Cover
Titel
Viel Lärm um nichts. Eine Wahrnehmungsgeschichte des Nichtstuns in der Bundesrepublik


Autor(en)
Robel, Yvonne
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2024: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
426 S., 10 Abb.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Stoff, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Das Wortfeld des Nichtstuns ist komplex: Muße, Müßigkeit, Faulheit, Trägheit, Ruhe, Erholung, um nur die wichtigsten zu nennen, sind dabei durch feine semantische Unterschiede gekennzeichnet, die wiederum durch kleinste historische Verschiebungen ständigen Veränderungen unterliegen. Als in den transatlantischen Gesellschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts die messbare Arbeitsleistung zur anthropologischen Kategorie wurde – der Hygieniker Max von Pettenkofer sprach 1873 etwa davon, dass der „Wert unseres Lebens“ von menschlicher Leistung und Leistungsfähigkeit abhänge1 –, wurde auch das Nichtstun moralisch wie arbeitsökonomisch neu verhandelt. Friedrich Nietzsche verteidigte wenige Jahre später die Muße – die vita contemplativa – vehement gegen jene „atemlose Hast der Arbeit“, die er als ein Laster der Neuen Welt verstand. Sehr genau markierte er, dass das Nichtstun nun mit einem „schlechten Gewissen“ verbunden und einzig als physiologisches „Bedürfnis zur Erholung“ legitimiert werde.2 In der Tat wurde an der langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausgiebig über Leistung und Erholung diskutiert. Wie aber veränderte sich der Diskurs in jenen Gesellschaften, die dann vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich mehr arbeitsfreie Zeit bei steigendem Wohlstand zu ermöglichen schienen?

Die Hamburger Zeithistorikerin Yvonne Robel hat sich in ihrer kulturhistorisch angeleiteten „Wahrnehmungsgeschichte des Nichtstuns in der Bundesrepublik“ die außerordentliche Mühe gemacht, exakt jenes diskursive Feld in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft zu rekonstruieren, das die öffentliche Debatte und auch den Streit über das Nichtstun ausrichtete. Dabei distanziert sie sich einleitend von der Linearität einer Disziplinierungsgeschichte, die Muße, Müßiggang und Nichtstun – das „Recht auf Faulheit“, wie es Paul Lafargue 1883 ausgerufen hatte – als reaktive Protest- und Widerstandsformen deutet. Stattdessen geht es ihr darum, die Widersprüche herauszuarbeiten, welche die Wahrnehmung des Nichtstuns vor allem in den 1950er- bis 1980er-Jahren prägten. Explizit weist sie auch Thesen eines großen Bruchs in den 1970er-Jahren zurück und fokussiert vielmehr auf kontinuierliche Deutungsverschiebungen. Eine Analyse der Semantiken, Narrative und Repräsentationen des Nichtstuns könne so wiederum Aufschluss über gesellschaftliche Transformationsprozesse geben (S. 17, 21, 25).

Robel hat dazu ein höchst beeindruckendes Ensemble an Quellen unterschiedlichster Art gesucht und gefunden. Diese stammen aus zahlreichen Archiven, umfassen aber auch Zeitschriften und Fanzines, parlamentarische Drucksachen, Filme, Musikproduktionen, Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie natürlich Monografien und Artikel. Ergänzt wird dies durch aktuelles Online-Material. Gerade die Diversität und Heterogenität der Quellen erlauben es, die Komplexität des Diskurses offenzulegen, die auch in der Bedeutungsvariabilität der Begriffe aufgehoben ist. Kritik und Lob des Nichtstuns erscheinen dabei als historisch veränderliche Äußerungs- und Identifikationsmöglichkeiten in einer Gesellschaft, der die Widersprüche von Leistung und Erholung, von Arbeit und Freizeit, von Produktion und Konsum, von Aktivität und Faulheit innewohnen. So wie in der Nachkriegszeit die Muße geradezu sehnsuchtsvoll dargestellt und im imaginierten Süden verortet wurde, ihr damit auch eine gewisse „natürliche“ Ursprünglichkeit zugesprochen wurde, galt ebenso auch das bildungsbürgerliche Verdikt einer zumal männlich konnotierten schöpferischen Muße oder gar Faulheit. Sowohl Lob als auch Tadel der Faulheit waren entsprechend durchgängig mit einer Kritik des passiven Konsums und der Forderung nach einer aktiven Aneignung jener Zeit verbunden, die nicht arbeitsam verbracht wird.

Auf welche Weise die freie Zeit ausgefüllt werden sollte, war seit Ende der 1950er-Jahre eine immer wieder aufgeworfene Frage. Ob sich in den prosperierenden transatlantischen Gesellschaften sogar eine „Demokratisierung des Müßiggangs“ anbahne, wurde vor allem in den 1960er-Jahren diskutiert und erhofft (S. 165–167). Auf jeden Fall musste die „Freizeit“ geplant und organisiert werden. Entsprechende Bedeutung kam im Laufe der 1970er-Jahre dann auch einer Freizeitpädagogik zu (S. 188–195), die allerdings die Notwendigkeit des Nichtstuns anerkannte. Wenn die Arbeits- und Leistungsgesellschaft Erholung benötigte, dann brauchte die dynamisierte Konsumgesellschaft wiederum eher Inhalt und Sinn, wohl auch „Entschleunigung“, wie es dann in den 1990er-Jahren ausbuchstabiert wurde. In Ratgeberschriften wurden die Muße und der Verzicht ebenso wie Zeit- und Selbstmanagement zu individualisierten Glückstechniken in jenen Gesellschaften, deren Funktionen seit den 1950er-Jahren zunehmend als „stressig“ dargestellt wurden und denen die Zeit an sich abhandengekommen zu sein schien.

Auch wenn die Freizeit tendenziell zunahm und Technisierung sowie Automatisierung der Muße zuzuspielen schienen, galten Arbeitsamkeit und Leistungsbereitschaft weiterhin als besondere Tugenden, die als „deutsche Mentalität“ verstanden wurden. Sogenannte Arbeitsscheue wurden von den Behörden schikaniert und zwangsdiszipliniert. Noch bis 1969 existierten Arbeitshäuser zur Unterbringung von „Asozialen“. Und auch die in den frühen 1960er-Jahren auftauchende, abwertend so bezeichnete Gruppe der „Gammler“, für die sich die Medien ebenso wie die Sozialwissenschaften sehr interessierten, wurde von einem Mob braver Bürger und Bürgerinnen drangsaliert. Dies ist in Peter Fleischmanns 1966 in München produziertem Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“ mitanzusehen, wo sich manche einen „kleinen Hitler“ wünschten, um das Problem des Nichtstuns zu lösen. Das Ärgernis dieser müßiggehenden Jugendlichen war auch deshalb so groß, weil diese sich – ähnlich wie knappe 20 Jahre später die Punks – dabei sichtbar im öffentlichen Raum aufhielten. Dass so auch Gesellschaftskritik ausgedrückt werden konnte, zeigte sich seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, als immer mehr junge Menschen Nichtstun als Akt der Konsum- und Leistungsverweigerung interpretierten. Der Held Martin aus May Spilsʼ 1968 erschienenem Erfolgsfilm „Zur Sache, Schätzchen“, der wohl eher in eine Reihe anderer durchaus kreativ Herumhängender einzuordnen ist, die in Literatur und Film Müßiggang als Lebensstil zelebrierten, praktizierte hingegen vor allem einen Rückzug aus den Zumutungen einer allzu umtriebigen und geschäftigen Schwabinger Popwelt.

In einem ausführlichen, fast 100-seitigen Kapitel fasst Robel dann auch alle jene jugendlichen und politischen Gruppierungen zusammen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren das Nichtstun zu einer Form des politischen Protests machten. So organisierte die undogmatisch linke Alternativszene 1978 den Tunix-Kongress in West-Berlin (S. 222–226), und die sich in der Bundesrepublik erst in den 1980er-Jahren so richtig etablierende Punkszene propagierte ein Recht auf Freiheit sowie Arbeitsverweigerung, ja eigentlich sogar Totalverweigerung jenseits der Leistungs- und Konsumzwänge. Aber die Kritik am Nichtstun richtete sich auch auf jene in den Boulevardmedien ausgiebig dargestellten reichen Privatiers und Erben, die, anstatt produktiv zu sein, auf der Flucht vor der Langeweile ein Jetset-Leben führten. Der Vorwurf der Dekadenz war dabei mit der Angst vor einem zivilisatorischen Niedergang verbunden, wie Robel sehr anschaulich darstellt – anhand des 1971 ausgestrahlten dystopischen ARD-Zweiteilers „Dreht Euch nicht um, der Golem geht um. Oder: Das Zeitalter der Muße“ (S. 173f.).

Auch wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte Motive des Lobes oder der Kritik des Nichtstuns dominierten, so kann das Fazit der Autorin interpretiert werden, erlaubt ein detaillierter Blick auf Diskurse der Muße, der Faulheit oder des Müßiggangs vor allem, Dynamiken eines gesellschaftlichen Gefüges herauszuarbeiten. Dabei wurden ältere Narrative ebenso aufgegriffen wie jeweils hegemoniale Problematisierungen – etwa eine stärker ausformulierte Zukunftsskepsis in den 1970er-Jahren oder die zunehmende Bedeutung der gesundheitspräventiven Selbstsorge seit den 1980er-Jahren. Yvonne Robels Schlusswort, mit dem Nichtstun werde weiterhin viel Lärm verbunden sein, kann nur zugestimmt werden. Dazu reicht bereits ein eiliger Blick auf die ermüdend repetitiven täglichen Online-News, die sich teils affirmativ, teils kritisch mit den neuesten Trends des Nichtstuns befassen.

Wenn es an diesem vor interessanten Belegen überquellenden Buch irgendetwas zu kritisieren gibt, dann höchstens, dass Donald Duck, der Großmeister des Müßiggangs, der einen besonders starken Einfluss auf die Generation der in den 1970er- und 1980er-Jahren sozialisierten jungen Menschen hatte, nicht eigens gewürdigt wird. Aber das kann ja noch jemand anderes tun. Wer auch immer Zeit dafür hat.

Anmerkungen:
1 Max von Pettenkofer, Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt. Zwei populäre Vorlesungen, gehalten am 26. und 29. März 1873 im Verein für Volksbildung in München, Braunschweig 1873, S. 3.
2 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Chemnitz 1882, S. 249f.