Was macht preußische Staatsmänner zwischen 1740 und 1806 – und dann besonders in Hinblick auf die nahende Reformzeit – staatsmännisch? So lautet die Ausgangsfrage in der Einleitung von Georg Eckert und Carola Groppe. Dabei legen sie dar, warum sie „Staatsmänner“ zu einem hermeneutischen Begriff machen und diesen von Pfarrern oder Militärs abgrenzen wollen. Zudem betonen sie vor allem historische Kontinuitätslinien vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert und grenzen sich damit bewusst von älteren Heldenerzählungen ab, in denen neue Männer den preußischen Staat in der „Stunde Null 1806“ aus der Not gerettet hätten (S. 3).
Der Band verfolgt einen sehr offenen Ansatz und lässt sich nur schwer einem Forschungsfeld zuordnen. Ziel ist es, „erste tastende Antworten“ auf die Leitfragen zu erhalten, was „staatsmännisch an den Staatsmännern gewesen sei“, was ein spezifischer Habitus dieser Gruppe und was preußisch an ihnen war (S. 2f.). Zudem lautet die Zielstellung, „weitere heuristische Anhaltspunkte“ zu generieren. Maßgeblich baut er auf den umfangreichen sozialhistorischen Forschungen Rolf Straubels zu den preußischen Beamten auf.1 Neu an dem hier gezeigten Ansatz ist dessen eingenommene Multiperspektivität: So wird nicht nur die Sozialisation einzelner Personen von sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachtet, sondern es spielen ebenso habituelle (Gruppen-)Dynamiken eine Rolle.
Die Herausgeber:innen untergliedern den Band in vier Abschnitte: Bildungswelten, Denkwelten, Handlungswelten und Karrierewelten. Im ersten Abschnitt der Bildungswelten beschäftigt sich Jonas Flöter mit drei „Bildungsreformern“ – den in Kursachsen wirkenden Johann August Ernesti (1707–1781) sowie den beiden in Berlin wirkenden Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742–1800) und Friedrich Gedike (1754–1803). Flöter zeichnet das Leben sowie Wirken der drei Persönlichkeiten nach und versucht sich damit an einem sächsisch-preußischen Vergleich, wobei am Ende eher unklar bleibt, warum die Auswahl dieser drei Personen erfolgte und zu welchem Ergebnis dieser Vergleich führen soll. Ganz anders liest sich dagegen der ebenfalls im Abschnitt „Bildungswelten“ angesiedelte Beitrag Julia Kurigs zu den beiden späteren preußischen Reformern Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) und Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767–1839). Kurig zeichnet in ihrem Beitrag von beiden in ihrer prägenden Jugend und frühen Erwachsenenzeit in Schleswig, Holstein und dem damaligen Fürstbistum Lübeck ein sehr facettenreiches Bild, welches die Ideen- und Gedankenwelt des späten 18. Jahrhunderts in diesem geografischen Raum dem heutigen Lesenden anschaulich vermittelt.
Im zweiten Abschnitt des Bandes, den „Denkwelten“, sind gleich vier Beiträge versammelt. Den Anfang macht Tim Friedrich Meier mit einem quellengesättigten Einblick in die Debatten zu einer Reform der preußischen Judengesetzgebung zwischen 1787 bis 1806, wobei es dem Autor hervorragend gelingt, das Handeln der Beamten mit ihrer universitär-fachlichen Sozialisation zu verknüpfen. Im zweiten Beitrag dieses Abschnitts fragt Carola Groppe danach, wie Aufklärung in die Regierung kommt. Sie beleuchtet dazu die Biografien der beiden Minister Karl Abraham von Zedlitz (1731–1793) und Carl August von Struensee (1735–1804). Das versucht sie mit einer sehr elaboriert-begründeten methodischen Vorgehensweise, wobei sich beim Lesen die Frage aufdrängt, ob „Aufklärung“ hier wirklich die richtige Wahl bezüglich der Fragestellung ist. Es folgt ein von Jürgen Overhoffs sehr kurzweilig verfasstes Porträt Wilhelm von Humboldts (1767–1835), der nach 1806 alles andere als begeistert war, Preußen in seiner Not zur Seite zu stehen, sondern gerne auch länger auf seinem geliebten Diplomatenposten in Rom verblieben wäre. Er lokalisiert dabei die Gründe von Humboldts Unlust in antiken Vorbildern sowie Friedrichs des Großen. Im letzten Beitrag des Abschnitts widmet sich Astrid Albert Männlichkeitskonstruktionen in den Tagebüchern des jungen Ludwig von Vinckes (1774–1844). Auch wenn hier zu Beginn diese etwas zu allumfassend gedeutet werden (vertraut Vincke seinem Tagebuch alles nur als „Mann“ an oder macht er dies nicht eben auch in anderen Rollen?), gelingt es Albert in der Quellenauswertung, ein vielschichtiges Bild Vinckes zu zeichnen. Dabei macht sie anhand bisher wenig beachteter Passagen im Tagebuch Vinckes dessen Ringen mit familiär-adligen Konventionen bezüglich von Heirat deutlich: Während sein Vater auch im Sinne der Nachkommen Vinckes fordert, eine altadlige Partie zu finden, damit seine Enkel nicht von adligen Karrieren ausgeschlossen werden2, strebt sein Sohn Ludwig nach einer Liebesheirat. Damit kann Albert an diesem Beispiel das Ringen um spezifisch adlige Lebensentwürfe in der Zeit um die Jahrhundertwende aufzeigen.
Der folgende dritte Abschnitt trägt die Überschrift „Handlungswelten“. Im ersten Beitrag lotet Michael Rohrschneider die Handlungsmöglichkeiten der preußischen Gesandten am Immerwährenden Reichstag in Regensburg aus und stellt dabei fest, dass deren dortiges Wirken ab Mitte des Jahrhunderts von erheblichen Professionalisierungstendenzen geprägt war. Er kann zudem anschaulich beschreiben, wie Kriegserklärungen von den dortigen Diplomaten regelrecht „performt“ werden mussten. Im zweiten und ebenso erhellenden Beitrag weist Wolfgang Burgsdorf nach, wie im Laufe der Jahrhunderte in den Kanzleien im Heiligen Römischen Reich ein „Reichsdeutsch“ entstand, dem sich auch Luther bei seiner Bibelübersetzung bediente (S. 211). Die Bedeutung dieser juristischen Sprache hob Johann Jacob Moser (1701–1785) um 1730 auf eine neue Ebene, indem er seine Kompendien in eben jenem Reichsdeutsch publizierte und damit nachhaltig Latein im Reich als juristische Wissenschaftssprache verdrängte. Ebenso weißt er den hohen Einfluss Johann Stephan Pütters (1725–1807) – dem einflussreichsten Staatsrechtler am Ende des 18. Jahrhunderts – auf die Staatsmänner seiner Zeit nach.
Der vierte und letzte Abschnitt ist betitelt mit „Karrierewelten“. Hier finden sich zwei der eminentesten Beiträge des gesamten Bandes. Zuerst leuchtet Frank Göse die Möglichkeiten des brandenburgischen Adels zwischen Rittergut und Kanzlei aus. Er kann dabei die zunehmende Durchlässigkeit des ständischen Systems aufzeigen, da besonders im 18. Jahrhundert Adlige im Verwaltungsdienst stark mit Nichtadligen konkurrierten, immer mehr fachliche Qualifikationen bedeutend wurden und Netzwerke nur bedingt Erfolg bei der Ämtervergabe versprachen. Zudem gelingt es ihm für die Mark Brandenburg, das Zusammenspiel von lokaler Adelslandschaft (und den dort befindlichen Gutsbesitz) sowie dem Verwaltungsdienst in der Residenz sehr vielschichtig aufzuzeigen, wobei sich der amtstragende Adel zusehends über die erreichten Ämter zu definieren begann und Anciennität sowie Abstammung zunehmend in den Hintergrund gerieten. Einem im Band sonst nicht beachteten Feld widmet sich der abschließende Beitrag von Thomas Stamm-Kuhlmann. Er zeigt luzid auf, dass es neben dem akademisch-juristischen fundierten Karriereweg stets auch den Weg über den Hof in wichtige Ämter gab. Der Hof bildete die Konstante Preußens bis 1918: „Der Hof mit seinen eigenen Logiken überformte den Anstaltsstaat.“ (S. 257) Karrieren am Hof konnten in Sackgassen enden, nach einem Herrscherwechsel scheitern. Einige Akteure entwickelten aber auch Strategien, um einen Herrscherwechsel zu überdauern. Anhand der Beispiele von einigen preußischen (Hof-)Beamten gelingt es Stamm-Kuhlmann, einige Neujustierungen der älteren Historiografie vorzunehmen.
Die Herausgeber:innen sowie Autor:innen des Bandes schaffen es tatsächlich, zahlreiche neue Aspekte zur preußischen hohen Beamtenschaft „tastend“ aufzuzeigen. Sie führen damit den Beweis, dass, anders als vielleicht auf den ersten Blick anzunehmen, zu dieser Gruppe längst nicht „alles“ gesagt ist. Die doch sehr offene Anlage und die weitschweifigen Themenfelder stören diesbezüglich kaum: Es scheint im Großen und Ganzen nützlich, genau diesen Weg zu gehen, auch wenn hier und da ähnlichere Zielstellungen in zueinander sortierten Abschnitten durchaus begrüßenswert wären. Kritisch angemerkt werden muss, dass in einigen Beiträgen normativ aufgeladene Begriffe und Konzepte mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Das ist etwa beim „freien Markt“ in Tim Friedrichs Meiers Beitrag der Fall, wobei ein kurzer Ausblick auf die historischen Entwicklungen nach 1806 diesbezüglich sinnvoll gewesen wäre. Das gleiche betrifft in Carola Groppes Beitrag eine Erklärung der Frage, was nun einen Minister „aufgeklärt“ macht – hier scheint der Begriff zu weitläufig und nicht zielführend genug für einen sonst gelungenen Versuchsaufbau. Selbiges gilt, wie oben bereits ausgeführt, für Astrids Alberts Beispiel von Männlichkeitskonstruktionen an nur einem Fallbeispiel. Hier sowie punktuell in anderen Beiträgen bleiben die mahnenden Worte zu den Fehlern früherer prosopografischer Forschung relevant, wobei betont wird, aus gut dokumentierten Einzelfällen nicht zu vieles schließen zu wollen.3 Von diesen verzeihbaren Mängeln abgesehen ist der Band gerade bezüglich seiner Zielstellung als gelungen zu bewerten: Er setzt einen wichtigen neuen Impuls für künftige kulturhistorische Sozialstudien und bietet gute heuristische Anhaltspunkte für weitere Untersuchungen – (nicht nur) zur preußischen Beamtenschaft, wie vom Kreis der Herausgeber:innen gewünscht.
Anmerkungen:
1 Hier sei exemplarisch als eine seiner vielen grundlegenden Arbeiten zu diesem Themengebiet genannt: Rolf Straubel, Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740–1806), Berlin 2010.
2 Der Vater spielt hier auf die notwendige Adelsprüfung an, die notwendig wird, um eine Präbende in einem Domkapitel zu halten – die für Ludwig von Vincke selbst eine wichtige Einnahme darstellte. Zu dieser Thematik vorläufig (eine Monografie vom Autor ist dazu bereits ebenfalls in Vorbereitung): Paul Beckus, Der alte Niederadel und die protestantischen Stifte. Zur strategischen Verbindung von Altadel und mitteldeutschen Domstiften im 18. Jahrhundert, in: ders. / Thomas Grunewald / Michael Rocher (Hrsg.), Niederadel im mitteldeutschen Raum (um 1700–1806), Halle (Saale) 2019, S. 71–97.
3 Wilhelm Heinz Schröder, Kollektivbiographie als interdisziplinäre Methode in der Historischen Sozialforschung. Eine persönliche Retrospektive, in: Historical Social Research – Historische Sozialforschung, Supplement 23 (2011), S. 101–112.