Angesichts der für das beginnende 21. Jahrhundert so prägenden und zukunftsrelevanten Diskurse um Nachhaltigkeit, Klimawandel und die Folgen ressourcenintensiver Produktion und Konsumption – nicht nur, aber gerade auch von Lebensmitteln –, ist in den Geschichtswissenschaften seit einigen Jahren eine intensivierte Auseinandersetzung mit Themen rund um die Entstehung dieser heute so problematisch gewordenen Muster und Entwicklungen zu verzeichnen. Vor allem Fleisch, das hinsichtlich seiner kulturellen Symbolkraft – zumindest in den westlichen Industrienationen – einen enormen Wandel vom Ausdruck für Wohlstand zum Ausdruck für Ressourcenverschwendung und tierische Ausbeutung durchlaufen hat, wurde und wird derzeit in zahlreichen Publikationen einer Neubeleuchtung unterzogen. Wie es zu dieser starken Bedeutungsaufladung bzw. -verschiebung kam, haben jüngst so unter anderem Christian Kassungs „Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung“1, Veronika Setteles „Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute“2 oder der stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sammelband „Fleischwissen. Zur Verdinglichung des Lebendigen in globalisierten Märkten“3 nachgezeichnet.
Auch der hier zu besprechende Titel „Fleischkonsum und Leistungskörper in Deutschland 1850–1914“, basierend auf der Dissertationsschrift der Verfasserin Laura-Elena Keck, reiht sich in dieses sicherlich für eine Disziplin, die sich häufig mit der müßigen Frage nach der Relevanz ihrer Forschungen für die Gegenwart konfrontiert sieht, nicht zufällig so attraktiv gewordene Forschungsfeld ein. Tatsächlich kann angesichts der Buchveröffentlichung zunächst die kritische Frage gestellt werden, ob der Anstieg des Fleischkonsums im 19. Jahrhundert und die mit ihm verbundenen Diskurse gerade für Zentral- und Westeuropa nicht bereits ausgiebig wissenschaftlich behandelt wurden und überhaupt einer erneuten Analyse bedürfen. Keck bemerkt selbst, dass sich ihre Studie auf zahlreiche Vorarbeiten im Kontext der wissenschafts- und industriegeschichtlichen hygiene-, kultur- und technikbezogenen Rolle von Fleisch stützen kann. Auch das von der Verfasserin herangezogene Quellenkorpus gibt vor allem den Stimmen zentraler und daher bereits häufig analysierter Wissenschaftler wie Max Rubner, Max von Pettenkofer oder Carl von Voit, ebenso wie den der Forschung bereits häufig zugänglich gemachten Ausführungen der vegetarischen Bewegung breiten Raum. Dass es sich bei Laura-Elena Kecks Studie dennoch um ein höchst lesenswertes und wichtiges Buch handelt, ist daher nicht selbstverständlich und sowohl der äußerst dichten und komplexen Aufbereitung ihres Gegenstandes wie auch der sprachlichen Eloquenz und Sorgfalt der Autorin zu verdanken.
Die Verfasserin gliedert ihre Untersuchung, in der sie Fleisch „als eine Art verdichtete[n] Knotenpunkt des Ernährungs- und Leistungsdiskurses um 1900“ (S. 12) perspektiviert, nach einer gelungenen Verortung in wissens- und körpergeschichtliche Ansätze in drei übergeordnete Diskursstränge: Kapitel 2 befasst sich damit, wie „Natürlichkeit“ von fleischhaltiger bzw. nicht-fleischhaltiger Ernährung in den entsprechenden Publikationen in Stellung gebracht wurde. Kapitel 3 widmet sich – teils in seiner Detailliertheit etwas ermüdend – Fleisch als Eiweißquelle. Kapitel 4 erweitert den Korpus um neu aufkommende Auseinandersetzungen um die „Reizwirkung“ von Fleisch, während ein unter 5. erfolgender Exkurs zu „Leistung zeigen“ gerade für kulturwissenschaftlich interessierte Leser:innen spannende Einblicke in die ausgetragene Zurschaustellung rund um „Fleisch- und Pflanzenkörper im Wettstreit“ (S. 327) bietet.
Wie vielschichtig und umfassend Laura-Elena Keck das hier wie in einem Brennglas zu beobachtende Zusammenspiel unterschiedlichster zeitgenössischer Entwicklungen und Diskurse in ihrer Komplexität aufzuzeigen vermag, macht sie bereits in ihrem ersten Analysekapitel deutlich, in dem sie die Instrumentalisierungen des Argumentes der „Natürlichkeit“ aus allen und in alle Richtungen erläutert. Das Buch ist hier ebenso wie in den folgenden Kapiteln als eine Art Wissenschaftsgeschichte am Beispiel Fleisch zu verorten. Kecks Ausführungen zeigen, wie das Aufkommen, aber auch Ablösen neuer naturwissenschaftlicher ebenso wie anthropologischer und ethnologischer Erkenntnisse letztlich ein Potpourri aus (vermeintlichen) Belegen und Ideen ergab, dessen man sich zur Untermauerung der jeweils eigenen – seien es vegetarische oder Fleisch-verteidigende, aber auch soziale und politische, hier zunehmend rassistische und nationalistische – Anschauungen gerne und oft bediente. Ansätze aus der Evolutionstheorie ebenso wie essenzialisierende „Nationenvergleiche“ bezüglich der Leistungsfähigkeit – etwa einer pflanzenbasierten indischen und einer fleischlastigen britischen Esskultur – oder Schädel- und Gebissuntersuchungen sollten letztlich klären, ob Menschen nun „von Natur aus“ omnivor seien oder nicht. Kecks Verdienst ist es, die sich als roter Faden durch das Buch ziehenden Ambivalenzen all dieser Diskurse aufzuzeigen – nicht nur zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Ernährungsstile, sondern auch im Wettstreit zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, einzelnen Wissenschaftlern sowie teils auch deren sich im Laufe der Zeit und mit neuen Erkenntnissen wandelnden Anschauungen.
Fokussiert nimmt sie dies anhand der im Untersuchungszeitraum lange dominierenden Perspektive auf Fleisch als zentraler Eiweißquelle und damit als „Motor“ für die angesichts von Fabrikarbeit und Industrialisierung so wichtige Leistungssteigerung des menschlichen Körpers in Kapitel 3 über fast hundert Seiten – und damit etwas zu ausgiebig entlang der einzelnen Studien der damals renommiertesten Forscher – in den Blick. Dennoch verspricht auch hier die aus dem Buch heraus fast schon verblüffend deutlich werdende enge Verzahnung der damaligen wissenschaftlichen Ergebnisse mit ihrer anschließenden publizistischen und politischen Verbreitung intensive Einblicke in Technik-, Medizin- und Wissenschaftsentwicklung – gespickt mit durchaus auch zum Schmunzeln bringenden Stellen etwa beim Sprechen von „fehlernährten Kartoffelbäuchen“ (S. 182) oder der Untersuchung des von „Vegetariermägen“ vermeintlich in zu hoher Menge ausgeschiedenen Kots. Keck zeigt zudem anschaulich auf, wie das „Eiweißdogma“ nach und nach durch die „Kalorienfrage“ abgelöst wurde, bevor sie in Kapitel 4 auf das „reizende Fleisch“ (ab S. 253) und damit eine auch von der historischen Forschung bislang noch kaum in den Blick genommene Verschiebung im Diskurs um das Lebensmittel im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeht. Fleisch wurde hier nicht nur als Nahrungs-, sondern vor allem als Genussmittel klassifiziert, was die ausgiebige Untersuchung seiner – eben angenommenen reizenden – Wirkung auf das menschliche Nervensystem bedingte, die wiederum teils negativ, teils positiv ausgelegt wurde. Hieraus erklärt sich teilweise auch der von der Lebensreformbewegung verfolgte Verzicht auf eben dieses „Genussmittel“, was Keck gewinnbringend auch in eine zunehmende „Somatisierung der Gefühle“ (zit. nach Frevert 2011)4 um die Jahrhundertwende einordnet, basierend auf der „Abstimmung der eigenen Gefühle mit der jeweiligen Ernährungstheorie“ (S. 288).
Was in Laura-Elena Kecks Arbeit wenig transparent wird, sind die Auswirkungen der unterschiedlichen Studien, Theorien und Diskurse auf Alltagskulturen. Dies ist der Konzentration auf das Quellenkorpus, aber auch dem grundsätzlich in der historischen Ernährungsforschung bekannten problematischen Fehlen von Egodokumenten aus der breiten Bevölkerung geschuldet, aus denen sich auf das konkrete Essverhalten schließen ließe. Im Zentrum stehen vielmehr, wie sie auch selbst als Limitierung anmerkt, innerwissenschaftliche, bürgerliche und damit der Zeit geschuldet in erster Linie männliche Perspektiven auf Fleischkonsum und Leistungskörper. Auch der Versuch, aus Ratgebern, Nährwerttafeln, Kochbüchern etc. in Kapitel 3.2 individuellen Haushaltspraktiken nachzuspüren, fällt daher mit Blick auf das tatsächliche Handeln zwar unbefriedigend aus. Was aber fast noch bedeutender ist, ist der kulturelle Bewusstseinswandel, den die Autorin anhand ihrer Quellen und besonders aufschlussreich nochmals anhand der sportlichen Wettbewerbe in Kapitel 5 aufzeigt: nämlich die sich allmählich in den Köpfen verankernde und letztlich auch die heutige Gesellschaft noch maßgeblich prägende Normierung von Ernährung zur „Herstellung“ eines gesunden, fitten Leistungskörpers. Von der bürgerlichen Küche ausgehend setzte, angetrieben durch die beschriebenen Studien und Entwicklungen, auch in Arbeiter:innenhaushalten zunehmend eine nicht immer bewusste, aber dennoch kulturprägende „Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper, dessen Funktionsweise und gewünschten Eigenschaften mit ein und trug dadurch dazu bei, die entstehende Verbindung zwischen menschlicher Leistungsfähigkeit und Ernährung zu festigen, im Alltag zu verankern und ihre eine neue Selbstverständlichkeit zu verleihen“ (S. 222).
Eben diese Selbstverständlichkeit als historisch gewachsen und auf bestimmten wissensgeschichtlichen Entwicklungen und Diskursen basierend zu erklären und damit auch zu dekonstruieren, gelingt Laura-Elena Keck hervorragend. Dies wiederum macht ihre Studie auch über die geschichtswissenschaftliche Disziplin hinaus höchst anschlussfähig für gegenwärtige Fragen und Studien rund um Selbstoptimierung, Körperbilder und eben auch die eingangs erläuterte Nachhaltigkeit – vor allem in sozialer Hinsicht.
Anmerkungen:
1 Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte eine Industrialisierung, Paderborn 2021.
2 Veronika Settele, Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute, München 2022.
3 Gunther Hirschfelder u.a. (Hrsg.), Fleischwissen. Zur Verdinglichung des Lebendigen in globalisierten Märkten, Göttingen 2024.
4 Ute Frevert, Gefühle definieren. Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten, in: dies. u.a. (Hrsg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt am Main 2011, S. 10–40, hier S. 30.