Gemessen an ihrer im Vergleich zu Staaten wie den USA oder China geringen wirtschaftlichen Größe gelang der (bundes-)deutschen Volkswirtschaft in den Jahren 1986–1988, 1990 und 2003–2008 Erstaunliches: Der Wert ihrer jährlichen Exporte war höher als der jedes anderen Landes. Diese Exportweltmeisterschaft erfüllte die Deutschen mit Stolz, und selbst heutzutage mit China als unangefochtener Nummer 1 unter den weltweit größten Exportnationen freut man sich in Deutschland, wenn es gelingt, immerhin noch Zweiter oder hinter den USA Dritter dieser populären Weltrangliste zu werden. Vernünftig ist diese Begeisterung aus Sicht des Ottonormalverbrauchers eigentlich nicht: Wenn ein Land mehr exportiert als es importiert, und deshalb, so wie Deutschland es tut, regelmäßig einen Außenhandelsbilanzüberschuss erzielt, bedeutet dies vor allem, dass die einheimische Bevölkerung beständig weniger konsumiert als sie produziert und deshalb einen permanenten Konsumverzicht leistet – anders als etwa die konsumfreudigen Amerikaner, die sich ein andauerndes Außenhandelsbilanzdefizit gönnen. Auch das von der Exportwirtschaft gern gebrauchte Argument, der deutsche Exportüberschuss sichere Arbeitsplätze und Wohlstand, verliert unter genauerer Betrachtung an Überzeugungskraft. Die mit den Exportüberschüssen unweigerlich verbundenen Kapitalexporte führen nämlich dazu, dass im Ausland (und nicht in Deutschland) in den Auf- und Ausbau neuer Unternehmen investiert wird, so dass auf längere Sicht immer mehr Arbeitsplätze vom In- ins Ausland verlagert werden. Angesichts der bestenfalls ambivalenten Auswirkungen der Exportweltmeisterschaft fragt es sich somit, warum den Deutschen Exportüberschüsse eine Herzensangelegenheit geworden sind. Im vorliegenden Buch macht sich Jan-Otmar Hesse auf, diese Frage zu beantworten.
Hesse glaubt, die Wurzel der deutschen Exportobsession bereits im Kaiserreich gefunden zu haben. Als Schlüsselquelle führt er eine Rede von Reichskanzler Leo von Caprivi vor dem Reichstag im Dezember 1891 an: „Wir [...] müssen exportieren; entweder wir exportiren Waaren, oder wir exportiren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben“ (S. 61). Caprivi mag das rhetorische Stilmittel der Übertreibung genutzt haben, um gegen die Schutzzollpolitik seines Vorgängers Bismarck zu argumentieren. Wirklich „überlebenswichtig“ wurden Exporte erst in der Weimarer Republik, als nach dem kriegsbedingten Verlust der deutschen Auslandsvermögen Außenhandelsbilanzüberschüsse dringend benötigt wurden, um zusätzlich zu den unverzichtbaren Importen von Nahrungsmitteln und Rohstoffen auch die durch den Versailler Vertrag auferlegten Reparationen finanzieren zu können. Nach Ansicht von Hesse hat sich in dieser Phase in Deutschland die gesellschaftliche Vorstellung verfestigt, dass das Schicksal des Landes auf Gedeih und Verderb mit den Erfolgen der Exportwirtschaft verbunden sei, und die derart herausgehobenen Exportunternehmen hätten diesen Topos seither immer dann aktivieren können, wenn sie die Politik zu wirtschaftspolitischen Zugeständnissen bewegen wollten. „Innerhalb der Wirtschafts- und Verwaltungselite der Bundesrepublik bildete sich hierbei eine ganz besondere rhetorische Dynamik heraus, die bei den kleinsten Anzeichen sinkender Exportüberschüsse in Alarmismus verfiel, bei den höchsten Exportüberschüssen dagegen fast penetrant zu Gelassenheit aufrief“ (S. 16).
Hesse diskutiert die verschiedenen Instrumente, die die deutschen Regierungen im Zeitverlauf ergriffen haben, um die deutsche Exportwirtschaft zu stützen: von der Einführung der Hermes-Bürgschaften und den „Russenkrediten“ in der Weimarer Republik über die Gründung der Bundesauskunftsstelle für den Außenhandel im Jahr 1951 bis hin zur nur verzögerten Aufwertung der D-Mark im System von Bretton Woods. Wie Hesse überzeugend demonstriert, ging selbst von der Entwicklungshilfe häufig eine exportfördernde Wirkung aus, weil die begünstigten Entwicklungsländer die finanziellen Hilfen vorrangig zur Einfuhr von Waren und Anlagen aus Deutschland einsetzten. Hesse gibt zu, dass nicht zu beziffern sei, wie hoch der Beitrag all dieser Maßnahmen zu den deutschen Exporterfolgen tatsächlich war. Insbesondere haben auch andere Länder zum Teil drastischere Mittel zur Exportförderung ergriffen, so dass die Maßnahmen der deutschen Regierungen, die auf den ersten Blick wie Begünstigungen aussehen, im internationalen Vergleich vielleicht eher dem Nachteilsausgleich dienten. Dass andere Länder ähnliche Mittel nutzten, wirft überdies die Frage auf, inwieweit die Exportobsession tatsächlich eine deutsche Besonderheit ist. Wie sieht es beispielsweise mit Japan, China und den asiatischen Tigerstaaten aus, deren Wirtschaftswachstum häufig mit starken Exportsteigerungen verbunden war? Spielen Exporterfolge dort nicht ebenfalls eine hervorgehobene Rolle, auch für das Selbstbewusstsein der Gesellschaften? Und ist es zulässig, aus der Beobachtung, dass es den britischen, französischen oder italienischen Unternehmen nach 1945 nicht gelungen ist, ähnlich große Exporterfolge zu erzielen, den Schluss zu ziehen, dass sie in diesen Ländern nicht so wichtig seien? Um Hesses Bild der Fußballweltmeisterschaft aufzugreifen: Auch Länder, die nicht (oder nur sehr selten) Fußballweltmeister werden, streben dieses Ziel mit ganzem Herzen an; denken wir beispielsweise an England. Ich bin daher nicht überzeugt, dass wir mit der Exportobsession wieder einmal einen deutschen Sonderweg gefunden haben. Vielleicht ist die von Hesse beobachtete politische Unterstützung für die Exportindustrie recht normal für Volkswirtschaften mit hohem Offenheitsgrad. Umso wichtiger ist es, die weiterhin unbeantwortete Frage zu klären, an welchen fundamentalen Faktoren es lag, dass die deutschen Unternehmen seit gut 150 Jahren so erfolgreich exportieren.
Hesse ist zuzustimmen, dass die Konzentration auf nationale Exportweltmeisterschaften von wichtigen Sachverhalten ablenkt. Erstens wird gerne übersehen, dass Exporterfolge mit erheblichen Umverteilungseffekten einhergehen können, wenn einerseits von den Arbeitnehmern zur Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Lohnzurückhaltung eingefordert wird und andererseits die Eigentümer der Exportunternehmen hohe Gewinne, ihre Topmanager ausufernde Gehälter erzielen. Zu fragen wäre deshalb, ob man vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit Exportweltmeisterschaft nicht kritischer als bisher gewohnt diskutieren sollte. Zweitens kann es laut Hesse irreführend sein, heutzutage noch in „nationalstaatlich codierter Sprache“ (S. 313) über außenwirtschaftliche Zusammenhänge nachzudenken. Güter werden nicht (mehr) ausschließlich in einem Land produziert und dann in andere Länder exportiert. Vielmehr sind die Wertschöpfungsketten global: Rohstoffe, Vorleistungsgüter, Komponenten und Zwischenprodukte werden permanent grenzüberschreitend ausgetauscht, oftmals innerhalb oder zumindest organisiert von multinationalen Unternehmen. Angesichts solch internationaler Vernetzung macht es wenig Sinn, den Wert der Exporte eines Landes als nationalen Leistungsausweis zu verstehen.
Obwohl der deutsche Außenhandel in der öffentlichen Wahrnehmung eine so große Rolle einnimmt, fehlte bisher eine kompetente wirtschaftshistorische Darstellung seiner Entfaltung über die letzten 150 Jahre. Hesse schließt mit seinem glänzend geschriebenen Buch diese Lücke. Eingeleitet durch eine profunde Einführung in die Außenhandelstheorie und -statistik beschreibt Hesse eine faszinierende Koevolution zwischen Politik und Wirtschaft, in der politische Entscheidungen zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn der deutschen Exportwirtschaft führten, durch den sie erst in die Lage versetzt wurde, weitere staatliche Begünstigungen einfordern und durchsetzen zu können. Die deutschen Regierungen profitierten immer wieder von dieser Entwicklung, weil sie ihren Wählern und Wählerinnen die Exporterfolge als positiven Leistungsausweis der staatlichen Wirtschaftspolitik verkaufen konnten.
Hesse regt mit seinem Buch dazu an, die Denk- und Handlungsmuster unserer Exportobsession hinter uns zu lassen und stattdessen ernsthaft und objektiv über die Ursachen und Folgen der historischen deutschen Exporterfolge nachzudenken. Jedem, der sich ernsthaft für deutsche Außenwirtschaft interessiert, empfehle ich diese inspirierende Monografie zur Lektüre.