A. Denzler: Straßen im 16. Jahrhundert

Cover
Titel
Straßen im 16. Jahrhundert. Erhalt – Nutzung – Wahrnehmung


Autor(en)
Denzler, Alexander
Reihe
Ding, Materialität, Geschichte
Erschienen
Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
539 S., 60 Abb.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lina Schröder, Lehrstuhl Fränkische Landesgeschichte, Universität Würzburg

„Die gute Straße – danach strebten auch die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts“ (S. 456). Mit diesem Satz beginnt Alexander Denzler zutreffend die Schlussbetrachtung seiner Habilitationsschrift. In dieser fokussiert der Autor die außerurbanen Straßen nicht – wie bisher in Verkehrs- und Infrastruktur-Geschichte (ISG) üblich – in erster Linie als Transport- und Verbindungslinien, die es Menschen, Waren und Nachrichten ungeachtet aller (baulichen) Widrigkeiten ermöglichten, von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Stattdessen analysiert er ihre vielfältigen Erscheinungsformen, Nutzungsweisen, Instandhaltungspraktiken und Aneignungsformen durch Menschen zahlreicher Statusgruppen in Abhängigkeit von der Natur (Kapitel 1, S. 58). Damit bricht Denzler mit der gängigen „Fließmetapher“, die sowohl die Verkehrs- als auch ISG bis heute dominiert, da dort vor allem der Austausch von Menschen, Waren, Nachrichten oder Ideen unter der Prämisse des Fließens im Kontext des Verkehrs im Vordergrund steht.1 Denzler unterstreicht damit zugleich einmal mehr, dass Infrastruktureinrichtungen eine weitaus komplexere Verankerung innerhalb der Gesellschaft aufweisen, als es die Reduktion auf die sogenannten „Fließmetapher“ suggeriert.

Sein umfangreiches Werk gliedert er bis zur Schlussbetrachtung in sechs Kapitel. Nach der Einleitung (Kapitel 1), welche die Lesenden unter anderem über Forschungsstand, Fragestellung und das methodische Vorgehen des Autors informiert, widmet er sich – unter anderem ausgehend von der die Verkehrsgeographie dominierenden Straßentypologie Dietrich Deneckes sowie von zahlreichen kartographischen Darstellungen – seinem Thema aus einer praxeologischen Perspektive, indem er insgesamt fünf Untersuchungsfelder im Kontext der Straße fokussiert: Visualisierung und Begriffe (Kapitel 2), Reisen (Kapitel 3), Materialität (Kapitel 4), Herrschaft (Kapitel 5) sowie Mikromobilität (Kapitel 6). Hierdurch wird es, wie Denzler richtig ausführt, möglich, die großen und kleinen Straßen als Kontaktzonen und damit als „dynamischen, essentiellen Bestandteil vormodernen Lebens und Herrschens zu ergründen“ (S. 58). Anstelle der Konzentration auf den Verkehrsfluss geraten so beispielsweise die Ausstattung (Wegkreuze, Bildstöcke, Gräben etc.), Nutzungsbedingungen sowie -schwierigkeiten im Zusammenhang mit Straßen in den Blick, die, so Denzlers Ausgangsüberlegung, oft weniger aus der baulichen Qualität, sondern zuvorderst aus der Verletzlichkeit und Angreifbarkeit (zum Beispiel Krieg, Naturgefahren) der menschlichen und tierischen Körper resultierte (S. 58f., S. 64f.).

Als Untersuchungsraum nimmt er schwerpunktmäßig das sehr ländlich geprägte Oberdeutschland (Schwaben, Franken und Bayern) zum Ausgang, das bereits im 16. Jahrhundert eine Pluralität an Straßen und Wegen aufwies. Damit fokussiert er für seine Analyse der straßenorientierten Interessen und Bedürfnisse einen Raum, der einerseits von Herrschaftsvielfalt geprägt war (territorium non clausum) und andererseits in jener Zeit eine territoriale Verdichtung erfuhr. Mit der Reichsstadt Nürnberg ist dabei ferner auch ein vormoderner Verkehrsknotenpunkt vertreten.

Dem praxeologischen Ansatz und der Komplexität seines Untersuchungsgegenstandes folgend, bedient sich Denzler überzeugend eines disparaten Quellenkorpus: Es enthält unter anderem Verwaltungsakten, Rechnungsbücher als „kognitive Artefakte“ (S. 265), Dorfordnungen, Itinerare, Reiseberichte und medizinische oder theologische Ratgeber. Insbesondere medizinische und theologische Schriften wurden im Kontext der Straßen- und Infrastrukturforschung bis dato vernachlässigt. Gerade aus praxeologischer Sicht geben sie jedoch über vielerlei Aspekte des „Doing Mobilität“ Auskunft. Beispielsweise wurden dort Möglichkeiten und Grenzen der Fortbewegung reflektiert und klassifiziert. Wichtige Aspekte waren dabei Wetter- und Natureinflüsse wie zum Beispiel verschiedene Jahreszeiten oder Unwetter. Auch gab es einen Unterschied bezüglich des Reisens mit und ohne Post; bezüglich der guten und schlechten Wege zu Land und zu Wasser spielten wiederum Wegkundige eine wichtige Rolle. Ebenso enthalten waren Distanzangaben und Informationen bezüglich der (Selbst)vergewisserung der Reiseleistung: die Reflexion der körperlichen Anstrengungen und der Reiseerfahrung, potentielle (Lebens)Gefahren, (Un)Planbarkeiten, durch Naturereignisse beeinflusste Reisegeschwindigkeiten (Lawinen, Steinschläge, Wellengang etc.), Angaben zum Mensch-Tier-Verhältnis, zur Reisememoria oder -sicherheit (S. 222). Mithilfe dieser systematischen Erweiterung der Perspektive auf das Reisen hinterfragt Denzlers Studie zugleich den bisherigen Forschungskonsens, dass außerurbane Straßen durchweg in einem „miserablen“ Zustand gewesen seien, erst recht im Vergleich zur Zeit des „glorreichen Chausseen-Baus“ im 18. Jahrhundert. Stattdessen gelingt ihm durch die in den einzelnen Kapiteln eingenommenen verschiedenen Perspektiven ein Bild vormoderner Straßen zu zeichnen, das den naturräumlichen und materiellen Bedingungen Raum gibt und jenseits der gängigen Fließmetapher das ständige Wechselspiel zwischen dem natürlich gegebenen und dem vom Menschen materiell geschaffenen Raum in den Vordergrund rückt. Dabei fokussiert er nicht nur das Unterwegssein sozialer Eliten, sondern zeigt, dass auch sesshafte Untertanen von und mit der Straße lebten (S. 55f.).

Es wird ferner deutlich, dass Straßen einen ähnlichen Arbeitsturnus wie beispielsweise das Deichwesen erforderten (Kapitel 4). Zur Kontaktzone „Straße“ gehörten auch zahlreiche weitere Bauten wie etwa Brücken, Gasthäuser, Gräben, Böschungen, Kreuze oder Bildstöcke – sie alle sind Bestandteil der „sorg und arbeit des wegs“ (Kapitel 3) und fanden in zahlreichen kartographischen Darstellungen ihren Platz (Kapitel 2). Die Vielfalt der bereits damals sich in Gebrauch befindlichen Darstellungsformen (Augenscheine, Straßenkarten, Landesaufnahmen) unterstreicht die Bedeutung der Straße als alltäglicher Bestandteil des Lebens. Obgleich die in der Kartographie visualisierten Wegstrecken in der Regel über Generationen von Menschen genutzt wurden, blieb deren Nutzungsintensität nie gleich und konnte allein aufgrund der Jahreszeit, aber erst recht durch kriegerische Ereignisse in anderen Gebieten erheblich variieren. Temporalität und Nichtbeständigkeit müssen im Kontext der überlieferten Karten somit stets mitgedacht werden, sie ließen sich naturgemäß nicht ständig aktualisieren (S. 142f., S. 259). Jedes Dorf war indes Zentrum der Instandhaltung der Verkehrsinfrastruktur, „jeder Bewohner Teilnehmer an diesem Vollzugsgeschehen“ (S. 406): Bei Straßen und Wegen handelte es sich wie bei Allmenden und Gemeindewäldern um „gemeines Gut“ (Kapitel 6). Insbesondere zur Organisation und Umsetzung der Fronarbeit gibt es jedoch bisher kaum Forschung, womit an dieser Stelle laut Denzler ein größeres Desiderat besteht (S. 464f.).

Auch die Straße stellte, ähnlich wie das Deichwesen Herrschaft durch Landgewinnung und -festigung erst ermöglichte, eine obrigkeitliche Basis dar: Ohne Straßen konnte, so resümiert Denzler, im 16. Jahrhundert nur schwerlich geherrscht werden. Zu wichtig waren sie für die innerterritoriale Organisation, etwa für die Versorgung der eigenen Städte und Dörfer (Kapitel 5, S. 317). Straßen waren damit Anlass für spezifische Sicherheitsdiskurse, Konflikte zwischen einzelnen Herrschaften, für Visitationen und Beschwerden. Denzlers Analysen zeigen, dass sich die Zeitgenossen der von schlechten Straßen ausgehenden Fernwirkungen (Verlagerung des Verkehrs auf andere Straßen, unerlaubtes Befahren an der Straße liegender Äcker etc.) durchaus bewusst waren (S. 323, S. 399).

Denzlers Studie liefert einen sehr detaillierten Einblick in die Organisation und Gestaltung des vormodernen Verkehrs. Dabei gelingt es ihm, über die breite Quellenauswahl und den methodischen Ansatz ein anderes Bild der vormodernen Straßen zu präsentieren, das er durch seine gut lesbaren Kartenausschnitte und Diagramme zusätzlich veranschaulicht. Im Sinne der Ressourcennachhaltigkeit eine schöne Idee stellt dabei auch ein abgedruckter QR-Code dar (S. 73), der den Lesenden einen leichteren Zugriff auf online verfügbare Digitalisate ermöglichen soll. Denzler begreift vormoderne Straßen als Kontaktzonen, wo Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft sowie Geschlechts und verschiedener Intentionen miteinander in Berührung kamen. Gerade auch mit Blick auf die Verkehrs- und ISG liefert Denzlers Studie zahlreiche neue Aspekte und Anknüpfungspunkte: Wie andere Infrastruktureinrichtungen auch lassen sich Straßen eben nicht nur auf einen Fließvorgang reduzieren beziehungsweise über einen solchen in ihrer Funktion erklären.

Anmerkung:
1 Vgl. bezüglich der ISG etwa Dirk van Laak, Alles im Fluss, Frankfurt am Main 2018; Gerrit Jasper Schenk, ‚Knoten‘ im ‚Netz‘? Überlegungen zur Hafenstadt als ‚kritischer Infrastruktur‘, in: Peter Ettel / Achim Thomas Hack (Hrsg.), Sonderdruck RGZM – Tagungen/39 (Interdisziplinäre Forschungen zu den Häfen von der Römischen Kaiserzeit bis zum Mittelalter in Europa 7), Mainz 2019, S. 207–236; Gerrit Jasper Schenk / Stephanie Eifert, ‚Kritische Infrastrukturen‘ als Ergebnisse individueller und kollektiver Kritikalitätszumessungen – ein Ansatz für die Mediävistik?, in: Jens Ivo Engels / Alfred Nordmann (Hrsg.), Was heißt Kritikalität? Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen, Bielefeld 2018, S. 47–96.

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