Die Verkehrsgeschichte hat in den letzten Jahren einen Stand erreicht, der neue Einführungen, Handbücher oder Gesamtdarstellungen erlaubt.1 Der Titel des zu besprechenden Buches lässt zunächst ein derartiges Werk vermuten. Es handelt sich jedoch um den Tagungsband der Jahrestagung 2007 der Schweizer Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Allerdings muss betont werden, dass das Buch sehr viel mehr als ein gewöhnlicher Tagungsband und durchaus auch für Leser/innen außerhalb der Schweiz interessant ist.
In der Entwicklung der Verkehrsgeschichte spielte die Schweiz eine Vorreiterrolle. Insbesondere beneiden viele Kolleg/innen das Land um das Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz (IVS) und die daraus hervorgegangene Forschungseinrichtung ViaStoria. Der Band enthält sowohl Beiträge von Vertreter/innen dieser (Sabine Bolliger, Heinz Herzig, Hans-Ulrich Schiedt) als auch internationaler Institutionen der Verkehrsgeschichte (Michèle Merger, Laurent Tissot).2 Schließlich wird dort ein Beitrag des verstorbenen Jean-François Bergier (1931-2009) veröffentlicht, dessen „Geographie des cols des Alpes à la fin du Moyen Age“ (Paris 1955) vor über 50 Jahren die Erforschung der Querung der Alpen befruchtet hat.
Insgesamt versammelt der Band 36 Aufsätze, davon 24 in deutscher, elf in französischer und einen in italienischer Sprache. Bei 24 Beiträgen sind die Forschungsgegenstände in der Schweiz zu verorten, die anderen beziehen sich auf andere Regionen oder sind übergreifender Natur.
Lobenswert ist, dass Verkehrsgeschichte hier epochenübergreifend von der Antike bis ins 20. Jahrhundert betrachtet wird. Ein Register und ein gemeinsames Literaturverzeichnis hätten allerdings die in Ansätzen eben doch vorhandenen Handbuchqualitäten des Buches verstärkt. Die Beiträge werden durch vier Teile, die erfreulicherweise mit übergreifenden Bemerkungen eingeleitet werden, strukturiert. Sie behandeln die Zeit von der Antike bis zur frühen Neuzeit (1), das 19. Jahrhundert (2), das 20. Jahrhundert (3) und den öffentlichen Verkehr im 20. Jahrhundert (4).
In der vormodernen Verkehrsgeschichte kann die Schweizer Forschung ihre Stärke einer soliden Datenbasis ausspielen. Marie-Claude Schöpfer Pfaffen gründet seinen Beitrag zur Verkehrspolitik im Mittelalter direkt auf dem Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz (IVS). So kann er klären, dass es im Mittelalter in manchen Regionen zwar eine gewisse Tendenz zu systematischer Beeinflussung des Verkehrssystems gegeben habe, man aber dennoch zwischen diesen Handlungen eines personell organisierten Herrschaftsverbandes und der Verkehrspolitik der Moderne unterscheiden müsse.
Sabine Bolliger stützt ihre Aussagen zu den Römerstraßen als Vorbild für den modernen Chausseebau indirekt auf das IVS. Beachtung verdient ihre Aussage, dass der Rückgriff auf den römischen Straßenbau zwar im zeitgenössischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte, die technische Realität aber eine andere sei: Aufgrund ihrer Struktur unterscheide sich eine Römerstraße (nach Grabungsbefund) kaum von einer Chaussee des 18. Jahrhunderts, mit dem Rückgriff auf Vitruv habe dies aber wenig zu tun. Den aus dem Artikel von Radke in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft bekannten Aufbau („statumen, rudus, nucleus, pavimentum“) kann man also getrost vergessen. Schiedts Beitrag zu „Kapazitäten des Fuhrwerksverkehrs im 18. und 19. Jahrhundert“ ist zunächst bemerkenswert, weil er auch mit Formeln arbeitet, was in der Technikgeschichte mittlerweile leider selten ist. Inhaltlich gesehen ist sein Ziel einer Quantifizierung im Rahmen der Interpretation des Verkehrssystems zu begrüßen.
Max Baumanns zeigt in „Schiffe, Fuhrwerke und Eisenbahn“, wie der Nutzungskonflikt zwischen Schifffahrt und Wasserkraft ein wichtiger Faktor für den Niedergang der Binnenschifffahrt der Schweiz war. Freilich ist die internationale Forschung zur Binnenschifffahrt durchaus breiter, als es dieser Beitrag und die Einleitung suggerieren. Dies zeigt auch der Aufsatz von Giles Forster „Le canal du Rhône au Rhin, 1900-2006“, der einige der wichtigsten Titel zitiert.3
Unter den Beiträgen zum 19. Jahrhundert beziehen sich zwei auf das Projekt GIS-Dufour4 und drehen sich inhaltlich um die Frage von Raumerschließung und Erreichbarkeit. Philipp Flury führt in „Verkehrsgeschichte in digitaler Form“ vor allem in die Einsatzmöglichkeiten geographischer Informationssysteme für die Verkehrsgeschichte ein und weist auf die dabei zu berücksichtigenden Gefahren von Zirkelschlüssen hin. Thomas Frey greift in „Lokaler Raumwiderstand“ eine konkrete Auswertungskategorie heraus. Die Beiträge zeigen die außergewöhnlich gute Eignung der Schweiz für quantitative, vergleichende Studien auf.
Der jüngeren Geschichte gilt wohl naturgemäß immer ein besonders großes Interesse. Mit 14 Beiträgen zum 20. Jahrhundert ist dieser Überhang im vorliegenden Sammelband sogar vergleichsweise moderat. Die Strukturierung in zwei Teile befriedigt nicht, die Beiträge zum Teil: Beim Beitrag von Michèle Merger zum Projekt der Eisenbahn-Neubaustrecke Lyon-Turin bleibt etwas rätselhaft, wo in dieser Schilderung der Projektgenese der Beitrag der historischen Verkehrsforschung sein soll. Ueli Haefelis Skizze der „Renaissance des Elektromobils in der Schweiz seit 1970“ versucht ebenfalls, den Anspruch einer politikberatenden Funktion der Verkehrsgeschichte einzulösen, kann aber auch nicht restlos überzeugen. Zum einen können für die ältere Geschichte des Themas fast nur Forschungslücken konstatiert werden, zum anderen verwundert der Schluss. Mit dem Satz „Ohne politischen Druck wird sich die Automobilindustrie kaum bewegen“ widerspricht Haefeli seinen Aussagen über die Wirkung der Ölverknappung und des Klimawandels. Trotz aller Wut über die Rolle der Öl- und Autoindustrie im Fall Smart und anderswo spricht aber nichts dafür, ihr zu unterstellen, sie würde einen möglichen Profit ausschlagen.
Ein besseres Bild scheint die Verkehrsgeschichte abzugeben, wenn sie sich etwas entfernter von aktuellen Diskussionen bewegt. Bei der Re-Kommunalisierung von Wassernetzen und ähnlichem können historische Befunde als Stütze, Warnung oder Kontrastfolie eine wichtige Hilfe sein. Leser/innen mit dieser Fragestellung finden im vorgelegten Sammelband eine Reihe von interessanten Beiträgen: So illustriert Serge Paquier („Perspectives de crise ènergétique et alternatives hydromécaniques“) die Legitimation der öffentlichen Betriebe durch die Unzufriedenheit mit der Leistung der privaten Anbieter von Infrastrukturen im 19. Jahrhundert.
Die Frage des Verhältnisses von öffentlichen Aufgaben und Unternehmen in privater oder öffentlicher Hand thematisiert Jonas Steinmann in „Die Geburtstunde der Bahnmanager. Über das Ende der ,gemeinwirtschaftlichen Unternehmung` SBB“. Dort werden Hintergründe und Chronologie der Bahnreform der Schweiz genauer dargestellt als bisher. Das Paradigma „Gemeinwirtschaft“ galt jedoch nicht nur für die SBB, sondern für die staatlichen Bahnen, Betriebe des öffentlichen Personennahverkehrs und sonstige öffentliche Infrastrukturen anderer Länder. Da mittlerweile einige quellenbasierte Studien vorliegen, wäre es nun an der Zeit, die immer noch lesenswerte Skizze „Staat und Verkehr“ von Volker Hentschel (1988) durch eine neuere Synthese zu ersetzen.5
Spätestens seit Wolfgang Schivelbuschs 1977 seine „Geschichte der Eisenbahnreise“ vorlegte, wurde oft gefordert, Verkehrsgeschichte als Kulturgeschichte zu betrachten. Meist verfolgten die Untersuchungen aber doch andere Fragen, als die Erfahrung in und mit den Verkehrsmitteln selbst zu thematisieren. Barbara Schmucki zeigt nun in „Nothing remindes you […]“ anhand von Reiseberichten und ähnlichen Quellen, wie sich die Reiseerfahrung von England auf den Kontinent von einem Abenteuer zu einem berechenbaren Erlebnis wandelte.
Matteo Troilo, „Giovani e automobili nell’Italia del ‚boom economico’“, beschäftigt sich mit einer anderen Facette der Kulturgeschichte des Verkehrs, den heute als „Kult“ verstandenen Autos wie Fiat 500, VW Käfer oder Citroen DS. Er zeigt auf, wie sich dieser „Kult“ entwickelte und gibt, was besonders bemerkenswert ist, mit Hilfe der Auswertung von Automobilzeitschriften, Hinweise zur Quantifizierung des Phänomens und seiner wirtschaftshistorischen Einordnung. So stieg etwa der Wert des VW Käfers Baujahr 1974 von 1978 bis 1980 an (1,4 auf 1,5 Mio Lire Minimum), anstatt mit dem Alter zu sinken.
Schließlich ist Monika Domanns Darstellung der „Palettisierung“ in der Schweiz erwähnenswert, die auf wenig bekannte Aspekte der Entwicklung des Verkehrssystems aufmerksam macht. Denn während viele dabei an anspruchsvolle technische Innovationen wie den Hochgeschwindigkeitsverkehr denken, wurde gerade der Güterverkehr nach 1945 durch technisch sehr simple Neuerungen wie die Palette grundlegend umgewälzt. Der Beitrag, der das Phänomen sehr nah an den Quellen und hauptsächlich aus Schweizer Perspektive beschreibt, lässt dabei genügend Raum für weitergehende Studien.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass unbenommen einiger Kritikpunkte im Detail das Werk allen, die sich für Verkehrsgeschichte interessieren, vorbehaltlos empfohlen werden kann.
Anmerkungen:
1 Beispiele: Christoph Maria Merki, Verkehrsgeschichte und Mobilität, Stuttgart 2008; Rolf Peter Sieferle, Transportgeschichte, Berlin 2008; Oliver Schöller u.a. (Hrsg.), Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden 2007.
2 Laurent Tissot 2001 ist Schatzmeister der International Commission for the History of Travel and Tourism (ICHTT, <http://www.ichtt.org> (09.11.2010)) und Mitglied im Exekutivkomitee der International Association for the History of Traffic, Travel and Mobility (T2M, <http://t2m.org/> (09.11.2010)); Michèle Merger ist Présidente honoraire der Association internationale pour l'histoire des Chemins de fer (AIHF, <http://www.aihc-irha-aihf.com> (09.11.2010)).
3 Genannt sei Andreas Kunz / John Armstrong (Hrsg.), Inland Navigation and Economic Development in Nineteenth-Century Europe, Mainz 1995.
4 Für Nicht-Schweizer: Henri Dufour gab 1845-1865 das erste amtliche Kartenwerk der Schweiz heraus, das hier in ein historisches Geographisches Informationssystems integriert wird.
5 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Michael Hascher, Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006; Christopher Kopper, Die Bahn im Wirtschaftswunder. Deutsche Bundesbahn und Verkehrspolitik in der Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt am Main 2007; Gisela Hürlimann, Die Eisenbahn der Zukunft: Automatisierung, Schnellverkehr und Modernisierung bei den SBB 1955 – 2005, Zürich 2007; André Kirchhofer, Stets zu Diensten – gezwungenermaßen. Die Schweizer Bahnen und ihre „Gemeinwirtschaftlichkeit“ für Staat, Wirtschaft und Bevölkerung, Basel 2009.