Erfahrungsgeschichtliche Aspekte der Einwanderung in die Bundesrepublik sind immer noch ein Desiderat in der zeithistorischen Forschung, umso mehr, wenn es sich dabei um Migrationserfahrungen von Frauen handelt. Thaisa Cäsar hat sich im hier vorzustellenden Buch, hervorgegangen aus ihrer Masterarbeit, mit der Einwanderung von Frauen nach Wolfsburg im Zeitraum zwischen 1960 und 1990 beschäftigt. Die Arbeit basiert neben schriftlichen Archivalien weit überwiegend auf Interviews, die 2022/23 am Wolfsburger Institut für Stadtgeschichte geführt wurden und im Stadtarchiv Wolfsburg aufbewahrt sind.
Die Autorin eröffnet programmatisch mit einem von ihr nach wie vor für aktuell gehaltenem Zitat von Monika Mattes aus dem Jahr 2002, die damals bereits darauf hingewiesen hat, dass Frauen im Rahmen der Forschung zur „Gastarbeits“-Einwanderung weder als Akteurinnen noch als eigenständige Gruppe mit spezifischen Migrationsbedingungen und Ankunftssituationen wahrgenommen wurden.1 Diese Forschungslage, die sich unterdessen immerhin ansatzweise geändert hat2, dient Cäsar als Motto und Movens ihrer Arbeit. Die Einleitung besteht aus einer knappen Klärung der Begriffe Migration, Integration und Emanzipation. Da sich die Autorin besonders für die Agency der Migrantinnen interessiert, orientiert sie sich am Aspirations-Capabilities Framework, mit dem sich individuelle Migrationsprozesse ausgehend von aktiven Entscheidungen analysieren lassen, die durch Hoffnungen und Fähigkeiten gleichermaßen geprägt werden.3 Den politisch umstrittenen, häufig instrumentalisierten Begriff der Integration, der mehr Kampfbegriff gegen Migrant:innen als wissenschaftliche Analysekategorie ist, nutzt die Autorin unter Bezugnahme auf systemtheoretische Erwägungen, um zu verstehen, wie die Frauen selbst ihn wahrgenommen haben und wie sie mit den damit verbundenen Anforderungen umgegangen sind. Emanzipation, hier vor allem verstanden als Ermöglichung von Handlungsspielräumen, dient ihr als Bewertungsgrad für das Empowerment der Frauen im Migrationsprozess.
Zentrale Quellengrundlage sind neun Interviews mit Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen und verschiedenen europäischen oder außereuropäischen Herkunftsländern nach Wolfsburg kamen (und dort blieben), in eine Stadt, deren Arbeit wegen der Dominanz der Autoindustrie bisher überwiegend als männlich und deren migrantische Bevölkerung überwiegend als italienisch wahrgenommen wurde.4 Die Protagonistinnen stammen aus Argentinien, Bolivien, Griechenland, Italien, dem ehemaligen Jugoslawien und heutigen Nordmazedonien, Polen und Spanien – also keineswegs nur aus den Ländern der „klassischen“ Arbeitsmigration. Die Autorin unterteilt die neun Frauen in drei Gruppen: zwei der Befragten waren offiziell angeworbene Arbeitsmigrantinnen (aus Nordmazedonien und Spanien), vier Frauen bezeichnet Cäsar als individuell migrierte Frauen, die sich eigentlich Beziehungsmigrantinnen nennen ließen, da sie als Teil von Familien, Ehen oder Liebesbeziehungen auswanderten (aus Italien, Griechenland und Spanien), und schließlich definiert sie drei Frauen als unabhängige Migrantinnen, die aus politischen oder ökonomischen Gründen in die Bundesrepublik einwanderten (aus Bolivien, Argentinien und Polen). Dieser sehr knappe Überblick belegt bereits die Diversität der betrachteten Gruppe in Bezug auf die Herkunftsländer, die Wege und die Motive.
Die Interviews, die ihre wesentliche Quellengrundlage darstellen, bezeichnet Cäsar etwas missverständlich als Sekundärinterviews. Vermutlich möchte sie damit ausdrücken, dass sie die Interviews nicht selbst geführt hat. Es handelt sich also um archivierte mündliche Quellen, die – wie alle anderen Quellen – kritisch reflektiert werden müssen.5 Im methodischen Teil legt die Autorin zudem offen, dass sie die Interviews lediglich auf der Basis der Transkripte ausgewertet hat. Das machen zwar viele Forscher:innen, ohne es eigens zu erwähnen. Zu bedauern ist es dennoch, da die Transkripte die prägenden Aspekte von Interaktion, Emotion und subjektiver Bedeutung der Aussagen nie hinreichend abbilden. Zudem sind es lediglich wenige Interviews, und obwohl nicht angegeben ist, wie lang sie waren, lassen sich neun Interviews durchaus einmal anhören / ansehen, um sich einen Eindruck von Tonfall, Stimme, Sprechtempo und anderen hörbaren Aspekten der Persönlichkeit der Interviewten (und der Interviewer:innen) zu verschaffen.
Die Autorin hebt die besondere Bedeutung der Agency der von ihr in den Fokus gerückten Frauen heraus. Sie hätten sich in außergewöhnlicher Weise für einander und für andere eingesetzt, ohne dabei auf ethnisch definierte Gruppengrenzen zu achten. Cäsar betont dabei vor allem das soziale Engagement der Frauen, die sich in ganz unterschiedlichen Kontexten engagiert hätten, was ihnen die Integration erleichtert habe. Dabei habe das Spektrum von eher traditioneller ethnischer Essenzubereitung bis hin zu selbstorganisierter medizinischer Versorgung gereicht. Die befragten Frauen können also Erfolgsgeschichten erzählen, was es ihnen erleichtert hat, ein Interview zu geben. In diesem Zusammenhang wäre es interessant gewesen zu wissen, wie viele Interviews insgesamt entstanden sind und ob Anfragen für solche Interviews abgesagt wurden oder unbeantwortet blieben. Trotz dieser vielleicht nicht nur für ausgefuchste Oral Historians relevanten Fragen ist das Buch zu empfehlen. Für diejenigen, die an Verbindungen von Migrations- und Stadtgeschichtsschreibung interessiert sind und keine Scheu vor den Ansprüchen und Herausforderungen mündlicher Quellen haben, lohnt sich die Lektüre nicht nur aus inhaltlichen Gründen, sondern auch deshalb, weil Cäsar einen erfrischend engagierten Schreibstil pflegt. Der Titel „Ungesehen“ symbolisiert die Begeisterung, mit der sie auf das mangelnde Wissen und die fehlende Anerkennung der Erfahrungen und Leistungen von Migrantinnen aufmerksam machen möchte – und zwar nicht nur die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch die Migrantinnen selbst, von denen einige, wie aus den Interviews hervorgeht, nicht den Eindruck hatten, Relevantes beitragen zu können.6 Thaisa Cäsars Buch widerlegt dies anschaulich.
Anmerkungen:
1 Monika Mattes, Hindernisse und Strategien der staatlichen Anwerbung von „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik 1955–1973, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 105–121.
2 Vgl. dazu – als Beleg dafür, dass weibliche Migration als eigenständiges Thema über das Feld von Expert:innen hinaus zur Kenntnis genommen wird – etwa das Kurzdossier „Frauen in der Migration“ der Bundeszentrale für politische Bildung, 13.11.2018, https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/280212/frauen-in-der-migration/ (11.07.2024); Barbara Lüthi, Was kommt nach dem „transnational turn“? Migration Studies und Migrationsgeschichte in der Zeitgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70 (2022), S. 8–17.
3 Hein De Haas, A Theory of Migration. The Aspirations-Capabilities Framework, in: Comparative Migration Studies 9 (2021), Article 8, https://doi.org/10.1186/s40878-020-00210-4 (11.07.2024).
4 Einen exemplarischen Einblick in die Zusammensetzung der nach Wolfsburg zugewanderten Menschen (und in damit verbundene Objektgeschichten) bieten Alexander Kraus / Aleksandar Nedelkovski (Hrsg.), Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs, Hannover 2020; rezensiert von Andreas Ludwig, in: H-Soz-Kult, 22.03.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94574 (11.07.2024).
5 Vgl. dazu den Themenschwerpunkt „Zeitzeugenschaft und mündliche Erinnerung. Chancen und Probleme der Sekundäranalyse von Interviews und Ego-Dokumenten zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit“, in: Westfälische Forschungen 65 (2015), S. 237–333.
6 Vgl. dazu Karen Hagemann, „Ich glaub’ nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab …“ Oral History und historische Frauenforschung, in: Herwart Vorländer (Hrsg.), Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, S. 29–48.