Die Veränderung der (Arbeits-)Gesellschaft in Deutschland „nach dem Boom“1 ist nach wie vor ein zentrales Feld zeithistorischer Forschung, zu dem Wiebke Wiede mit ihrem Buch einen weiteren Beitrag leistet. Indem sie die Subjektivierung von arbeitslosen Personen untersucht, betrachtet sie vornehmlich eine Personengruppe, die in der Forschung zu Deindustrialisierung und Strukturwandel zwar häufig thematisiert, aber selten wirklich eingehend in den Blick genommen wird. Oft werden Arbeitslose als eine nicht weiter zu definierende Masse an Personen betrachtet, die in erster Linie ein soziales, makroökonomisches beziehungsweise arbeitsmarktpolitisches Problem darstellen.2 Insbesondere fehlt bisher eine eingehende Betrachtung der ökonomischen, politischen, rechtlichen, aber auch kulturellen Bedingungen, in die Arbeitslosigkeit eingebettet ist. Besonders die Erfahrungswelten der Arbeitslosen selbst sind stark unterbelichtet. Das Buch von Wiebke Wiede verkleinert diese Forschungslücke wesentlich.
Wiede versteht Subjektivierung in Anlehnung an Foucault im doppelten Sinne. Ihm folgend bedeutet Subjektivierung eine Form der Unterwerfung des Individuums durch gesellschaftliche Verhältnisse, aber auch die Selbsterkenntnis des Individuums als Subjekt und so das Erkennen von individuellen Handlungsräumen. Diesen doppelten Sinn ernstnehmend charakterisiert die Autorin wiederkehrend sowohl Aspekte des beherrschten Subjekts als auch des sich erkennenden selbst handelnden Subjekts, was ihrer Studie eine interessante, gewissermaßen doppelte Perspektive verleiht (S. 15ff.). Mit dem gewählten Zuschnitt schließt Wiede an das Forschungsfeld der historischen Erforschung von Arbeitslosigkeit im engeren und der Erforschung von Deindustrialisierung, Strukturwandel und neoliberaler Wende im weiteren Sinne an. Gleichzeitig leistet sie einen Beitrag zur Erforschung von Subjektivierung in der zeithistorischen Forschung und bietet so auch innovative theoretische und methodische Anknüpfungspunkte.
Das vorgelegte Buch besteht aus fünf thematischen Kapiteln, die sich jeweils speziellen Aspekten der Subjektivierung von Arbeitslosigkeit widmen und diese aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Im ersten Kapitel charakterisiert sie aus wissenshistorischer Perspektive Entwicklungen rund um die Arbeitslosenstatistik in Deutschland sowie Großbritannien und weist auf den politischen Charakter der Messung sowie Publikation von amtlichen Arbeitslosenzahlen hin. Die statistische Erfassung von Arbeitslosigkeit definiert sie als einen zentralen Subjektivierungsmechanismus. Hervorzuheben sind die Ausführungen zu den Subjektivierungseffekten von Sozialstatistik. Diese resultieren aus dem „Versprechen statistischer Eindeutigkeit“ (S. 52) und haben somit einen scheinbar objektiven Charakter, was besonders zur Subjektvierung beiträgt.
Im folgenden Kapitel bestimmt Wiede das Arbeitsamt als zentralen Ort der Subjektivierung. Sie zeichnet in diesem Kontext die Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland sowie Großbritannien nach und beschreibt die Implementierung aktiver Arbeitsmarktpolitiken beginnend in den 1970er-Jahren bis hin zur später einsetzenden aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Diese wurde in Großbritannien wesentlich früher als in Deutschland umgesetzt, wo aktivierende Arbeitsmarktpolitiken erst im Kontext der Hartz-Reformen auf breiter Basis eingeführt wurden.
Besonders interessant sind hier ihre alltagsgeschichtlich informierten mikrosoziologischen Fallstudien zu Interaktionen in den verschiedenen Institutionen der Arbeitsvermittlung – beispielsweise zu den Arbeitsämtern: Zwar können diese Betrachtungen, wie die Autorin anmerkt, keine „wie auch immer definierte letztgültige Repräsentativität“ (S. 140) für sich reklamieren, dies schmälert allerdings nichts an ihrem explorativen Erkenntnispotential. Wiede dokumentiert entlang von ausgewählten Fällen, wie die Arbeitsvermittlung professionalisiert und standardisiert wurde. In den 1980er-Jahren verschärfte sich der Ton in den bundesdeutschen Arbeitsämtern deutlich, was durchaus mit der nun wesentlich angespannteren Arbeitsmarktlage (S. 154ff.) korrespondierte und auch als Ausdruck einer substanziellen Verschlechterung der Bedingungen in Arbeitslosigkeit interpretiert werden kann. So entstand ein wechselseitig schwieriges Verhältnis zwischen arbeitsloser Bevölkerung, die auf die Leistungen des Amts sowie fristgerechte Bearbeitungen angewiesen waren, und sukzessive überforderten Amtsmitarbeiter:innen, die immer mehr Fälle bearbeiten mussten (S. 149ff.). Weiterhin interessant sind die Ausführungen zu arbeitslosen Migrant:innen in Deutschland und Großbritannien, die in den historischen Betrachtungen zu (post-)industriellen Arbeitsgesellschaften nach wie vor häufig nur unzureichend berücksichtigt werden und deren Bedingungen als besonders prekär zu bezeichnen sind.
In Kapitel drei widmet sich Wiede rechtlichen Subjektivierungsformen in Bezug auf Arbeitslosigkeit und betrachtet die Entwicklung des Verhältnisses der verschiedenen Rechtssysteme in Deutschland sowie Großbritannien in Bezug auf Arbeitslosigkeit. Sie untersucht in diesem Kontext „legislative Rechtssetzungen, Regelungen und Sanktionierungsmaßnahmen sowie die von Arbeitslosen eingelegten Rechtsmittel“, um die „rechtsförmigen Genealogien des arbeitslosen Subjekts“ (S. 229) zu betrachten. Wiede nimmt hier gemäß der eingangs erwähnten doppelten Perspektive auf Subjektivierung sowohl rechtliche Normsetzungen in den Blick, die auf Disziplinierung und Sanktionierung von Arbeitslosigkeit ausgerichtet waren, als auch die Versuche von Arbeitslosen, Rechtsansprüche geltend zu machen (S. 229ff.).
Im nächsten Kapitel untersucht Wiede Protestformen und subversives, abweichendes Verhalten arbeitsloser Personen. Sie beleuchtet hierbei ein breites Spektrum an Praktiken – von klassischem Protest und kollektiver Organisierung bis hin zu „eskapistische[m] Ausweichen aus der Arbeitslosigkeit in popkulturelles Vergnügen“. Hervorzuheben sind ihre Ausführungen zum Verhältnis subkultureller Bewegungen – etwa der Punkbewegung – zur Arbeitslosigkeit (S. 242ff.). Aber auch Formen von stillem Protest, die in ein „Entgleiten aus der arbeitslosen Subjekthaftigkeit“ (S. 242) münden konnten, werden behandelt. Weiterhin untersucht sie Praktiken und Taktiken der Unterlassung und des Nichtstuns seitens arbeitsloser Personen, die durchaus instruktiv sind (S. 299ff.). Bezogen auf Protestformen – ob auf der Straße oder aber in der Organisation in Selbsthilfegruppen – scheint die vergleichende Anlage zwischen Großbritannien und Deutschland die Ausführungen besonders sinnvoll zu informieren. Es werden hier deutliche Unterschiede in Protestkultur und Protestform sowie das Verhältnis etwa zu politischen Streiks herausgearbeitet (S. 260ff.).
Im letzten Kapitel untersucht die Autorin schließlich Auf- und ganz besonders Abstiegsdynamiken in den beiden Ländern. Wiede bestimmt die doch deutlich unterschiedlichen Dynamiken, denen verschiedene Personengruppen in diesem Kontext unterworfen waren. Sie untersucht Unterschiede anhand der Alters- sowie Geschlechtsdimension von arbeitslosen Personen und stellt zudem die besonders problematische Situation arbeitsloser Personen mit Migrationshintergrund heraus (S. 359ff. und S. 381ff.). Im letzten Abschnitt des Kapitels betrachtet Wiede schließlich das Thema der Armut von arbeitslosen Personen, das bisher eher randständig behandelt wurde. Sie charakterisiert hier Weichenstellungen in beiden Ländern seit den 1970er-Jahren, welche die Situation von arbeitslosen Personen wesentlich erschwerten – etwa durch einen stärkeren Ausschluss aus dem Leistungsbezug und eine Absenkung des Leistungsniveaus. Bedauernswerter Weise fällt der Abschnitt zur Armut von Arbeitslosen eher schmal aus. In ihrem Ausblick stellt Wiede schließlich interessante Bezüge zur Gegenwart her. Insbesondere die Subjektivierungstechniken der Diffamierung und Disqualifizierung von Arbeitslosigkeit lassen sich in starker Persistenz bis in die Gegenwart verfolgen (S. 415ff.).
Grundsätzlich bleibt die Rolle der Armut von Arbeitslosen eher schwach beleuchtet, was aus meiner Perspektive auch die gewichtigste Leerstelle am vorgelegten Buch darstellt, die allerdings nicht nur bei Wiebke Wiede häufig zu finden ist. Allzu oft wird in Darstellungen zu Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und Strukturwandel die schlichte Abwesenheit von Lohnarbeit problematisiert und nicht hauptsächlich die damit verbundene Armutsdynamik. Arbeit wird zum Selbstzweck erklärt und nicht zur Möglichkeit, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen. Dass auch schon in den 1980er-Jahren am unteren Ende der Lohnverteilung breite Personengruppen trotz Erwerbstätigkeit arm waren, sollte jedoch bedacht werden, statt in der binären Betrachtung von Arbeitslosigkeit auf der einen und Erwerbstätigkeit auf der anderen Seite zu verharren. Wünschenswert wäre beispielsweise im Abschnitt zu den Hartz-Reformen in Deutschland (S. 425) ein Hinweis darauf, dass durch die Reduktion von Arbeitslosigkeit mittels der Reformen die Armut in Deutschland keineswegs ab-, sondern im Gegensatz zunahm.3 Auch wenn argumentiert werden könnte, dass das Thema des Buches Arbeitslosigkeit und die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit an sich ist, sollte nichtsdestotrotz die darunter liegende, meiner Ansicht nach ebenso zentrale Frage nach der Armut von Personen nicht vernachlässigt werden – ob arbeitslos oder nicht.
Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass Wiebke Wiede mit ihrem Buch ein wichtiger und in jedem Fall lesenswerter Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte (West-)Deutschlands und Großbritanniens gelingt. Das Buch profitiert von einer klug gewählten Struktur, einer äußerst breiten Quellen- und Literaturbasis sowie einem innovativen methodischen und theoretischen Zuschnitt. Hoch anzurechnen ist der Autorin überdies, dass sie es schafft, Arbeitslosigkeit jenseits der eingangs genannten makroökonomischen Vorstellungen zu betrachten, und so zu interessanten Ergebnissen über eine Personengruppe gelangt, die viel zu häufig nur als politisches Problem gesehen wird – oder aber, wie die Autorin es eingangs eindrücklich selbst formuliert, als „Kollateralschaden ökonomischer Theorie“ (S. 39).
Anmerkungen:
1 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.
2 Siehe zum Beispiel mehrere Beiträge in Thomas Raithel / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009.
3 Siehe hierzu etwa die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung, https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Bisherige-Berichte/bisherige-berichte.html (06.08.2024).