Die Briefbücher der Reichsstadt Nürnberg, die – von wenigen Lücken abgesehen – den gewaltigen Zeitraum vom Beginn des 15. Jahrhunderts (1404) bis fast zum Ende der Reichsstadtzeit (1734) umfassen, sind eine einzigartige Quelle von unschätzbarem Wert für die politische Geschichte Nürnbergs, die Wirtschaftsbeziehungen der Handelsmetropole, die Außenkontakte, ihre Rolle als Nachrichten- und Kommunikationsdrehscheibe und vieles mehr. In den insgesamt 358 erhaltenen Bänden steckt der Großteil der aus der Reichsstadt ausgehenden Korrespondenz des Inneren Rats, des eigentlichen Machtzentrums der fränkischen Metropole, an höchst unterschiedliche Adressaten – an den Kaiser, an Fürsten und Herren, an Papst und Bischöfe, an andere Städte sowie an zahlreiche Kaufleute und Bürger der Stadt, ebenso an Auswärtige.
Inhaltlich spiegeln die Briefbücher die Rolle der fränkischen Stadt im Reich, ihre Bedeutung als politischer Akteur, als Handels- und Verkehrszentrum sowie als Informationsdrehscheibe von zumindest reichsweiter Bedeutung. Darüber hinaus lässt sich an diesem gewaltigen Quellenkonvolut auch die Entwicklung der deutschen Sprache im städtischen Verwaltungshandeln – „die Verschriftlichung vom institutionell konventionalisierten Sprachhandeln“ (N. Filatkina, Post aus Nürnberg, S. 75) – im chronologischen Längsschnitt vom späten Mittelalter bis in die frühe Neuzeit genau beobachten, da die allermeisten Briefe auf Deutsch verfasst sind.
Dies alles war zwar auch bislang bereits bekannt, stieß aber beim Versuch einer systematischen Auswertung schnell an Grenzen des physisch Leistbaren. Arbeiten, die das reichhaltige Material der Briefbücher über einen längeren Zeitraum auswerteten, sind entsprechend rar. Denn die Benutzung der Briefbücher nötigte den Forscher bisher zu einem zeitaufwändigen Besuch des Nürnberger Staatsarchivs, in dem diese Bände aufbewahrt werden – von der Mühsal, handschriftlich verfasste Texte zu lesen, von fehlenden Such- und Verweismöglichkeiten, von einem Adressaten- und Namensregister ganz zu schweigen.
Die dank der Unterstützung durch das DFG-Projekt „Kommunikation und Sprache im Reich. Die Nürnberger Briefbücher im 15. Jahrhundert: automatische Handschriftenerkennung – historische und sprachwissenschaftliche Analyse“ nunmehr in Angriff genommene Erschließung der Nürnberger Briefbücher in analoger wie digitaler Form ist zweifelsohne eine Großtat editorischer Forschung, ein Meilenstein der Quellenerschließung und -aufbereitung. Auf ihrer Grundlage sollen zugleich die praktischen Voraussetzungen für eine auf KI basierte, automatisierte Digitalisierung von spätmittelalterlichen Handschriften entwickelt und getestet werden, was einen Ertrag weit über diese Edition hinaus abwerfen dürfte. Grundlagenforschung „at its best“!
Damit läutet dieses Projekt zugleich eine Zeitenwende ein und macht es vielleicht zu einem der letzten Vorhaben seiner Art. So will es jedenfalls Tobias Hodel sehen, der seinen Beitrag (Post aus Nürnberg, S. 61–67) bewusst als eine „Provokation“ bezeichnet und ihn als „Diskussionsanstoß“ versteht. Streiten kann man mit dem Autor gewiss, ob die Digitalisierung tatsächlich die drucktechnisch aufgearbeitete Edition verdrängen kann. Mit Blick auf die Erfassung serieller Quellenberge, die aufgrund zunehmender Schriftlichkeit an der Wende zur Neuzeit exponentiell gewachsen sind und heutige Forscher vor der schieren Menge des Materials leichtsam kapitulieren lassen, führt an einer Digitalisierung der Bestände wohl kein Weg vorbei, um die Benutzbarkeit auf Dauer zu gewähren. Archivalische Gesichtspunkte, nicht zuletzt auch finanzielle Gründe sprechen daher für eine digitalisierte Aufarbeitung der Bestände. Ob das das Ende gedruckter Editionen bedeutet, sei jedoch dahingestellt.
Wie die Leiter des Projekts schreiben, „zielte [das Projekt] nicht primär auf eine Edition der Nürnberger Briefbücher. […] Auf der Grundlage der ersten Bände der Nürnberger Briefbücher von 1408 bis 1423 werden Lösungsansätze für die Erstellung von Daten durch Synthetisierung von Handschriften des frühen 15. Jahrhunderts trainiert und generiert. Gerade die Verbesserung automatischer Handschrifterkennung zur Reduzierung der Buchstabenfehlerrate ist ein wichtiges Ziel des Projekts“ (Post aus Nürnberg, S. XIV und XV). Entsprechend soll die papierne Drucklegung und Aufarbeitung der Briefbücher nach den ersten fünf Bänden enden, die verbleibende Masse des Materials, sprich über 98 Prozent der Bände, wird nach und nach ausschließlich in digitalisierter Form erscheinen.
Der Aufsatzband „Post aus Nürnberg“, der zum Teil auf einem digitalen Workshop von April 2021 beruht1, hat in diesem Kontext die Funktion eines Einführungsbands in das Gesamtprojekt. Von den 13 Beiträgen (einschließlich der „Einleitung“ der Herausgeber, S. VII–XX) stellen einige den Rahmen des Projektes vor, zeigen den interdisziplinären Ansatz oder berichten über erste Erfahrungen mit dem Digitalisierungsprozess und den Problemen der elektronischen Erfassung der Briefbände (für Letzteres besonders aufschlussreich die Beiträge von A. Rabus, T. Hodel, N. Filatkina, K. Neumeier und M. Mayr).
So etwa diskutiert Rabus „Möglichkeiten und Grenzen KI-gestützter Manuskript-Transkription für unterschiedliche Einsatzzwecke“ (Post aus Nürnberg, S. 47–60). Zurecht weist er darauf hin, dass „dadurch auch komplexe Quellen unterschiedlicher Provenienz einem Publikum ohne spezifische linguistische und paläographische Spezialkenntnis zugänglich gemacht werden können“ (ebd., S. 60). Dass dies zu einer „Demokratisierung des Wissens“ (ebd.) beiträgt, erscheint dem Rezensenten mehr Wunsch als erwartbare Realität zu sein. Mayr beschäftigt sich eingehend mit „Handschrifterkennung bei historischen Dokumenten“ (ebd., S. 175–188). Dabei kommt er zu dem keineswegs überraschenden Schluss, dass „datenbasierte Methoden das Potenzial [haben], in vielen Bereichen der Digital Humanities sehr gute Ergebnisse zu erzielen“ (ebd., S. 188). Allerdings setzt ihr Erfolg voraus, dass genügend Trainingsdaten zur Verfügung stehen und automatisch generierte Ausgaben „immer von Experten geprüft und qualitativ begutachtet werden“ müssen (ebd.), um Fehler zur vermeiden.
Gut die Hälfte der Beiträge sind inhaltlich orientiert: exemplarische, wenngleich breit gestreute Studien, die mit der Stadt selbst oder ihren Interessen (Streitsachen, Kommunikation, Handelsprobleme etc.) zu tun haben, soweit dies vor allem auch aus den Briefbüchern herausgearbeitet werden kann. Damit geben sie einen Vorgeschmack darauf, was für Erkenntnisse durch eine systematische Auswertung der Briefbücher zu unterschiedlichen Aspekten und Themen für das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit für die Zukunft zu erwarten sind.
Da mit den Briefbüchern I (1404–1408), II (1408/1409) und III (1409–1412) die ersten Bände dieses Vorhabens jetzt ebenfalls vorliegen, lässt sich bereits ein erster Blick auf das Gelingen des Projekts in seinem Teilbereich gedruckte Edition werfen.
Briefbuch I wurde von Sabrina Späth bearbeitet und transkribiert, die sich darüber hinaus in ihrer an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Dissertation2 ausführlich mit diesem ältesten erhaltenen Nürnberger Briefbuch beschäftigt hat. Wer sich intensiver mit den vom Rat veranlassten Schreiben (Missiven) befassen will, dem sei die Lektüre dieser Arbeit ans Herz gelegt. Eine kurze Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, die in ihren Fragestellungen bereits über den von ihr selbst bearbeiteten Band hinausweisen, enthält auch der parallel zur Edition erschienene Sammelband (Post aus Nürnberg, S. 1–17). Tatsächlich ist das Briefbuch I nicht der erste, sondern der siebte Band der Reihe, worauf die zeitgenössische Nummerierung auf dem Einband hinweist. Bereits seit den 1380er-Jahren dürfte der Innere Rat damit begonnen haben, die ausgehende Post in den sogenannten Briefbüchern aufzuzeichnen und zu archivieren. Allerdings haben sich die früheren Bände nicht erhalten, wie auch einzelne, chronologisch später entstandene Bände verloren gegangen sein dürften.
Nach einer kurzen Einleitung, die ihren Forschungsgegenstand vorstellt (Bb. 1, S. 1–4), die Handschrift äußerlich und inhaltlich knapp und präzise beschreibt (S. 5–8), legt S. Späth ihre „Transkriptionsgrundsätze und Editionsrichtlinien“ (S. 9–11) offen. Es folgt mit der Textedition das Kernstück ihrer Arbeit, die insgesamt 896 transkribierte Nummern umfasst (S. 13–532). Die einzelnen Nummern werden mit der Nennung von Empfänger und Datum eingeleitet. Anschließend wird in einem Kurzregest der Inhalt des jeweiligen Stücks zusammengefasst. Dann folgt ein Hinweis auf den Schreiber des Briefes sowie gegebenenfalls Angaben zu weiteren Drucken und der Literatur. Schließlich wird der Brief in transkribierter Form wiedergegeben, wobei die zahlreichen Wortabkürzungen aufgelöst, aber nicht eigens markiert sind. Inhaltliche Erklärungen zu Daten, Personen und Orten werden in fortlaufenden Anmerkungen aufgenommen, die sich als Fußnoten auf jeder Buchseite befinden. Ergänzt wird der stattliche Band durch ein Glossar (S. 533–536), in das wichtige nicht selbsterklärende bzw. missverständliche Begriffe aus den Quellen aufgenommen und erklärt werden. Weiter folgen ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 539–562), bevor die Publikation mit zwei umfangreichen Registern (Personen- und Ortsregister, S. 563–592; Sachregister, S. 593–610) abgeschlossen wird.
Soweit der Rezensent dies an den ihm vorliegenden Kopien stichprobenartig überprüfen konnte, hat die Bearbeiterin des ersten Briefbands eine vorzügliche Arbeit vorgelegt, die allein angesichts der schieren Menge des verarbeiteten Materials höchste Anerkennung verdient. Gespannt wartet man daher auf die digitale Wiedergabe der Originale, die letztlich erst im gesamten Umfang zeigen kann, was die Editorin geleistet hat.
Briefbuch II wurde von insgesamt vier Forschern bearbeitet, die die Anlage von Briefbuch I in wesentlichen Zügen übernommen haben, so dass hier nur auf das einzugehen ist, was geändert oder ergänzt wurde. Leider wurde in den einzelnen Regesten darauf verzichtet, Angaben zu weiteren Drucken zu machen bzw. auf die Forschungsliteratur hinzuweisen. Dies wird der Benutzer der Edition auch deshalb als Nachteil ansehen, da Briefbuch II nicht wie das erste eine umfassende Analyse erfahren hat, wie sie mit der Studie von Späth3 vorliegt. Im Wesentlichen gilt das Gesagte auch für Briefbuch III.
Bedauerlicherweise liegt das Briefbuch I noch nicht in einer digitalisierten Form vor, wohl aber Briefbuch II und Briefbuch III.4 Dies erlaubt, einen Blick auf die digitale Fassung der Edition zu werfen und über erste Erfahrungen mit ihr zu berichten: Nach dem zu Anfang etwas umständlichen Suchen lassen sich in der „Briefübersicht“ die einzelnen Briefe zielgenau aufrufen. Über ein Inhaltsverzeichnis, das die einzelnen Stücke mit einer Art Kurzregest verzeichnet, fällt es nicht schwer, das gesuchte Schreiben zu finden. Drei Versionen stehen nebeneinander, eine diplomatische Transkription, die die Kürzungen anzeigt, das Faksimile des Originals aus dem Briefbuch sowie die normalisierte Fassung mit dem Lesetext. Für den Forscher ist es eine große Hilfe, dass sich die Faksimiles auf die volle Bildschirmgröße erweitern lassen. Stichproben zeigen, dass hier sauber gearbeitet wurde, insbesondere die Abkürzungen sorgfältig aufgelöst werden. Wenn der Rezensent einen Wunsch äußern dürfte, würde er sich eine Zusammenstellung der Abkürzungen wünschen, die das Lesen der Faksimiletexte bei etwas Routine erleichtern könnte und die Überprüfbarkeit am Original verbessern würde. Zusätzlichen Nutzen dürfte eine solche Zusammenstellung zudem für die Benutzung anderer das Verwaltungshandeln widerspiegelnder Geschäftsbücher außerhalb Nürnbergs bringen.
Für jeden Band gibt es eine Reihe von Suchoptionen (Querverweise) – zeitlich zu den einzelnen Jahren und Monaten ihrer Abfassung, zu Absendern, Empfängern und in den Briefen erwähnten Personen (jeweils mit Angabe über die Häufigkeit der Nennung in dem entsprechenden Briefbuch). Ob darüber hinaus eine bandübergreifende Suchfunktion geplant ist, was insbesondere für Langzeitstudien ein erheblicher Gewinn wäre, war nicht zu eruieren; es sollte aber als ein bedenkenswerter Anstoß verstanden werden. Interessant ist außerdem die Geobrowserfunktion, die das Netz der Empfänger auf einer Karte visualisiert.
Inhaltlich wie in der Aufbereitung ist die vorliegende Edition schon jetzt ein Meilenstein, für die den Projektleitern, Autoren und Bearbeitern nur gedankt werden kann. Fortgesetzt wird die Reihe in der vorliegenden Form (analog/digital) mit den Briefbüchern IV (1414–1418) und V (1419–1423), die noch in diesem und dem kommenden Jahr erscheinen sollen. Für die chronologisch folgenden ist dann allerdings nur noch eine digitale Wiedergabe/Edition vorgesehen.
Fest steht: Wer sich in Zukunft mit der Geschichte Nürnberg beschäftigen will, wird an dieser Edition nicht vorbeikommen. Der vereinfachte Zugriff auf diesen Quellenschatz eröffnet der Forschung ein breites Arbeitsfeld für vielfältige Studien, Detailanalysen wie Langzeitüberblicke zu den verschiedensten Themen und Aspekten, mit denen der Innere Rat Nürnbergs konfrontiert wurde und die mit der Stadt und ihren Bewohnern zu tun hatten. Untersuchenswert wäre sicher auch, welche Themen etwa in den frühen Briefbüchern – auf die ich mich aufgrund ihrer gegenwärtigen Verfügbarkeit beschränken möchte – ausgespart werden bzw. zu welchen sich der Innere Rat nicht geäußert hat. Das gilt beispielsweise für die Position der Stadt im Schisma und zum Pisanum. Überhaupt ist wenig zum Verhältnis zur Kirche zu finden, etwa zu den Interdikten, die auch die Stadt trafen. Gespannt darf man jedenfalls darauf warten, was Neues zu Tage gefördert wird, wenn die wachsende Erweiterung der Edition mehr und mehr Untersuchungsmaterial zur Verfügung stellen wird.
Anmerkungen:
1 Vgl. Julian Krenz, Tagungsbericht: Kommunikation und Sprache im Reich. Die Nürnberger Briefbücher im 15. Jahrhundert, in: H-Soz-Kult, 16.06.2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127535 (18.10.2024).
2 Sabrina Späth, Das älteste Nürnberger Briefbuch (1404-1408). Struktur, Inhalt und Auswertung {Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 78}, Nürnberg 2022.
3 Späth, Das älteste Nürnberger Briefbuch.
4 Abrufbar sind sie unter: http://lme70.informatik.uni-erlangen.de:8060/exist/apps/nuernberger-briefbuecher/index.html (20.09.2024).