G. Legentilhomme: Le développement du système suisse d'assurance-maladie

Cover
Titel
Entre mutualisme et marché. Le développement du système suisse d'assurance-maladie (XIXe–XXe siècles)


Autor(en)
Legentilhomme, Geoffroy
Erschienen
Neuchâtel 2024: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
CHF 40.90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Peter Streckeisen, Departement Soziale Arbeit, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Private Vorsorgeeinrichtungen spielen eine zentrale Rolle im schweizerischen Sozialstaat. Dies gilt insbesondere für Pensionskassen und Krankenkassen, die seit den 1980er- beziehungsweise 1990er-Jahren als Trägerinnen obligatorischer Sozialversicherungen tätig sind. Die Entstehung und Entwicklung dieser Einrichtungen sind bis heute nur bruchstückhaft erforscht, weil sich sowohl die Geschichtsschreibung als auch die Politikwissenschaften in erster Linie für Sozialgesetzgebung, staatliche Agenturen und politische Debatten interessierten, in deren Schatten sich die privaten Organisationen entwickelten. Entsprechend bearbeitet die vorliegende Monografie von Geoffroy Legentilhomme eine große Forschungslücke, die nicht durch eine einzelne Publikation geschlossen werden kann.

Legentilhomme legt eine historische Untersuchung zu den schweizerischen Krankenkassen vor, die in einer Langzeitperspektive angelegt ist. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1846 – zwei Jahre vor Gründung des eidgenössischen Bundesstaates – bis 1974. Der Autor verbindet verschiedene Perspektiven auf den Forschungsgegenstand: Zum einen rekonstruiert er die Entwicklung der sozialpolitischen Debatten und gesetzlichen Rahmenbedingungen der Krankenversicherung in der Schweiz. Zum anderen präsentiert er Übersichtsdarstellungen zu bestimmten Zeitpunkten, etwa in Bezug auf die Versicherungsabdeckung oder die Struktur des Vorsorgemarktes. Schließlich umfasst seine Untersuchung Einzelfallstudien zu einer Vorsorgeeinrichtung aus der französischsprachigen Schweiz (SVSM) sowie zu einer privaten Versicherungsgesellschaft aus der Deutschschweiz (VITA), die erst in der Nachkriegszeit in das Geschäft mit der Krankenversicherung einstieg. Durch diese Kombination verschiedener Perspektiven lassen sich wertvolle Einblicke in die Geschichte der schweizerischen Krankenversicherung gewinnen.

Die vorliegende Untersuchung ist chronologisch in drei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst den Zeitraum 1846 bis 1912, das heißt von der Gründung des Bundesstaates bis zur Etablierung der ersten Sozialversicherungen in der Schweiz. Legentilhomme rekonstruiert das Ökosystem der solidarischen1 Vorsorgeeinrichtungen des 19. Jahrhunderts (S. 37–47). Anschaulich legt er die außerordentliche Vielfalt der meist lokalen Einrichtungen dar, die sich vor der Entstehung des modernen Sozialstaats gebildet hatten. Viele dieser Organisationen wiesen religiöse oder regionalspezifische Züge auf, und nicht selten waren sie mit der aufkommenden Arbeiterbewegung verbunden. Sie konzentrierten sich darauf, im Krankheitsfall Taggelder zu bezahlen, um den Erwerbsausfall zu kompensieren. Die Kosten für Pflege oder Medikamente waren noch nicht Gegenstand der Vorsorge. Mitglieder der Solidareinrichtungen waren zunächst ausschließlich erwerbstätige Männer. Die solidarischen Einrichtungen sahen sich durch die Projekte zur Etablierung sozialstaatlicher Sicherungssysteme herausgefordert und begannen sich zu organisieren, um zu Protagonistinnen des modernen Sozialstaates zu werden (S. 75–90). Legentilhomme rekonstruiert die entsprechenden Diskussionen und Strategien mit Bezug auf die erste Gesetzesvorlage zur Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz, die im Jahr 1900 an einer Volksabstimmung scheiterte. Etwa ein Jahrzehnt später wurde ein Gesetz über die Unfall- und Krankenversicherung in Kraft gesetzt, dem zu Folge die Unfallversicherung obligatorisch wurde, die Krankenversicherung aber freiwillig blieb. Der Bundesstaat begann nun die Krankenkassen zu beaufsichtigen und zu subventionieren. Zu dem Zweck mussten diese sich nicht nur erstmals mit versicherungsmathematischen Vorgaben auseinandersetzen, um ihre Zahlungsfähigkeit zu gewährleisten, sondern sich auch für Frauen und Kinder öffnen.

Der zweite Teil der Untersuchung umfasst die Jahre 1912 bis 1936. In diesem kürzeren Zeitraum bewegten sich die Krankenkassen in dem oben skizzierten frühen sozialstaatlichen Rahmen und vermochten die Versicherungsabdeckung wesentlich zu steigern, obwohl die Versicherung freiwillig geblieben war. Als zentrale Veränderung hebt Legentilhomme die Medikalisierung der Krankenversicherung hervor: In zunehmendem Ausmaß wurde die Abgeltung der medizinischen Behandlungs- und Pflegekosten zur wichtigsten Vorsorgeleistung, während der Erwerbsersatz in den Hintergrund rückte (S. 109–130). Die Krankenkassen waren dadurch gezwungen, mit der organisierten Ärzteschaft ins Geschäft zu kommen, was sich als herausfordernd erweisen sollte. Insbesondere war es den Ärzt:innen ein Dorn im Auge, dass die Kassen sich nicht darauf beschränkten, die armutsbetroffene Bevölkerung abzusichern, sondern das längerfristige Ziel anstrebten, die gesamte Bevölkerung im Rahmen einer obligatorischen Krankenversicherung zu versichern. Die Ärzteschaft sah durch die Einmischung der Krankenkassen die direkte Beziehung zu den Patient:innen gestört und musste weitgehend auf die bisherige Tariffreiheit verzichten: Für Leistungen im Rahmen der staatlich subventionierten Krankenversicherung wurden feste Tarife ausgehandelt. In diesem Zeitraum bildeten sich demnach Konfliktlinien heraus, die von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart prägend bleiben sollten. Ebenso beobachtet Legentilhomme eine erste Phase der Marktkonzentration durch die Entstehung großer, landesweit tätiger Krankenkassen aus der Deutschschweiz, die sich in zunehmendem Ausmaß von ihren lokalen und solidarwirtschaftlichen Wurzeln entfernten (S. 118–123).

Der dritte Teil des Buches befasst sich mit dem Zeitraum 1936 bis 1974. Während unmittelbar nach Kriegsende die Einführung der obligatorischen Altersvorsorge (AHV) einen großen Schritt in der Sozialstaatsentwicklung mit sich brachte, bewegte sich im Bereich der Krankenversicherung auf gesetzlicher Ebene wenig bis gar nichts. Dennoch entwickelte sich dieser Bereich in den Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums äußerst dynamisch weiter, sodass in den 1970er-Jahren eine annähernd vollständige Abdeckung der Bevölkerung auch ohne Versicherungsobligatorium erreicht wurde. Die Zahl der Krankenkassen war zugleich rückläufig von circa 1.100 Kassen um 1950 auf nur noch etwas über 700 Mitte der 1970er-Jahre (S. 195). Damit zeichnete sich ein Konzentrationsprozess ab, der im Zeitraum nach der vorliegenden Untersuchung zur vollen Entfaltung kommen sollte: Im Jahr 2023 werden trotz der inzwischen obligatorisch gewordenen Krankenversicherung in der Schweiz nur noch 49 Krankenkassen gezählt (S. 194). Legentilhomme deutet jedoch bereits an, in welche Richtung die Entwicklung geht: Aus den zahlreichen lokalen Solidareinrichtungen entstehen im Verlauf eines Jahrhunderts einige wenige professionell geführte Dienstleistungsunternehmen mit einem diversifizierten Leistungsangebot. Legentilhomme zeigt am Beispiel der VITA Krankenversicherung, einer Tochtergesellschaft der Zürich Versicherungen, wie private Versicherungsgesellschaften in der Nachkriegszeit versuchten, in das wachsende Krankenversicherungsgeschäft einzusteigen und den Zugriff der Krankenkassen auf Bevölkerungsgruppen mit mittleren bis höheren Einkommen zu stoppen. Die Konkurrenz zwischen den beiden Unternehmenstypen spitzte sich im Bereich der Kollektivversicherungen zu, die Unternehmen für ihre Angestellten abschließen konnten, um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sicherzustellen (S. 240–248).

Legentilhomme legt eine empirisch gesättigte, detailreiche und sorgfältige Untersuchung vor, die ein weitgehend brachliegendes Forschungsfeld erschließt. Es gelingt allerdings erst in Ansätzen, aus einer primär deskriptiven Perspektive eine weiterführend analytische Tiefe zu gewinnen. Die Auswahl der SVSM sowie der VITA für Einzelfallstudien überzeugt nicht vollständig: Möglicherweise wäre es zielführender gewesen, die Geschichte einer der großen zentralisierten Krankenkassen aus der Deutschschweiz über den gesamten Zeitraum zu rekonstruieren. Eine Bezugnahme auf übergreifende Narrative aus der Sozialpolitikforschung – beispielsweise die Entwicklungsdynamik des sogenannten Goldenen Zeitalters nach dem Zweiten Weltkrieg, der Aufstieg zur sogenannten Versicherungsgesellschaft oder die Unterscheidung verschiedener sogenannter Wohlfahrtsregime – leistet die vorliegende Studie höchstens in Ansätzen. Und um die Transformationen des Kassenwesens bis 1974 angemessen einordnen zu können, führt kein Weg an der Erforschung des anschließenden Zeitraums bis zur Gegenwart vorbei, während dem nicht nur die Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (1994) realisiert wurde, sondern sich der oben erwähnte Konzentrationsprozess dramatisch zuspitzte. Trotz der genannten Einschränkungen ist der äußerst wertvolle Beitrag der vorliegenden, schließlich auch geschichtswissenschaftlich angelegten Untersuchung zur Forschung über private Vorsorgeeinrichtungen in der Schweiz sehr zu würdigen. Es wäre wünschenswert, dass Geoffroy Legentilhomme seine Ergebnisse auch in englischer und deutscher Sprache veröffentlicht.

Anmerkung:
1 Legentilhomme verwendet den im Französischen üblichen – und von den Vorsorgeeinrichtungen selbst verwendeten – Begriff mutualisme zur Kennzeichnung dieser Einrichtungen. Eine wörtliche Übersetzung ist missverständlich, weil der Begriff Mutualismus auf Deutsch in erster Linie in der Biologie Verwendung findet. Deshalb ist in dieser Rezension in der Regel von solidarischen Einrichtungen oder Solidareinrichtungen die Rede.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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