisch beim Zusammenfügen der Informationen und dem Herausstreichen von Fehlern sowie dem Einarbeiten neuer Kenntnisse. Hier arbeitete jemand mit vielen Anmerkungen und Einfügungen sowie mit Schere und Kleber, um zu zufriedenstellenden Resultaten zu gelangen. Am Beispiel des Herrscherhauses von Modena, den Este, kann Friedrich aufzeigen, wie Imhoff Stück für Stück seine Informationen erhielt, in sein Werk einbaute und schließlich einen tief ins Mittelalter reichenden und auf dem neuesten Stand des Wissens befindlichen Stammbaum der Familie erstellte.

Das sechste Kapitel handelt von einem ganz wesentlichen Aspekt des Erfolgs Imhoffs, „Publishing and Reading Genealogy“. Dabei geht es zentral um die Vermarktungsstrategien Imhoffs im Zusammenwirken mit seinen Verlegern. Ein Element von Imhoffs Erfolg war die Kombination von genealogischen Tafeln mit kurzen Biogrammen zu den jeweiligen Personen. Damit überkam er die Leere der „tabulas nudas“ und vermied zugleich das Problem der geringen Sortierung von Wissen in einem Fließtext ohne grafische Ordnungselemente. Er nutzte weiterhin sein Prestige, um immer nur mit den Spitzenverlagen seiner Zeit zusammenzuarbeiten, nicht nur in Nürnberg, sondern auch in Amsterdam oder Leipzig. Dabei konnte er es sich leisten, auch sehr gute Angebote, wie das des königlichen Druckers von Frankreich abzulehnen. Auch war er geschickt und publizierte seine Genealogie zu Spanien kurz vor Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges, was den Verkaufszahlen förderlich war. Zu einer periodischen Erscheinungsform durch genealogische Kalender ging Imhoff aber nicht mehr über, das folgte relativ bald nach seinem Ableben. Zur Lektüre und Rezeption der Imhoffschen Werke kann Friedrich durch Annotationen in den Exemplaren der heutigen Bibliotheken auch noch einige bemerkenswerte Details beisteuern.

Der Schluss beginnt mit dem Duell italienischer Adeliger in Nürnberg 1673, die in Italien keinen Ort mit einer entsprechenden Erlaubnis gefunden hatten. Ausgehend von diesem intensiv rezipierten Ereignis fokussiert Friedrich noch einmal auf den Adel als diejenige Gruppierung, die bei der Genealogie der Frühen Neuzeit besonders im Mittelpunkt stand. Friedrich zeigt die Verwissenschaftlichung der Genealogie als ein zweischneidiges Schwert für den Adel, der hiervon einerseits profitierte, andererseits aber nunmehr auch immer stärker als Gruppe mit eventuell problematischen Aspekten, wie beispielsweise Duellen, in den Blick geraten konnte. Friedrich lässt das offen, betont aber klar „that genealogy should be considered a key area of Europe’s history of knowledge“.

Dieser Aussage ist nach Lektüre des Werkes nachdrücklich zuzustimmen. Die sehr gründliche Studie Friedrichs, die in ihrer Kondensiertheit eine Reihe äußerst bedeutsamer Aspekte der Welt der „respublica genealogica“ und darüber hinaus aufzuzeigen vermag, bringt unser Wissen zur Geschichte der Genealogie und der Wissensgeschichte maßgeblich voran. Der essentielle Unterschied des vorliegenden Werkes zu den meisten Arbeiten im Feld der Genealogieforschung ist, dass diese eher auf den Nutzen genealogischen Wissens zielen, Friedrich den Blick jedoch auf die Entstehung beziehungsweise Produktion desselben richtet. Der Perspektivwechsel bringt wichtige Erkenntnisse und gibt viele Anregungen für eine methodisch erneuerte Hinwendung zu einem traditionsreichen Forschungsfeld.

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