Mit dem „Handbuch zur Religions- und Kirchengeschichte der Slowakei im 20. Jahrhundert“ hat das Collegium Carolinum (CC) das Ergebnis eines internationalen Publikationsprojektes vorgelegt, das von 2020 bis 2023 von der DFG gefördert wurde. Der Band umfasst stolze 845 Seiten und versammelt Annäherungen an eine komplexe Thematik aus verschiedenen Disziplinen (inklusive Soziologie und Sozialanthropologie). Mit der Slowakei wendet er sich einem oftmals wenig beachteten Land zu.
Bandherausgeber und CC-Geschäftsführer Martin Zückert bettet die Entwicklungen in der Slowakei in seinem einführenden Aufsatz in den mittel- und osteuropäischen Kontext ein und betont zugleich die Spezifika des Landes, darunter den häufigen Wechsel der Staatsformen: Neben den Jahren des Slowakischen Staates und der Suprematie des nationalsozialistischen Deutschlands (1939–1945) geht er auf die Zeit der kommunistischen Herrschaft (1948–1989) und die lange slowakisch-tschechische Geschichte in der Tschechoslowakei (1918–1938/39, 1945–92) ein. Das Handbuch soll ihm zufolge „1. die institutionelle Entwicklung von Kirchen und Religionsgemeinschaften, 2. das Verhältnis zwischen den Glaubensgemeinschaften und Staat bzw. Gesellschaft und 3. den Wandel des religiösen Lebens“ (S. 3) in den Blick nehmen.
Das Resultat des Projektes ist ein Sammelwerk, das versucht, diesen Fragen nicht nur fach-, sondern auch konfessionsübergreifend nachzugehen. Genau darin liegt auch die Stärke des Bandes: Er führt die bisher konfessionell dominierten Kirchengeschichtsschreibungen zusammen und geht zugleich darüber hinaus. Insbesondere die Orthodoxie, die jüdische Religion und kleinere Religionsgemeinschaften sollen so mehr Aufmerksamkeit als in der bisherigen Forschung erfahren. Dieses Ziel erreicht das Handbuch – nicht durch eine Abkehr von der konfessionellen Kirchenhistoriografie, sondern durch ein gelungenes Nebeneinander religionsgeschichtlicher Perspektiven und die Betrachtung von Austauschprozessen.
Gerade weil die beiden einflussreichsten Gruppen, also Katholiken und Lutheraner, ihre eigenen Erfahrungen bislang weitgehend unabhängig voneinander reflektiert haben (letztere in slowakischer oder in deutscher Sprache), ist es begrüßenswert, dass sich unter den Autoren zahlreiche Historiker finden, die sich seit Jahrzehnten mit verschiedenen Aspekten der Kirchengeschichte in der Slowakei beschäftigen. Unter ihnen sind der Leiter des Instituts für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava, Karl Schwarz sowie Attila Simon von der János-Selye-Universität in Komárno, der mehrere Studien zur Geschichte der – überwiegend ungarischsprachigen – Reformierten Kirche in der Slowakei veröffentlicht hat. Hinzu kommen Peter Švorc von der Universität in Prešov, der zur Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Kirche arbeitet und im Band gleich mit zwei Beiträgen vertreten ist, sowie Róbert Letz von der Comenius-Universität in Bratislava, dessen bisherige Forschungen sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion sowie auf die Rolle der Katholischen Kirche in Gesellschaft und Politik konzentriert haben.
Im Band wechseln sich chronologische mit thematischen Blöcken ab. Innerhalb der zeitlich organisierten Teile, die überlappenden Etappen gewidmet sind (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts; Zeit unter deutscher Hegemonie; vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft etc.), werden Entwicklungen entweder überblicksartig oder mit Schwerpunkt auf jeweils eine Kirche bzw. Religionsgemeinschaft präsentiert. Wenngleich sich die zentralen Perspektiven „Religion und Nation“ sowie „Religion und Diktatur“ als rote Fäden durch das gesamte Buch ziehen, erhält das übergreifende Thema „Religion und Nation“ angesichts der komplexen historischen Dynamiken in der Slowakei zwei eigene Abschnitte, die die Überschriften „Religion, Staat und Nation im 20. Jahrhundert“ und „Religion und ethnische Gruppen“ tragen. Weitere Themenblöcke zur Geschichte der Theologie und der theologischen Ausbildung sowie zu transnationalen Aspekten und Verbindungen ergänzen den Band.
Zusammen mit den beiden einleitenden Aufsätzen – der zweite stammt von Darina Volf, die einen Überblick über den Forschungsstand und die wichtigsten Forschungsfragen gibt – führen die 29 Artikel zum einen die ethnisch-sprachliche und konfessionelle Breite der religiösen Landschaft der Slowakei vor Augen. Dabei werden unterschiedlichste Konstellationen dargestellt, etwa die Verflechtung des reformierten Glaubens mit einer ungarischen Selbstidentifizierung. Zum anderen zeichnen die Beiträge die sich wandelnde Rolle von Religion in der Gesellschaft nach. Dabei scheuen sie sich nicht vor kontroversen Themen, darunter die Komplizenschaft zwischen kirchlichen Akteuren und Strukturen der Unterdrückung, die ideologische Agitation in totalitären Regimen sowie interkonfessionelle Verfeindungen – Fragen, denen vor allem Roman Holec, Michal Schvarc, Róbert Letz, Miloslav Szabó und Anna Bischof nachgehen.
In den Aufsätzen von Bischof („Zum Wirken des Gustav-Adolf-Werks in der Slowakei im 20. Jahrhundert“) und Schvarc („Religiöse Bindungen der Deutschen in der Slowakei“) steht das Spannungsfeld zwischen religiösen und nationalen Agenden am Beispiel der Deutschen im Mittelpunkt. Um ein potenzielles Ungleichgewicht zu vermeiden, finden sich daneben auch Beiträge zu religiösen Bindungen der Magyaren (von Attila Simon) sowie der Russinen (von Peter Šoltés). Durch dieses multiperspektivische Vorgehen entsteht eine nuancierte Annäherung an die Kirchen- und Religionsgeschichte des Landes. Selbst die eher deskriptiven, auf Statistiken basierenden Beiträge haben in diesem Kontext eine wichtige Funktion, da sie bisher wenig beleuchtete Themen wie die Religiosität der Bevölkerung oder die kleineren Kirchen und Glaubensgemeinschaften in den Fokus rücken und über einen längeren Zeitraum abbilden.
Einen besonderen Mehrwert stellen jene Beiträge dar, die aus dem Slowakischen, Tschechischen und Ungarischen übersetzt worden sind. Durch ihre unterschiedlichen disziplinären Zugänge liefern sie eine Vielzahl neuer Erkenntnisse und zeugen von der methodischen Vielfalt der religionshistorischen Forschung. So beschäftigt sich Miroslav Tížik vom Soziologischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in seiner Studie mit den unterschiedlichen Staat-Kirche-Verhältnissen zwischen 1989 und 2019. Seine Analyse stützt sich teilweise auf Pierre Bourdieus Feldtheorie und entwirft eine eigene Periodisierung für die Entwicklungen im Untersuchungszeitraum. Im Schlusskapitel schildern Tatiana Zachar Podolinská und Tomáš Hrustič (beide vom Institut für Ethnologie und Sozialanthropologie der Akademie) die äußerst fragmentierten religiösen Zugehörigkeiten und Erfahrungen der Roma in der zeitgenössischen slowakischen Gesellschaft – ein Thema, das weitere Fragen weckt, die in diesem Band gerne mehr Aufmerksamkeit hätten erfahren können.
Durch den hohen Anteil an Beiträgen aus der Slowakei und Tschechien wird der Anspruch des Handbuchprojektes eingelöst, „neue slowakische Forschung für den deutschsprachigen Raum zur Darstellung zu bringen“ (S. 21). Gleichzeitig belegt das Projekt, wie fruchtbar eine internationale Zusammenarbeit gerade bei der Erstellung eines Referenzwerks sein kann, das verschiedene Perspektiven auf einen Ort zusammenbringen möchte. Es ist nur konsequent, dass der Band über innerslowakische Themen hinausgeht. Vielmehr betrachtet er auch dezidiert transnationale Aspekte, die vor allem in Emilia Hrabovecs Beitrag über die Slowakei und den Heiligen Stuhl sowie in M. Mark Stolariks Aufsatz über die nordamerikanische slowakische Diaspora anschaulich werden.
Eine der größten Herausforderungen des Herausgebers war es zweifellos, der Sammlung von zum Teil sehr unterschiedlichen Zugängen eine innere Kohärenz zu verleihen. Dies ist ihm weitgehend gelungen, auch wenn sich der Text an einigen Stellen eher holprig liest und der Wechsel zwischen verschiedenen Disziplinen und ihren teils sehr unterschiedlichen Schreibstilen bisweilen etwas abrupt wirkt. Bei ungarischen Namen und Titeln, die relativ häufig zitiert werden, wurde offensichtlich kein umfassendes Korrektorat durchgeführt, sodass hier eine Reihe von Fehlern zu finden sind. Trotz dieser kleinen Mängel liefert das Handbuch durch seinen interkonfessionellen, internationalen und interdisziplinären Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Religions- und Kirchengeschichte der Slowakei.
Den Band runden eine Reihe von statistischen Daten zu Konfessionszugehörigkeiten aus den Jahren zwischen 1921 und 2021, ein annotiertes Verzeichnis der Kirchenleitungen der römisch-katholischen, griechisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Kirchen im 20. Jahrhundert, eine Auswahlbibliografie, ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister ab. Diese können nicht nur als hilfreiche Ergänzungen dienen, sondern ebenso als Einladung zu weiteren Recherchen.