Buchmessen, wie wir sie heute kennen, entstanden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als zuerst Leipzig (1946) und dann Frankfurt am Main (1949) ein jährliches Branchenereignis konstituierten, dessen Tradition auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. Anders als in Frankfurt fand die Leipziger Buchmesse bis 1990 allerdings im Rahmen der universalen Handelsmesse statt, bei der die unterschiedlichsten Branchen in den Messehäusern der Innenstadt und auf dem Messegelände ausstellten. Seit den 1950er-Jahren nahm die Gründung internationaler Buchmessen auf der ganzen Welt kontinuierlich zu: Tokio (1954), Belgrad und Warschau (1956) zählten zu den ersten Städten, in denen eine Buchmesse außerhalb Deutschlands stattfand, schnell gefolgt von Jerusalem und Kairo (1963), Bologna (1964) sowie Brüssel und Singapur (1969). Mit weiteren Neugründungen in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden die Buchmessen-Netzwerke zu „zyklischen Clustern im globalen Kreislauf des Literaturbetriebs“.1
Dennoch sind die Geschichte und die Mechanismen vieler internationaler Buchmessen nach wie vor wenig erforscht und offen für sowohl bestandsbezogene als auch theoretische literaturwissenschaftliche, literatursoziologische oder buchwissenschaftliche Studien. So bleibt die Historisierung der Warschauer Buchmesse – bis Anfang der 1980er-Jahre die größte und wichtigste im europäischen „Ostblock“ – auf eine einzige populärwissenschaftliche Skizze beschränkt.2 Historiographische Analysen anderer internationaler Buchmessen außerhalb der Bundesrepublik und der DDR – etwa der internationalen Buchmessen in Sofia, Belgrad, Jerusalem, Brüssel, London, Kairo, New Delhi oder der als „kommunistische Weltbuchmesse“ inszenierten Veranstaltung in Moskau – fehlen bis heute. Diese Forschungslücke hängt zum Teil mit dem fehlenden Nachlassbewusstsein der involvierten institutionellen Akteure und der daraus resultierenden dünnen Archivlage zusammen.
Um Archivalien zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse (FBM) vor 1990 ist es zwar viel besser bestellt, doch bleibt die einschlägige Literatur auch hier überschaubar. Als in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren die FBM anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens eine erhöhte Aufmerksamkeit der deutschen Buchwissenschaft genoss, erschienen einige Überblicksdarstellungen und Memoiren.3 Die Forschung zur (kultur-)politischen Dimension der FBM in der Zeit der Systemkonfrontation beschränkt sich größtenteils auf die Auswirkungen der binnenpolitischen Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre für das Messegeschehen.4
Patricia F. Blumes Dissertation zur Geschichte der Leipziger Buchmesse in der Zeit des kulturellen Kalten Krieges ist vor diesem Hintergrund eine einzigartige historiographische Leistung und erweitert den bisherigen Kenntnisstand substanziell. Die Autorin hat zuvor bereits einige Zeitschriften- und Sammelband-Beiträge veröffentlicht, die vorrangig das deutsch-deutsche Konkurrenzverhältnis auf der Leipziger Buchmesse sowie Aspekte des „heimlichen Lesens“ fokussierten.5 Mit dem akribisch recherchierten Buch, das sich auf zahlreiche Bestände aus elf Archiven, auf private Sammlungen, auf Gespräche mit Expert:innen und Zeitzeug:innen sowie auf publizierte Quellen und Forschungsliteratur stützt, liefert Blume nun ein Standardwerk für weitere Untersuchungen zum literarischen und verlegerischen Feld der DDR wie zur deutsch-deutschen Verlags- und Literaturgeschichte.
In dieser Studie geht es nicht vorrangig um die Funktion der Buchmesse als Forum der transnationalen Literaturzirkulation zwischen der sozialistischen Staatengemeinschaft, dem „kapitalistischen Ausland“ und den „Entwicklungsländern“. Das hat seine Gründe. Die FBM zeichnete sich von Anfang an durch ihren schnellen und exponentiellen Internationalisierungsschub aus; der Zustrom ausländischer Verlage war schon 1953 größer als derjenige deutscher Aussteller – ein Wachstum, das sich in diesem Bereich durch das Wirken von Direktor Sigfred Taubert nach seinem Eintritt 1958 noch vervielfachte (S. 138). Im Gegensatz zu Frankfurt kamen in den 1950er-Jahren nach Leipzig nur einzelne westliche Verlage. Mitte der 1970er-Jahre stieg die Zahl der Aussteller aus dem westlichen Ausland infolge der Anerkennung der DDR auf 32, zwischen 1979 und 1990 fiel sie aber „fast durchgehend […] unter die 30er-Marke“ (S. 442).
Zu der sozialistischen Buchmesse oder auch zu einem Anziehungspunkt für kapitalistische Verlegerinnen und Verleger ist Leipzig in der DDR nie richtig geworden. Zwar pilgerten sozialistische Verlagsleiter:innen, ihre Mitarbeiter:innen sowie Parteifunktionäre regelmäßig in die sächsische Metropole und pflegten politisch korrekte bilaterale Kontakte mit ostdeutschen Verlagen; als Ost-West-Forum des Buchhandels waren die Warschauer und seit den 1980er-Jahren die Moskauer Buchmesse aber viel wichtiger. Erst 1951 stellten Polen, die ČSSR und Ungarn in Leipzig aus, 1952 folgten Bulgarien, Rumänien und China. Somit war die Messe „als Demonstration der wirtschaftlichen Integriertheit der DDR in die Staatengemeinschaft des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) vergleichsweise spät vorzeigbar“ (S. 148). Die „Ostblock“-Länder fühlten sich in Leipzig benachteiligt, denn der Anspruch der Messe richtete sich vorrangig auf die Bedürfnisse der DDR-Wirtschaft, die den Handel mit dem Westen fokussierte. Die Teilnahme sozialistischer Verlage war zwar für die kulturpolitische Profilierung nach außen unabdingbar, doch in der Messeplanung spielten diese Verlage nur eine untergeordnete Rolle (ebd.).
Blumes Buch verschafft uns detaillierte Informationen zu allen DDR-internen sowie deutsch-deutschen Aspekten der Leipziger Buchmesse. Für westdeutsche Verlage war diese Messe eine wichtige Kontaktstelle im Kalten Krieg, ein „Loch in der Mauer mitten in der DDR“ (S. 2). Die Messe förderte den Binnenhandel, war „der Motor des Buchvertriebssystems der DDR und sorgte für die Titelverteilung im Inland“ (S. 6). Die Messeabschlüsse mit der Bundesrepublik lagen regelmäßig höher als mit der Sowjetunion – selbst in Phasen schärfster politischer Konflikte fiel Leipzig als innerdeutscher literarischer und verlegerischer Kontaktplatz stärker ins Gewicht als die FBM. Immer wieder war die Rede davon, die Leipziger Buchmesse sei „vor allem eine ‚BRD-DDR-Messe‘“ (S. 7). Den ostdeutschen Leser:innen bot die Messe einen einzigartigen Zugang zu verbotenen Inhalten (Stichwort „Buchdiebstahl“, S. 623–636), dementsprechend wurde sie auch zensiert und geheimdienstlich überwacht. Blume zeigt anschaulich, wie sich die Maßstäbe der Zensur- und Überwachungspraxis änderten, wie sich die an der Messe Teilnehmenden Freiräume aneigneten und sie individuell nutzten.
Die im Sächsischen Staatsarchiv abgelegten und von der Autorin ausgewerteten Protokolle der Internationalen Pressekonferenzen illustrieren auf besonders prägnante Art und Weise die kulturpolitische Funktion der Buchmesse. Die Konferenzen fanden seit 1958 statt, erst im Ring-Café am südlichen Rand der Innenstadt, später im prunkvollen Hotel „Stadt Leipzig“ und ab 1980 im Informationszentrum am Sachsenplatz. Da sie als „Schlachtfeld der innerdeutschen Befindlichkeiten“ und „ost-westliche Kontaktstelle für den Austausch wechselseitigen Misstrauens“ galten, wurde ihnen auf beiden Seiten großes Gewicht beigemessen: „von der DDR für die kulturpolitischen Botschaften und von der Bundesrepublik für die journalistische Interpretation“ (S. 498). Für das Ost-Berliner Ministerium für Kultur lag die wichtigste Funktion der Pressekonferenzen „in der zentralen Informationssteuerung“ sowie der „versuchten Kanalisierung“ der Kontakte westdeutscher Journalist:innen zu den Akteur:innen des literarischen und verlegerischen Feldes in der DDR (S. 499). Die Medienwirksamkeit der Pressekonferenzen nahm zu, nachdem der rede- und wortgewandte „Buchminister“ Klaus Höpcke 1973 den Posten des stellvertretenden Ministers für Kultur und Leiters der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel übernommen hatte (S. 501).
Jene „Verzahnung von Wirtschaft, politischer Herrschaft und Kultur“ (S. 10) wird in vier chronologisch aufgebauten Hauptkapiteln in allen Einzelheiten dargestellt, ergänzt um einen kurzen „Ausblick“ auf die Zeit ab 1990. „Die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR“ ist sicher ein Buch, das wegen seiner Materialfülle von künftigen Forscher:innen eher „benutzt“ als linear gelesen werden wird. Patricia F. Blumes Monographie bietet aber viel mehr als eine Buchmessegeschichte. Mit ihren diversen (literatur-)historischen, kulturpolitischen und buchwissenschaftlichen Aspekten gibt die Studie einen beträchtlichen Teil gesellschaftlicher Prozesse in der DDR wie auch zwischen den beiden deutschen Staaten wieder.
Anmerkungen:
1 Dominic Power / Johan Jansson, Cyclical Clusters in Global Circuits: Overlapping Spaces in Furniture Trade Fairs, in: Economic Geography 84 (2008), S. 423–448, bes. S. 426.
2 Krzysztof Kaleta, Międzynarodowe Targi Książki w Warszawie. Historia i teraźniejszość [Internationale Buchmesse in Warschau. Geschichte und Gegenwart], Warszawa 2005.
3 Stephan Füssel (Hrsg.), 50 Jahre Frankfurter Buchmesse. 1949–1999, Frankfurt am Main 1999; Peter Weidhaas, Zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt am Main 2003; ders., Und kam in die Welt der Büchermenschen. Erinnerungen, Berlin 2007.
4 Ulrike Seyer, Die Frankfurter Buchmesse in den Jahren 1967–1969, in: Stephan Füssel (Hrsg.), Die Politisierung des Buchmarkts. 1968 als Branchenereignis, Wiesbaden 2007, S. 159–241; Ute Schneider, Literarische und politische Gegenöffentlichkeit. Die Frankfurter Buchmesse in den Jahren 1967 bis 1969, in: Füssel, 50 Jahre Frankfurter Buchmesse, S. 89–114.
5 Unter anderem Patricia F. Zeckert, „Eine Versammlung von Sehnsucht“. Die Internationale Leipziger Buchmesse und die Leser in der DDR, in: Susanne Muhle / Hedwig Richter / Juliane Schütterle (Hrsg.), Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008, S. 179–187; dies., Der Duft der großen weiten Welt. Die Internationale Leipziger Buchmesse und das heimliche Lesen, in: Siegfried Lokatis / Ingrid Sonntag (Hrsg.), Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, S. 232–244; Patricia F. Blume, Von Überzeichnungen, Schwerpunkttiteln und Blindbänden. Die Rolle der Leipziger Buchmessen für den Buchhandel der DDR, in: dies. / Thomas Keiderling / Klaus G. Saur (Hrsg.), Buch macht Geschichte. Beiträge zur Verlags- und Medienforschung, Berlin 2016, S. 113–128.