Traditionell wurde über gehörlose und hörgeschädigte Kinder entschieden und nicht mit ihnen, ob sie visuell oder lautsprachlich unterrichtet werden sollten. Diesem methodischen Gegensatz zwischen der oralen „deutschen Methode“, die auf dem Mailänder Kongress von 1880 als in Europa verbindlich verabschiedet worden war, und der gebärdensprachlichen Bildung, den zahlreichen Entwicklungspfaden und pädagogischen Annäherungen in Fachdiskursen spürt Anja Werner in ihrer Habilitationsschrift nach. Mit ihrer Studie will sie „einen Beitrag zur interdisziplinären, transnationalen und inkludierenden Wissenschaftsgeschichte im Kontext nationaler und internationaler gesellschaftlicher Entwicklungen“ leisten (S. 18).
Als Quellen dienen einerseits Diskurse „in geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern wie Linguistik bzw. Medizintechnik und Otologie“ (S. 18) oder Konzepte und Arbeitsmittel der Hörgeschädigtenpädagogik, wie sie etwa in Fachzeitschriften und Tagungsbeiträgen dokumentiert sind. Andererseits geht es Werner aber nicht nur um die Expert:innendiskurse. Sie versucht auch, die Hörbeeinträchtigten in Bundesrepublik und DDR als Akteur:innen sowie deren Einfluss auf die Transformation beim Umgang mit Gehörlosen sowie -geschädigten zu erkunden und in die Entwicklungen einzuordnen. Dazu greift sie unter anderem auf graue Literatur und – wenn auch nicht systematisch geführt – auf Interviews zurück. Als thematische Sonden dienen ihr die linguistische Erforschung nationaler Gebärdensprachen sowie die Ohrenheilkunde und die damit verbundene Implantation von Hörprothesen. So verknüpft Werner in ihrer Analyse unterschiedliche Referenzrahmen der Lebenswelten und Fachdiskurse von und über Gehörlosigkeit. Sie kann die Widersprüche und Ambivalenzen, aber auch Annäherungen und Verbindungen der Akteur:innen nachzeichnen. Theoretisch schließt sie einerseits an Überlegungen zu Wissenschaftlern und Denkkollektiven von Ludwik Fleck und Thomas Kuhn an. Andererseits greift sie auf Begriffe wie Deaf Agency und Deaf Space zurück, um die „Motivation von tauben Interessenvertreter:innen zu fassen“ (S. 30).
Die Verknüpfung der Analyse natur- und geisteswissenschaftlicher Erklärungs- und Handlungsansätze kann, so Werner, den Wert interdisziplinärer Forschung in historischer Perspektive aufzeigen und gleichzeitig als Modell für diese Art des Forschens dienen. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2002, als die Deutsche Gebärdensprache im Behindertengleichstellungsgesetz als eigene Sprache anerkannt wurde. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, zu denen jeweils vier Kapitel gehören. Im ersten Teil geht es um die Rolle tauber Akteur:innen bei der Schaffung von „supranationalen Kommunikationsräumen“, in denen die „Bildung und Kommunikation von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen“ (S. 34) diskutiert und entwickelt wurde. Im zweiten Teil stehen die Vorgeschichten der untersuchten Fachdisziplinen im Fokus; hier ist die Subjektivität der „Denkkollektive“ (Fleck) eine zentrale Analysekategorie. Im dritten Teil untersucht Werner drei Felder der Hörgeschädigtenpädagogik: „Gebärdensprachenforschung, CI-Entwicklung und Aktivismus tauber Menschen“ im geteilten Deutschland („CI“ steht für „Cochlea-Implantat“). Die wissenschaftlichen Netzwerke der Hörgeschädigtenpädagogik, der Hörprothesenexpert:innen und der Gebärdensprachenforschung reichten von den USA und Westeuropa zu den Ländern des „Ostblocks“, insbesondere der UdSSR und der DDR. Zentral ist in allen Kapiteln die Frage nach den Transformationsprozessen, die zur Wahrnehmung und zur Wirkmächtigkeit der Deaf Agents führten, also der gehörlosen Interessenvertreter:innen der Gehörlosen. Das Programm der Studie ist damit weit gespannt und ambitioniert – aufgrund der thematischen Breite kann hier keine umfassende Würdigung vorgenommen werden. Zwei Beispiele sollen Werners Arbeitsweise verdeutlichen.
Anhand der internationalen Entwicklung der Cochlea-Implantate seit der Zeit um 1960 kann die Autorin einerseits das Zusammenwirken internationaler Expert:innen über Jahrzehnte hinweg nachvollziehbar darstellen (Kap. 7, S. 235–265). Die Forschenden in den USA waren in Netzwerke australischer, britischer und französischer Wissenschaftler:innen eingebunden, die auch Erkenntnisse sowjetischer Forscher:innen rezipierten und in ihre CI-Grundlagenstudien integrierten. Andererseits nennt Werner eine eklatante Lücke dieser Forschungsgemeinschaften: In deren schriftlichen Erinnerungen tauchten in der Regel nur jene „Betroffenen“ auf, die das CI befürworteten. Und sie wurden nicht als Impulsgeber:innen oder gar Partner:innen der Forschung reflektiert – vielmehr blieben sie für die hörenden Wissenschaftler:innen anscheinend Objekte. Zudem waren die CI-Forscher:innen einem Mindset verhaftet, das die Priorität der Lautsprache nie infrage stellte. Werner zufolge sind diese Forschungsgruppen ein typischer Beleg für Flecks „Denkkollektive“, deren Sichtfelder im Laufe der Zeit enger werden und kritische Distanz zur eigenen Arbeit erschweren.
Als zweites Beispiel soll Werners Analyse der Gebärdensprachenforschung in Nordwesteuropa und den USA sowie der Rezeption des „Pioniers“ William C. Stokoe dienen (Kap. 8, S. 267–305). Die Autorin kann zeigen, dass es bis in die späten 1960er-Jahre dauerte, die Forschung an Universitäten zu verankern. Bis zu diesem Zeitpunkt habe man darüber hinaus die vielfältigen Formen der nicht-lautsprachlichen Kommunikation unter dem Sammelbegriff „Gebärdensprache“ subsumiert. Erst in den 1970er-Jahren sei dieser Ansatz aufgebrochen worden. Werner schildert überzeugend, wie die Forschung sich seit den 1950er-Jahren langsam in verschiedenen Disziplinen und Ländern der These annäherte, dass es sich bei den regionalen und nationalen Gebärdensprachen um eigene Sprachsysteme handle, die sich deutlich von oralen Sprachsystemen unterschieden. Stokoes Veröffentlichung „Sign Language Structure“1 von 1960 wurde lange Zeit als Wende- oder Startpunkt dieser Entwicklungen gesehen. Entgegen der dominierenden, bis in die jüngste Zeit vertretenen Ansicht, dass Stokoe der Pionier im Feld gewesen sei, kann Werner verdeutlichen, in wie viele Netzwerke und Forschungszusammenhänge er eingebunden war, wie stark er von Vorarbeiten inspiriert war, wie viel er seinen Mitarbeitenden und mehr noch den Studierenden am Gallaudet College2 verdankte. Gleichzeitig kann Werner belegen, dass der Weg zur Anerkennung der Gebärdensprachen als prozesshafter Paradigmenwechsel im Kuhnʼschen Sinne zu verstehen ist. Dieser grundlegende Wandel war allerdings langwierig, und er stieß selbst am Gallaudet College auf Widerstand. Auch dort musste die akademische Community erst überzeugt werden. Dass die Durchsetzung von Stokoes Erkenntnissen kein Selbstläufer war, wird auch daran ersichtlich, dass seine Forschungsergebnisse auf dem „International Congress on the Education of the Deaf“ (ICED) von 1963 noch keine Rolle spielten. Zugleich kann Werner zeigen, dass parallel zu Stokoe (in Washington) noch an anderen Orten in den USA und in Europa, etwa in den Niederlanden, ähnliche Forschungsperspektiven entwickelt wurden.
Diese Beispiele stehen für einige der zahlreichen Ergebnisse, welche die Autorin zutage fördert. An manchen Stellen vermisst man allerdings eine Rückbindung an die Resultate anderer Untersuchungen. So skizziert Werner die Versuche des Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbandes der DDR, in den Weltverband der Gehörlosen („World Federation of the Deaf“, WFD) aufgenommen zu werden. Die Diskussion und Kommunikation mit Vertretern der Bundesrepublik, des WFD und anderen internationalen Akteur:innen zeigt dabei deutlich, dass auch über den „Eisernen Vorhang“ hinweg gesprochen wurde. Durch einen Vergleich mit Studien wie denen zum Impfen von Malte Thießen3 oder zur Psychiatrie von Ekkehardt Kumbier4 wäre die Geschichte der Gehörlosenpädagogik über die deutsch-deutsche Grenze hinweg noch besser in die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge einzuordnen gewesen.
Zudem kann der Sprachstil des Buches an manchen Stellen irritierend aktivistisch wirken. So scheint es etwa, als skandalisiere die Autorin in ihrer Analyse die Gehörlosenpädagogik der Bundesrepublik bis in die 1980er-Jahre. Werner verweist darauf, dass „das Recht der Kinder auf persönliche Entfaltung“ (S. 138) in den Schulen für Gehörlose nicht im Mittelpunkt gestanden habe. Dies ist zutreffend, allerdings war die „persönliche Entfaltung“ auch in den Regelschulen der 1950er- bis 1970er-Jahre keineswegs die leitende Perspektive. Letztendlich kann man als Leser:in die sprachlichen Irritationen aber produktiv nutzen, um den eigenen Standpunkt immer wieder zu reflektieren.
Insgesamt gelingt Anja Werner eine Pionierarbeit im Feld der Deaf History, indem sie den vielfältigen transnationalen Wissens- und Wissenschaftsnetzwerken nachspürt, welche die Gebärdensprachen als eigenständige Sprachen etablierten und gehörlose Menschen als Akteur:innen in die Fachdiskurse integrierten. Gleichzeitig erweitert sie die Forschung zur deutsch-deutschen Geschichte um ein Feld, das bisher in der Geschichtswissenschaft generell vernachlässigt worden ist. Wie auch in Vergleichen und Verflechtungsgeschichten zu anderen Themen wird hier ersichtlich, dass die Systemkonkurrenz zwar nicht zu völliger Abschottung führte, dafür aber unterschiedliche Entwicklungslinien verfolgt wurden, die unter anderem auf Ressourcenknappheit zurückzuführen waren. Im Gegensatz zum Impfen entwickelte sich die Gehörlosenpädagogik im geteilten Deutschland jedoch nicht zu einer Arena des öffentlich ausgetragenen Wettstreits, in dem Ost und West ihre Überlegenheit nachweisen wollten. Die Geschichte gehörloser Menschen bietet viele Ansatzpunkte für weitere vertiefende Forschungsprojekte5 – auch in dieser Hinsicht ist Anja Werners „‚Deaf History‘ als Wissenschaftsgeschichte“ ein Grundlagenwerk.
Anmerkungen:
1 William C. Stokoe, Sign Language Structure. An Outline of the Visual Communication Systems of the American Deaf, Buffalo 1960; Wiederveröffentlichung unter anderem in: Journal of Deaf Studies and Deaf Education 10 (2005), S. 3–37, https://doi.org/10.1093/deafed/eni001 (10.12.2024).
2 Das Gallaudet College, das unter diesem Namen seit 1894 bestand, ist seit 1986 eine Volluniversität (seither Gallaudet University). Sie ist die einzige Universität für gehörlose und gehörgeschädigte Studierende, deren Lehre vollständig auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist.
3 Vgl. etwa Malte Thießen, Vorsorge als Ordnung des Sozialen. Impfen in der Bundesrepublik und der DDR, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 409–432, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4731 (10.12.2024).
4 Vgl. zum Beispiel Ekkehardt Kumbier / Kathleen Haack (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR III. Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2023; Ekkehardt Kumbier (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR II. Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2020; ders. / Holger Steinberg (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte, Berlin 2018.
5 Etwa zeitgleich zum hier besprochenen Buch erschien der Sammelband von Anja Werner / Marion Schmidt (Hrsg.), Unsichtbare Geschichte(n) sichtbar machen. Gehörlose und schwerhörige Menschen im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Frankfurt am Main 2024. Der Rezensent ist dort selbst Mitautor, was ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zu Anja Werners Arbeiten aber nicht ausschließt.