In einer neuen Einführung stellt Sabine Föllinger Aischylos, den „Meister der griechischen Tragödie“, einem breiteren Publikum vor. Dabei möchte sie „durchaus eigene Deutungen und Akzentsetzungen“ einschließlich „Interpretationen“, die sich „nicht unbedingt mit der communis opinio decken“, liefern (S. 8). Insofern sieht sie ihr Buch als konsequente Fortführung ihrer früheren Arbeiten zu diesem Autor (S. 8).1
Eine knappe Einleitung (S. 7–9) informiert über die Absicht des Buches und begründet dessen Untertitel: Obwohl Aischylos’ Werk als „Vorstufe zu der Vollendung der Gattung in der Sophokleischen Tragödie“ (S. 7) verstanden werden könne, sei die „Komplexität, die seine Darstellung menschlicher Problematik auszeichnet“ (S. 7), meisterhaft. Fünf Einzelinterpretationen einschließlich Inhaltsübersicht und Einführung (wenngleich diese Unterteilung inhaltlich nicht immer konsequent durchgeführt wird) sollen „die Vielschichtigkeit“ und „das Innovative“ (S. 8) der Dramen aufzeigen; die Orestie (also Agamemnon, Choephoren und Eumeniden) wird dabei gemeinsam behandelt. Ergänzend tritt ein Blick auf die Fragmente und die Rezeption hinzu.
Grundlage der Interpretationen ist das erste Kapitel zu den „Charakteristika der Aischyleischen Tragödie“ (S. 11–45): Anhand von Aristoteles’ Poetik klärt Föllinger allgemein „Begriff, Entstehung und Funktion“ (S. 11–18) sowie Bauformen der Tragödie (S. 18–20). Es folgt ein Abschnitt zu Aischylos und seinem Werk (S. 20–24) sowie zum Verhältnis von Mythos und Tragödie (S. 24–26). Hieran schließt sich eine Diskussion des politischen Kontextes der Aischyleischen Tragödie (S. 26–30) – sie „ist nicht das Medium der Politik“ (S. 29f.), vielmehr diene die „politische Kontextualisierung […] der Nachahmung der menschlichen Handlungen, die der Kern der Tragödie sind“ (S. 30) – sowie ihres religiösen Hintergrundes (S. 30–33) an: Sie unterscheide sich von der zeitgleich entstandenen Literatur dadurch, dass sie „das persönliche Versagen und die persönliche Schuld des einzelnen“ herausarbeite, „die sich in den Parametern eines religiösen Kontextes entfalten“ (S. 33). Zum Abschluss werden Einzelaspekte angesprochen: „Gewalt auf der Bühne“ (S. 33–36), „Psychologie bei Aischylos“ (S. 36f.), „Bedeutung der Frauenrollen“ (S. 38–40), „Rolle des Chores“ (S. 40–42) und „Fragen der Inszenierung“ (S. 42–45).
Ein äußerst knappes Kapitel zur Überlieferung der Stücke (S. 46f.) soll für die hiermit verbundenen Probleme der Interpretation sensibilisieren. Auch wenn es angesichts der Kürze an dieser Stelle etwas verloren wirkt, bereitet es auf das folgende Kapitel „Aischylos: Theologe, Lehrer, Dramatiker?“ vor (S. 48–52). Dieses stellt überblickshaft die Eckpunkte der Aischylosforschung vor. Dabei wendet sich Föllinger gegen eine „Reduktion der ungeheuren Komplexität der Tragödien auf einige schlaglichtartige Momente“ (S. 50) und sieht „als zentrales Element“ „die Verortung der Geschehnisse in einem generationenübergreifenden Zusammenhang sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene“ (S. 51): „Die Abhängigkeit der Protagonisten von der eigenen familiären Vergangenheit, die die Parameter für ihr Handeln bildet, die Generationenkonflikte, die Menschen und Götter umfassen, die Spannung, die beim Übergang von Altem und Tradiertem zu Neuem entsteht, kennzeichnet alle sieben Tragödien.“ (S. 51) Dabei liege die „Innovation“ darin, dass „generationenübergreifende Kausalitäten und das individuelle Handeln des einzelnen Protagonisten zusammenkommen“ (S. 51). Diese Aischylos-Gesamtinterpretation liegt allen folgenden Einzelinterpretationen zugrunde.
Entsprechend steht die erste, den Persern gewidmete Interpretation unter der Überschrift „Konflikt der Völker und der Generationen“ (S. 53–76): Das Stück verbinde „den Konflikt zwischen Persern und Griechen mit einem Generationenkonflikt, der in der Auseinandersetzung des persischen Königs mit seinem Vater Dareios besteht“ (S. 57). Aischylos habe, „um aus einem historischen Ereignis eine gattungskonforme Tragödie zu machen, einen Familienkonflikt konstruiert“ (S. 57) und an diesen „die Frage nach der Verantwortung des einzelnen der Führungsschicht gegenüber dem Kollektiv“ (S. 58) gebunden.
Die Sieben gegen Theben stehen für Föllinger im Spannungsverhältnis von „Kollektiv und Individuum“ (S. 77–98). Ziel der gesamten (ansonsten verlorenen) Tetralogie (Laios, Ödipus, Sieben gegen Theben und Sphinx) sei, „das Schicksal der drei Generationen des thebanischen Königshauses auf die Bühne“ zu bringen und darzustellen, „wie die Taten der früheren Generationen das Handeln der folgenden Generationen beeinflussen“ (S. 80). Dabei „bieten die politischen Bezugspunkte den Rahmen, in dem Aischylos die Motivationen und Handlungen seiner Protagonisten entfaltet“ (S. 84): „In der Konfrontation der auf die Familie konzentrierten aristokratischen Einzelkämpferethik des Eteokles und der polisorientierten Haltung der Frauen [des Chores] ist der Kern des Dramas zu sehen.“ (S. 84)
Kennzeichnend für die Hiketiden sei „die Bedrohung der Gemeinschaft“ (S. 99–114). Auch wenn sich aufgrund der Überlieferungslage kein alles verbindendes Thema benennen lasse, stellt Föllinger fünf wichtige Einzelaspekte des Dramas heraus: „Vater-Tochter-Beziehung“, „Geschlechterkonflikt um die Brutalität von Sexualität“, „Verhältnis von ‚Fremd‘ und ‚Vertraut‘“, „Umgang mit den Fremden“ und „Verhältnis von Individuum und Kollektiv“ (S. 106f.). Anders als bei den Hiketiden lassen sich hinsichtlich der Orestie – „Konflikte und (k)ein Ende“ (S. 115–165) – weit verlässlichere Aussagen treffen: Diese Trilogie verbinde „an einem extremen Beispiel individuelle und familiäre Problematik mit religiösen und politischen Aspekten“ (S. 126) – weniger jedoch zur „Lösung“ denn zur „Problematisierung“ (S. 126). Konkret habe Aischylos nicht, wie man angesichts der Einrichtung des Areopags in den Eumeniden oftmals gemeint hat, „den Sieg der rationalen Rechtsprechung der Demokratie über eine rechtlose Vorzeit“ zeigen wollen (S. 157), sondern vielmehr, „welche Ursachen menschlichem Handeln zugrunde liegen“ (S. 161). Hierfür habe er sich „die Aktualität der Verlagerung politischer Macht von der Adelsinstitution auf die Einrichtungen der demokratisch verfaßten Polis“ (S. 162) zunutze gemacht. Insgesamt „führt die Orestie vor, wie ein Konflikt beendet werden und man mit menschlicher Schuld umgehen kann, doch sie zeigt auch […], daß nicht immer eine Lösung im eigentlichen Sinne möglich ist“ (S. 165).
Den Gefesselten Prometheus sieht Föllinger als authentisch an und bezieht ihn dementsprechend unter der Überschrift „Aufstand gegen den Tyrannen“ in ihre Vorstellung ein (S. 166–181). Sein Kern sei ein familiärer Generationenkonflikt zwischen Zeus und Prometheus, dem philanthropischen Gott, „zwischen Macht und geistiger Auflehnung“ (S. 181). Den inhaltlichen Abschluss des Buches bilden zwei kurze Kapitel zu ausgewählten Satyrspielen (S. 182–184) und Fragmenten (S. 185–188) sowie ein längerer „Ausblick auf die Rezeption“ (S. 189–200). Hieran schließen sich hilfreiche Literaturhinweise (S. 201–216) zu Text und Übersetzungen sowie zur Vertiefung der Einzelkapitel an. Sachdienlich ist ebenfalls ein relativ ausführliches Register zu Namen und Sachen (S. 217–224).
Föllingers ansprechend geschriebenes Buch bietet eine knappe, informative Einführung zu Aischylos und seinem Werk und macht dabei nicht nur die einzelnen Stücke in ihrem Handlungsverlauf transparent, sondern zeigt auch Möglichkeiten des Verständnisses auf, insbesondere in der Nachwirkung. So ist das Buch nicht nur (aber sicherlich auch) für ein breiteres, fachfremdes Publikum lesenswert – auch wenn man in dieser Hinsicht eine stärkere Kontextualisierung im allgemeinen Geistesleben der frühen Klassik (man denke etwa an Christian Meiers Begriff „Könnensbewusstsein“) sowie nähere Ausführungen zur konkreten sprachlichen Gestalt und strukturellen Komposition der Stücke vermisst.2
Unklar ist jedoch, ob alle von Föllinger gegebenen Interpretationen überzeugen können: So überrascht die Einschätzung, dass mit dem Ende der Orestie keine Lösung gefunden werde, denn tatsächlich sind alle Konflikte beigelegt – wenn auch nicht so, wie es der Agamemnon hätte vermuten lassen können, aber dennoch in konsequenter Fortführung der Handlungsdynamik der Trilogie (Athene ist keine dea ex machina). Auch scheint der Generationenkonflikt nicht im Mittelpunkt der Semantik aller Stücke zu stehen, sondern zum Teil deren bloßes Vehikel zu sein, etwa in den Persern, in denen der Familienkonflikt Aussagemittel ist (vgl. auch Föllingers eigene Zusammenfassung S. 74f.), oder in der Orestie, die sich „als riesige dramatische Aitiologie der politisch-religiösen historischen Verhältnisse Athens“ 3 erweist.
Nichtsdestoweniger ist Föllingers Buch ohne Zweifel sehr zu begrüßen, denn es erschließt allgemeinverständlich die beeindruckende Komplexität von Aischylos’ Werk und macht auf die Tragödien neugierig – nicht zuletzt dadurch, dass Föllinger durch die eigenen „Deutungen und Akzentsetzungen“ (S. 8) einen überaus lebendigen Einblick in die kontroverse Aischylos-Forschung gibt und so offenbar macht, wie viel Anlass zur Diskussion der Meister Aischylos noch immer bietet.
Anmerkungen:
1 Insbesondere: Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos, Göttingen 2003.
2 Zu letzterem vgl. nur Evangelos Petrounias, Funktion und Thematik der Bilder bei Aischylos, Göttingen 1976.
3 Vgl. Lutz Käppel, Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos, München 1998, S. 279. Dies zumal gerade im Agamemnon, in dem der Konflikt innerhalb einer einzigen Generation ausgetragen wird.