Der Film „The Memory Guardians“ der ghanaisch-nigerianischen Künstlerin Nnenna Onuoha über die dominierenden Perspektiven auf die deutsche Kolonialgeschichte wurde inspiriert von der Zerstörung einer Skulptur in Berlin-Zehlendorf im Juni 2020. Der von Arminius Hasemann (1888–1979) in den 1920er-Jahren aus Muschelkalk gestalteten Figur „Hockende N∗∗“ war der Kopf abgeschlagen worden. Daraufhin wurde in der Zivilgesellschaft über die Ausstellung der beschädigten Figur im Schaudepot der Zitadelle Spandau kontrovers diskutiert.1 Die De-Kolonialisierung des öffentlichen Raums hat bundesweit zur Beschmutzung und Zerstörung zahlreicher „Denkmäler“, zur Umbenennung von Straßen und Plätzen sowie zur Entfernung von Reliefs und Gemälden geführt.
Zur wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Vergangenheit trägt auch das Auswärtige Amt (AA) bei, das im Herbst 2022 das „Bismarck-Zimmer“2 umbenannte und nun die quellenbasierte Aufarbeitung seiner institutionellen Rolle in der deutschen Kolonialpolitik mitfinanziert hat. Unter Führung des deutschen Reichskanzlers fand 1884/85 die sogenannte Kongo-Konferenz zur Aufteilung Afrikas unter den europäischen Staaten statt; im Außenministerium wurde 1890 die Abteilung für Kolonien gegründet, aus der 1907 das Reichskolonialamt hervorging.
Das Herausgeberquartett wirft einleitend die Frage auf, wie heute „die vielfältige bundesrepublikanische Gesellschaft“ (S. 9) ihr Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien im speziellen und zum sogenannten Globalen Süden im Allgemeinen gestalten möchte. Grundlegend für angemessene Antworten ist das vertiefte Wissen um die gemeinsame Geschichte. Zu den zentralen Akteuren zählt das AA, das für das Handeln der Herrschenden durch aktives wie reaktives Verwaltungshandeln verantwortlich, zumindest aber mitverantwortlich war. Fünf Forscherinnen und zwölf Forscher aus Australien, Deutschland, Kamerun, Österreich, Tansania, Togo und den USA gehen daher der Rolle des AA in der kolonialen Vergangenheit nach und stellen das Amtshandeln in den politischen, sowie in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext des Deutschen Kaiserreichs und seiner Kolonien. Dabei werden sie von drei Aspekten geleitet: Sie fragen nach dem Verhältnis von kolonialen Praktiken und Denkmustern zur Außenpolitik, die nicht auf Kolonien bezogen war, sie analysieren darüber hinaus Haltung und Selbstbild der Mitarbeitenden des AA und untersuchen schließlich das Verhältnis zu anderen im außenpolitischen Bereich Agierenden.
Der erste Teil des Sammelbands ist der Untersuchung der „direkten Kolonialherrschaft“ gewidmet. Zunächst stellt Martin Kröger die Anfänge der Kolonialpolitik unter Bismarck und die behördliche Entwicklung von der Kolonialabteilung im AA zum eigenständigen Reichskolonialamt (RKA) vor. Er betont, dass die vier Abteilungsleiter reine Verwaltungsbeamte ohne nennenswerte Erfahrungen im Ausland waren, die mit den Direktoren des RKA eine recht homogene Gruppe bildeten: Sie stammten überwiegend aus dem gehobenen Bildungsbürgertum, waren im ähnlichen Alter, evangelisch und hatten meist Jura studiert. Juristischen Aspekten wendet sich Jakob Zollmann zu, der die Entwicklung des deutschen Kolonialrechts beschreibt. Auf der Grundlage der Korrespondenz von Adolf Lüderitz mit dem AA untersucht er die Konstruktion von Schutzbriefen für die beanspruchten Gebiete, deren staatsrechtliche Stellung zum Reich durch das als „handwerklich wenig gelungen“ (S. 91) betrachtete Schutzgebietsgesetz (SGG) geklärt werden soll. In der unklaren Gewaltentrennung, der fehlenden Regelung von Zuständigkeiten und Kompetenzen des SGG liegt seiner Erkenntnis nach die „Flut“ einer unüberschaubaren Anzahl kolonialrechtlicher Vorschriften begründet.
Auf der Berliner Konferenz 1884/85 einigten sich die europäischen Mächte darauf, die Aufteilung Afrikas ohne kriegerische Konflikte durchzuführen, wie Tanja Bührer erläutert. Die Ausübung von Gewalt richtete sich nur gegen afrikanische „Parteien“ (S. 105), denen weder Schutz vor den Europäern noch das Recht auf Widerstand zugesprochen wurde. Am brutalen Vorgehen des Reichskommissars in Deutsch-Ostafrika zeigt sie, wie die Reichsbehörden der außerkonstitutionellen Kommandogewalt begegnen wollten, und kommt zu dem Fazit, dass sich das AA geleitet von „Ignoranz, Illusion von Kontrollen und Furcht“ (S. 121) vor der Öffentlichkeit der Verantwortung für die Dynamiken der Gewalt entzogen habe. Neben Hermann von Wissmann wird auch Lothar von Trotha heute als Kolonialverbrecher verurteilt.
Trothas Tagebücher hat Matthias Häussler ediert, der den Generalleutnant als Hauptverantwortlichen für den Genozid in Deutsch-Südwestafrika nennt. Er unterstreicht, dass die Kolonialabteilung bzw. später das RKA als „schwache Institution“ (S. 125) weder ein effektives Kontrollinstrument noch ein geeignetes „Bindeglied“ (S. 125) zwischen Reichsregierung und Kolonien gewesen sei.
Anhand von Berichten und Fotos aus der Kolonialzeit in Togo zeichnet Kokou Azamede die Verbindungslinie vom Einsatz der aus Angehörigen der Hausa gebildeten deutschen Polizeitruppe und dem Selbstverständnis der heutigen Togoer. Seiner Erkenntnis nach wirken der militärische Drill und die gewalttätige Disziplinierung in den Missionsschulen bis heute in die Erziehungsformen hinein, denn durch die „transkulturelle Aphasie“ (S. 164) würden diese erniedrigenden Behandlungen als eigene Traditionen angenommen.
Die Rolle des AA bei der von der Reichsleitung erfolgten Besetzung der ostchinesischen Shandong-Halbinsel untersucht Yixu Lü, die auf den „schwierigen Spagat“ (S. 169) hinweist, den die Beamten zwischen der Ausführung kolonialpolitischer Vorgaben und der „Schadensbegrenzung“ (S. 169) nach den eigenmächtigen, von der Angst vor Übervorteilung durch die anderen Hegemonialmächte getroffenen Entscheidungen des Kaisers bewerkstelligen mussten.
Motive der Samoaner, sich in den Kolonialdienst zu stellen, erforscht Holger Droessler. Er unterstreicht in seinem hier wiederabgedruckten Aufsatz von 2022 die Vermittlerrolle dieser mehrsprachigen Mitarbeiter, die wegen ihrer Bedeutung für die Kolonialverwaltung über einen „beträchtlichen Handlungsspielraum“ (S. 186) verfügt hätten, und porträtiert zwei Dolmetscher, Charles T. Taylor und Taio Tolo, der 1914 die Ungleichbehandlung anprangerte. Droessler unterstreicht die Gefahr, die von den militärisch ausgebildeten samoanischen Polizisten und Soldaten bei Konflikten mit chinesischen Arbeitern auch für die deutschen Siedler bestanden habe.
David Simo analysiert das koloniale Dispositiv anhand von ausgewählten Dokumenten des AA, indem er ausgehend von Foucaults Subjektverständnis nach den „mentalen Raumkonstruktionen“ (S. 213) fragt. Die Berliner Konferenz 1884/85 betrachtet er als kolonialen Diskurs, von dem die Bewohner Afrikas als „quasi nicht-human“ (S. 215) aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und „dem Tierlichen“ (S. 216) zugeordnet worden seien. Simo hebt hervor, dass diese Topoï bis weit ins 15. Jahrhundert zurückreichen, als die Päpste die Unterwerfung von Indigenen legitimierten. Im Sinn eines neuen Dispositivs hebt er hervor, dass aus den Kolonien Kinder der Eliten nach Deutschland kamen und zwei von ihnen 1919 auf die Friedensverhandlungen einwirken wollten.
Die Erforschung der Kontinuität kolonialer Denkmuster seit dem Ende des Ersten Weltkriegs steht im zweiten Teil unter der Überschrift „Kolonialismus ohne Kolonien“ im Zentrum. Als einzige europäische Macht hatte Deutschland nach 1918 keine Kolonien mehr, seit 1924 war das AA für die kolonialen Fragen zuständig, und nach Gabriele Metzler setzte es „auf soft power und informelle Durchdringung“ (S. 246). Sie unterstreicht die Komplexität, einerseits kolonialrevisionistische Ziele von Verbänden zu begegnen und diese Verbände andererseits für die außenpolitischen Ziele der Weimarer Republik zu instrumentalisieren, um die „Kolonialschuldlüge“ (S. 267) zu tilgen.
Der Zeit des Nationalsozialismus widmet sich Johannes Hürter, der betont, dass im AA insbesondere antibritisch gesinnte Diplomaten die Wiedererlangung von Kolonien in Übersee betrieben und „Blaupausen“ (S. 292) für die Ansiedlung von Juden in Afrika vorgelegt hätten. Seiner Erkenntnis nach stand der Besitz von Kolonien in Afrika trotz der am kolonialpolitischen Aufbruch beteiligten „Fülle“ (S. 290) von Behörden, Institutionen und Privaten jedoch nicht im Fokus von Hitlers Eroberungsplänen, der schon in „Mein Kampf“ den „Lebensraum“ in Mittel- und Osteuropa verortet hatte. Abschließend stellt Hürter die Auswirkungen der NS-Ideologie für Afrikaner in Deutschland vor, die durch das Reichsbürgergesetz ausgegrenzt, stigmatisiert, sogar sterilisiert und für Tropenmedizin zu Menschenversuchen missbraucht wurden.
Stefan Seefelder untersucht das Spannungsfeld zwischen kolonialpolitischer Kontinuität und europäischem Transformationsprozess in den 1950er-Jahren. Dabei habe sich die Hallstein-Doktrin als „Wendepunkt“ (S. 331) zur eigenständigen Linie der Außenpolitik erwiesen. Das AA sei jeglichem Kolonialrevanchismus ablehnend begegnet und habe durch bilaterale Verträge mit den dekolonisierten afrikanischen Ländern den politischen Einfluss der BRD gesteigert.
Die Rolle der BRD bei der De-Kolonisierung von Ost-Timor zwischen 1974/75 und 1982 analysiert Pai-Li Liu. Obwohl die Deutschen für sich das Recht auf Selbstbestimmung beansprucht hätten, habe die BRD nach der Auflösung des portugiesischen Kolonialreichs den ähnlich begründeten Forderungen von Ost-Timor keinen Nachdruck verliehen. Denn das AA habe nach seiner Erkenntnis aufgrund überkommener Denkmuster sowie aufgrund realpolitischer und geostrategischer Sicherheitsüberlegungen diese Interessen untergeordnet.
Den Denkmustern bundesdeutscher Beamten zuzuschreiben ist auch die Zurückhaltung zu Restitutionen aus musealen Beständen in den 1970er- und 1980er-Jahren. Lars Lehmann zeigt die Handlungs- und Deutungsmuster des AA auf, die sich in Austausch mit den anderen an den Restitutionsdebatten beteiligten Akteuren wie Botschafter und Museumsdirektoren von Bereitschaft zur Rückgabe zur Ablehnung von Anforderungen wandelten. Er unterstreicht, dass sich in den Quellen aus dem AA keinerlei „reflektierte oder gar selbstkritische Auseinandersetzung“ (S. 384) mit der kolonialen Vergangenheit aufzeigen ließe.
Als ein Beispiel für Kulturobjekte betrachtet Carlos Alberto Haas die im Humboldt-Forum ausgestellten Stelen der Cotzumalhuapa-Kultur, die ab 1858 in Guatemala entdeckt und 1876 vom Gründungsdirektor des Völkerkundemuseums persönlich inspiziert wurden. Haas zeichnet akribisch den Weg der Stelen von Südamerika nach Berlin nach und hebt hervor, dass der „kolonial kontaminierte deutsche Blick“ (S. 403) bis heute Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung in Südamerika hat, besonders in Guatemala, und die Asymmetrien der Vergangenheit immer wieder reproduziert werden.
Doch nicht nur in Deutschland sind Objekte aus Kolonien. In den ehemaligen Kolonien sind auch deutsche Objekte in Museen zu sehen. Den meist militärischen Gegenständen, die General von Lettow-Vorbeck gehörte haben und die heute in Dar es Salaam ausgestellt werden, widmet sich Flower Manase Msuya. Sie hebt hervor, dass das Kulturmuseum bis heute als fremdartige Institution betrachtet wird und die „Deutsche Sammlung“ Teil der Debatten über den antikolonialen Widerstand und die Gewaltherrschaft der deutschen Kolonialherren sei. In der von den Briten zu Beginn ihrer Mandatsherrschaft initiierten Propaganda sieht sie begründet, dass die deutsche Kolonialherrschaft als wesentlich brutaler erinnert wird als die britische.
Der den Kolonialdenkmälern immanenten Gewalt, die diese zu einem belastenden Erbe machen, untersucht Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon. Er skizziert die antikolonialen Aktionen seit den 1960er-Jahren und diskutiert den „Bumerang-Effekt“ (S. 437) der strukturellen Gewalt des Kolonialismus, der heute in den „Denkmalsturzaktionen“ (S. 445) gegen koloniale Relikte seinen Ausdruck finde. Er unterstreicht darüber hinaus die Bedeutung der postkolonialen Provenienzforschung für Kulturobjekte und vor allem für „human remains“, die die Anerkennung des „Kolonialismus als Gewalttat“ (S. 454) fördere.
Brigitte Reinwald resümiert über das Verhältnis des AA mit der (Post-)Kolonialgeschichte in der „longue durée“ des 19. und 20. Jahrhunderts, um in den unterschiedlichen Epochen die Bedeutung des Kolonialismus für die außenpolitische Praxis aufzuzeigen. Die Fokussierung auf die deutsche Institution ist nach Reinwald „den Erfordernissen einer tiefenscharfen [...] Analyse geschuldet“ (S. 457), der sie durch das Aufzeigen von zwischenstaatlichen Querverbindungen begegnet.
Das Herausgeberquartett betont, mit diesem Sammelband einen ersten Anstoß zu weiteren Forschungen geben zu wollen. Die Beiträge sind als Ausgangspunkt zu verstehen, die Anregungen zur weiterführenden und vertiefenden quellenbasiert-kritischen Auseinandersetzungen mit der Institution, aber auch mit dem Verhältnis des AA zu anderen Akteuren und Akteurinnen des deutschen und europäischen Kolonialismus geben. Viele Fragen werden beantwortet, viele bleiben offen, und viele Antworten führen wiederum ihrerseits zu neuen Fragen, die nur unter Einbeziehung Indigener bearbeitet werden können. So wie beim „Kollaborativen Museum“ neue Wege der transkulturellen Museumsarbeit erprobt werden, können international diskursiv quellenbasierte, multiperspektivische Forschungen zu unserer gemeinsamen Geschichte unternommen werden, um im Denken wie im Handeln koloniale Kontinuitäten zu überwinden.3
Anmerkungen:
1 The Memory Guardians. A Film by Nnenna Onuoha, in: Museumsportal Berlin, https://www.museumsportal-berlin.de/de/ausstellungen/the-memory-guardians/#:~:text=Die%20ghanaisch-nigerianische%20K%C3%BCnstlerin (02.10.2024); Hockende N∗, in: Bildhauerei in Berlin, https://bildhauerei-in-berlin.de/bildwerk/hockende-n-7043/ (02.10.2024); Skulptur „Negerin“ in Zehlendorf. Diese Nazi-Kunst soll endlich weg von der Straße, in: Berliner Zeitung online, https://www.bz-berlin.de/berlin/steglitz-zehlendorf/diese-nazi-kunst-soll-endlich-weg-von-der-strasse (02.10.2024).
2 Historischer Raum. Auswärtiges Amt benennt Bismarck-Zimmer um, in: Welt online, https://www.welt.de/politik/deutschland/article242567061/Auswaertiges-Amt-benennt-Bismarck-Zimmer-um.html#:~:text=wolf.%20Das%20Bismarck-Zimmer%20im%20Ausw%C3%A4rtigen (02.10.2024); »Saal der Deutschen Einheit«
Auswärtiges Amt benennt Bismarck-Zimmer um, in: Der Spiegel online, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-auswaertiges-amt-benennt-bismarck-zimmer-um-a-4a36979d-c276-4c6b-9f24-4da5890b6b7e (02.10.2024).
3 Rede der Außenministerin anlässlich der Buchvorstellung am 5. Juni 2024, in: Auswärtiges Amt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/rede-kolonialismus/2660398, (04.10.2024); vgl. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten, Abschnitt VI, S. 100, in: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf (04.01.2024).