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Titel
Wikipedia. Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie


Autor(en)
Rahmstorf, Olaf
Reihe
Digitale Gesellschaft
Erschienen
Bielefeld 2023: transcript
Anzahl Seiten
416 S., 11 SW- und 12 Farb-Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ziko van Dijk, Silvolde

Seit über 20 Jahren wächst die Fachliteratur zum Forschungsgebiet Wikis und die Wikipedia – in den verschiedensten Fachrichtungen. Nun legte der Wissenssoziologe Olaf Rahmstorf eine Abhandlung vor, deren Untertitel einen „Entwurf einer Theorie“ ankündigt. Dies ist allerdings nicht wortwörtlich zu nehmen, insofern das Buch jedenfalls keinen systematischen Theorie-Entwurf vorstellt.

Die eigentliche Einleitung, die normalerweise den roten Faden eines Buches darlegt, ist mit nur drei Seiten auffallend kurz. Rahmstorf erklärt dort lediglich, er wolle begreifen, „was die Wikipedia ist“ (S. 15). Im Laufe des Buches finden sich hier und da Hinweise auf seine Absichten: „Ich verfolge mit meinem Beitrag das bürgerliche Projekt der Aufklärung als Herrschaftskritik, wie Chomsky es skizziert, da ich auch einzig hier das politische Potential einer Online-Enzyklopädie sehe.“ Ein solch erhellender Satz hätte gut in die Einleitung gepasst – warum ist er in Fußnote Nr. 270 (S. 301) versteckt?

Rahmstorf gibt zu, dass sein Werk nicht unbedingt „abgeschlossen“ ist, und nennt den Abgabetermin einen „pragmatische[n] Schnitt“. Das Buch sei eine „Aufforderung zur Kritik, zur Überarbeitung, zum Weiterdenken“ (S. 16). Und das ist auch mein Eindruck: Obwohl ersichtlich viel Arbeit in das Buch geflossen ist, wirkt es unfertig und ziellos.

Der erste große Teil des Werkes behandelt verschiedene Aspekte der Enzyklopädie Wikipedia. Im zweiten Teil geht es um Regeln in der Wikipedia und da vor allem um das Neutralitätsgebot, den „Neutral Point of View“. Der dritte und letzte Teil beschäftigt sich mit Argumentationstheorien wie der Sprechakttheorie, der Theorie des kommunikativen Handelns und vielen weiteren. Rahmstorf schreibt flüssig und zeigt Selbstreflexion, auch das ehrliche Autoren-Ich statt gelehrter Umschreibungen ist sympathisch.

Der erste Teil zur Wikipedia basiert auf gängigen Übersichtswerken sowie Websites und Mailinglisten. Es ist nicht immer leicht, den Gedankengängen zu folgen. So bespricht Rahmstorf eine Studie, nach welcher Regelseiten der Wikipedia im Laufe der Zeit immer länger geworden seien. Rahmstorf meint, dass dies zu einem „Open-Source-Projekt wie der Wikipedia“ passe, was er nicht näher begründet. Kurz darauf lehnt er den Gedanken ab, dass freies Wissen „ähnlichen Urheberrechtsbeschränkungen“ unterläge wie freie Software. „Es sind aber nur die Präsentationsformen als Lexikon, Buch, digitaler Text und so weiter, die geschützt sind, nicht die Inhalte, die in jedem Fall gelesen, verstanden, verwendet, weitergedacht und zitiert werden dürfen, ohne dass eine Lizenzgebühr fällig wird […]“ (S. 93). Das ist aber wohl kaum verständlich: Eine „Präsentationsform“ wie „Lexikon“ ist natürlich nicht geschützt; jede Person darf ohne Weiteres ein Lexikon verfassen und veröffentlichen. Konkrete Inhalte sind hingegen sehr oft geschützt, auch wenn veröffentlichte Inhalte gelesen oder (im Rahmen des Zitatrechts) zitiert werden dürfen. Eine (freie) Lizenz bedeutet im Kontext jedenfalls, dass Inhalte verändert beziehungsweise erneut veröffentlicht werden dürfen. Worauf Rahmstorf hier hinaus will oder ob er sich vielleicht nur unglücklich ausgedrückt hat, muss offenbleiben. Es wundert außerdem, dass Rahmstorf mit seinen gesellschaftskritischen und antikapitalistischen Standpunkten nicht mehr über das Konzept Freie Inhalte (Open Content) schreibt. Dieses Konzept macht die Kollaboration im Wiki ja erst möglich. Mich hätte seine wissenssoziologische Perspektive dazu sehr interessiert.

Im zweiten Teil stellt Rahmstorf vor allem Studien zu Neutralitätsfragen in der Wikipedia vor. Zum Beispiel spricht er (ab S. 177) anhand von Menking und Rosenberg1 über Genderfragen und über die Sorge, ob die Wikipedia die Welt divers genug abbildet. Rahmstorf teilt das Unbehagen der Autorinnen, scheut sich aber davor, jeden gedanklichen Schritt mitzugehen. So lehnt er verständlicherweise deren Vorschlag ab, dass die Wikipedia nicht nur für Argumente, sondern auch für die „Erfahrungen“ von Einzelpersonen offen sein solle, etwa auf dem Gebiet der Alternativen Medizin: „Man möchte sich nicht wirklich vorstellen, wie die Wikipedia-Seite ‚Covid-19-Pandemie‘ ausgesehen hätte, wenn ein solches, auf die persönliche Kompetenz einzelner Akteure setzendes Konzept der Online-Enzyklopädie zugrunde gelegen hätte.“ (S. 184) Trotzdem wünscht sich der Autor, dass die Wikipedia sich künftig als Diskursgemeinschaft begreift – im Sinne der bürgerlichen Öffentlichkeit nach Habermas. In so einem Wikipedia-Diskursraum feilscht man nicht einfach nur um die korrekte Regelauslegung, sondern es wird „über Sachfragen inhaltlich debattiert“ (S. 372).

Was Rahmstorf anspricht, betrifft letzten Endes das „Autorschaftsmodell“, wie ich es in meiner Einführung über Wikis und die Wikipedia behandelt habe. Es geht darum, als was für Autoren man sich die Wikipedia-Autoren vorstellt. Eine Wikipedia-Autorin ist so gesehen eine relativ „schwache“, „handwerkliche“ Autorin, die nicht selbst forscht, sondern bestehende Fachliteratur nutzt und auf das Niveau einer Enzyklopädie herunterbricht.2 Olaf Rahmstorf fände es hingegen besser, wenn Wikipedia-Beitragende eigenständig im Diskursraum mit anderen darüber verhandeln, „was Sache ist“. Auch beim Thema „Neutraler Standpunkt“ verweist er abschließend auf das Gemeinschaftliche: Wenn man mehrere Standpunkte darstellt, nimmt man einen „Metastandpunkt“ ein. Diesen Metastandpunkt könne man nicht mehr durch die bürokratischen Regeln der Wikipedia kontrollieren. Man solle daher den Neutralen Standpunkt als „eine Zusammenschau und ein Zusammenwirken der verschiedenen Standpunkte“ sehen, „als Community-Prozess“ (S. 362). Dass der Neutrale Standpunkt unterschiedliche Standpunkte berücksichtigt und letztlich in der Community ausgehandelt wird, dürfte allerdings nur für wenige Wikipedia-Mitwirkende und -Forschende eine neue Erkenntnis sein.

Im dritten Teil schließlich bespricht Rahmstorf ausführlich Argumentationstheorien (S. 211–302), wobei er beabsichtigt, die „Bedeutung der Argumentationstheorie für die Wikipedia“ (S. 304–353) herauszuarbeiten. Meiner Meinung nach geschieht dies streckenweise zu wenig. Es finden sich in diesem Teil interessante Gedanken, zum Beispiel, ob die Wikipedia nicht ein „historisch neuer Institutionentypus“ sei: „die permanent diskutierende Bürokratie“ (S. 315). Nach solchen Stellen entfernt sich der Autor jedoch oftmals wieder vom Thema Wikipedia. Das letzte Kapitel in Teil 3 wie beispielsweise „Ideologie“ (S. 339–353) stellt zwar die ideengeschichtliche Entwicklung des Ideologiebegriffs vor, erwähnt die Wikipedia aber nur sehr kurz.

Gegen Ende folgen ein „Schluss“, der Fäden zusammenführen soll, und ein „Fazit“ mit der Aufgabe zu resümieren. Vor allem im Schluss steigt Rahmstorf wieder in die Niederungen der Einzelthemen; so beschreibt er abermals, wie sich Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zum Begriff des Politischen verhalte (S. 359). Im Anhang befindet sich ein etwa zwanzigseitiges Literaturverzeichnis. Zunächst habe ich Werke wie die Dissertation von Linda Groß3 vermisst. Über Stichproben fiel mir außerdem auf, dass Rahmstorf Werke auflistet, die er in seiner Abhandlung gar nicht verwendet. Das kann einem Autor im Einzelfall natürlich passieren. Doch dann habe ich näher geschaut: Bei den Wikipedia-bezogenen Werken gilt das für mindestens zehn Werke. (Ähnlich viele Werke werden im Hauptteil zwar erwähnt, aber nur en passant.) Das ist umso bedauerlicher, als einige dieser Werke inhaltlich sehr nützlich für Rahmstorfs Buch gewesen wären. Beispielhaft sei hier die Linguistin Eva Gredel genannt, die zahlreiche Beiträge zu Diskursen in der Wikipedia veröffentlicht hat. Zusätzlich zum Glossar wäre ein Index hilfreich gewesen, wenn man bedenkt, dass manche Themen über das ganze Buch verteilt sind.

Das Buch ist nicht direkt als Einführung in die Wikipedia gedacht, und ihm fehlt teilweise wohl auch die Strukturiertheit, um dafür empfohlen zu werden. Teil 2 und 3 gehen größtenteils von bestehender Literatur aus, die Rahmstorf vorstellt und kommentiert, aber auch mit eigenen Fragestellungen bereichert. Die Darstellung hätte ich mir oft stringenter gewünscht. Kapitelweise Zusammenfassungen der Erkenntnisse wären bei diesen komplexen Themen hilfreich gewesen. Das Werk ist aber auf jeden Fall eine Fundgrube von wertvollen Gedanken, die sich dafür eignet, was Rahmstorf in der Einleitung in Aussicht gestellt hat: für das Weiterdenken.

Anmerkungen:
1 Amanda Menking / Jon Rosenberg, WP:NOT, WP:NPOV, and Other Stories Wikipedia Tells Us. A Feminist Critique of Wikipedia’s Epistemology, in: Science, Technology, & Human Values 46 (2021), S. 455–479.
2 Ziko van Dijk, Wikis und die Wikipedia verstehen. Eine Einführung, Bielefeld 2021, hier S. 208.
3 Linda Groß, Die Offenheitssemantik der Wikipedia. Ideen und Verwirklichungen der erweiterten Beteiligungspotentiale des Internets im Kontext kollaborativer Wissensproduktion, Bielefeld 2016.

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