S. Panter u.a. (Hrsg.): Mobilität und Differenzierung

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Titel
Mobilität und Differenzierung. Zur Konstruktion von Unterschieden und Zugehörigkeiten in der europäischen Neuzeit


Autor(en)
Panter, Sarah; Paulmann, Johannes; Weller, Thomas
Reihe
Ein Europa der Differenzen/Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Schulte, Abt. für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte, Universität Bonn

Der vorliegende, von Sarah Panter, Johannes Paulmann und Thomas Weller im Kontext des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz herausgegebene Sammelband strebt eine Neuperspektivierung von Mobilitäts- und Differenzphänomenen in der europäischen Neuzeit an, die hier als Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert behandelt wird. Mit seiner zweigeteilten Anlage von theoretischen Konzeptionen im ersten und empirischen Einzelstudien im zweiten Teil liefert dieser Sammelband sowohl das Theoriegerüst als auch die Umsetzungen desselben in der Forschungspraxis.

Durch die Untersuchung von Mobilität und Differenzierung in ihren jeweiligen situativen (zeitlichen und räumlichen) Kontexten relativieren die Herausgeber:innen die Darstellung einer „statischen, überwiegend sesshaften Vormoderne und einer dynamischen, hochmobilen Moderne“ (S. 12) hin zu einem graduellen und sprunghaften Mobilitätszuwachs ab dem 16. Jahrhundert. Gleichzeitig gelingt es durch die Ausweitung des Begriffs der Mobilität und der Hinwendung zu „Praktiken der Mobilität, der Differenzierung und der Herstellung von Zugehörigkeiten“ (S. 25) den Blick eher auf praxeologische und akteurszentrierte Perspektiven zu richten und gerade für die Vormoderne neuere Konzepte, wie das der „Humandifferenzierung“, fruchtbar zu machen.

Die neun Aufsätze des Bandes sind in zwei große Blöcke gegliedert: einen ersten mit „methodisch-theoretischen“ und einen zweiten mit „empirischen Perspektiven“. Der Theorieteil umfasst drei Aufsätze aus der Geschichtswissenschaft, Soziologie und Ethnologie und wird durch die theoretisch fundierte, von den Herausgeber:innen verfasste Einleitung des Bandes gut vorbereitet. Diese Einleitung kann auch als ein vierter methodisch-theoretischer Beitrag gelesen werden, der das Konzept des Bandes klar macht und in den folgenden Einzelstudien zumeist aufgegriffen worden ist. Das Konzept der „Humandifferenzierung“, das den akteurszentrierten Schwerpunkt und den Blick auf die eigene agency mobiler Personen in diesem Band veranschaulicht, wird im zweiten Aufsatz von Stefan Hirschauer vorgestellt. Die von ihm thematisierten reziproken Bezüge sozialer Mobilitätsphänomene ergänzen die im ersten Beitrag von Anne Friedrichs behandelten Mehrfachzugehörigkeiten. Diese helfen, einseitige normative Zuschreibungen, die sich durch verschiedene Praktiken der Differenzierung (zum Beispiel durch bürokratische Akte) in Quellen niedergeschlagen haben, zu umgehen und die mobilen Akteur:innen und die von ihnen verfassten Quellen selbst über ihre Zugehörigkeiten zu befragen. Dieser Perspektivwechsel und die dadurch in den Fokus gerückte Mehrfachzugehörigkeit erlaube es, so Friedrichs, die Gesellschaften Europas als „relationale, vielseitig hergestellte […] Gebilde statt als Container“ (S. 68) zu betrachten. Ähnlich argumentiert Regina Römhild, die den theoretischen Teil aus der ethnologischen Forschung abschließt. Sie bringt postmigrantische und -koloniale Konzepte in die Diskussion ein und setzt die Bewegungen von Akteur:innen in den Mittelpunkt. Sie stellt ein Europakonzept vor, dem zufolge Europa selbst in Bewegung ist. Durch die „Bewegung zentrierende Perspektive“ will Römhild deutlich machen, wie „Mobilität lokale Welten verbinden und als soziale Räumlichkeit vernetzen“ (S. 105) kann.

Der chronologisch aufgebaute zweite Teil setzt mit vier von sechs Beiträgen einen Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit. Die Beiträge bilden die Heterogenität der vormodernen Mobilitätsphänomene differenziert ab und exemplifizieren den gewählten praxeologisch-akteurszentrierten Ansatz jeweils für ein Spektrum. Den Anfang macht Thomas Weller, der die „Praktiken der Dissimulation“ (S. 113) der hochmobilen Gruppe von Kaufleuten im iberischen Atlantik in den Blick nimmt. Dabei zeigt Weller deutlich die große Ambiguitätstoleranz vormoderner Gesellschaften auf, wobei sich die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oftmals erst durch Aushandlungsprozesse herausstellen musste. Er konstatiert den mobilen Akteur:innen dabei eine hohe Flexibilität, beispielsweise auch in eher hermetischen Kategorien wie Konfession oder „nationaler“ Herkunft. Eine andere Perspektive eröffnet Denise Klein, die in ihrem Beitrag die Metropole Istanbul untersucht und in einem breiten Panorama „Dynamiken, Diskurse und Praktiken“ (S. 144) über Differenz und Zugehörigkeit der Stadtgesellschaft von 1453–1800 in den Blick nimmt. Sie akzentuiert die situative Porosität der Stadtgesellschaft und die sozialen Faktoren bei Zugehörigkeitsphänomenen und thematisiert implizit die verschiedenen Intersektionen, die bei solchen Mehrfachzugehörigkeiten eine Rolle spielten.

Eine spannende Analyse konfessioneller Aushandlungsprozesse und Anpassungs- bzw. Abgrenzungspraktiken präsentiert der Aufsatz von Raingard Esser, die sich mit niederländischen Migrant:innen in Norwich im 16. und 17. Jahrhundert befasst. Esser zeigt, wie in „multikonfessionellen Gemengelagen“ (S. 190) konfessionelle Normen als Anpassungspraxis sozial-kulturell umgedeutet und dann von den mobilen Akteur:innen adaptiert wurden. Dabei greift sie auch auf bereits bekannte Konzepte wie das der „situativen Konfessionalität“ von Barbara Stollberg-Rilinger zurück. Den Abschluss des vormodernen Teils bildet Marian Füssel, der sich den Differenzkategorien und Abgrenzungsmechanismen im Siebenjährigen Krieg widmet und dabei auch diskursive Vergleichspraktiken betrachtet. Als eine unter mehreren Kontaktzonen hebt Füssel die Kriegsgefangenschaft als „Prüfstein für Identität und Differenz“ (S. 218) hervor.

Dieses Panorama wird durch die beiden Beiträge von Sarah Panter und Till van Rahden nicht nur in zeitlicher, sondern auch in thematischer Sicht erweitert. Mit ihrem Beitrag über Revolutionsflüchtlinge nach 1848 und deren globaler Mobilität verbreitert Panter die Perspektive nicht nur auf die USA, Lateinamerika und besonders Australien, sondern stellt auch die familiären Netzwerke bei der Betrachtung der Mobilitätsmöglichkeiten als zentralen Aspekt heraus. Ihr breites Verständnis ermöglicht es ihr, das „Navigieren mehrerer Zugehörigkeiten“ (S. 237) nicht nur auf nationaler, sondern auch sozialer Ebene zu untersuchen. Den Schlusspunkt des Bandes bildet die begriffsgeschichtliche Untersuchung van Rahdens, der sich der Entwicklung des „asymmetrischen Begriffspaar[s]“ (S. 253) „Minderheit“ und „Mehrheit“ widmet. Dabei stellt van Rahden das Jahr 1919 als Zäsur in der Verwendung des Begriffs der Minderheit heraus. Zudem stellt er dar, dass die vermeintlich numerisch-statistische Erscheinungsform der Begriffe andere kulturelle und normative Bedeutungsebenen überdeckt.

Der Sammelband liefert ein breites Spektrum an thematischen Zugriffen auf das Themenfeld Mobilität und Differenzierung. Alle Beiträge eint die akteurszentrierte und auf Praktiken zielende Herangehensweise, was den Band in seiner Konstruktion als gelungene Erweiterung zur Untersuchung historischer Mobilitätsdiskurse auszeichnet. Das gilt insbesondere für die frühneuzeitlichen Beiträge, in denen die Anwendung der oben beschriebenen Konzepte zu einem neuen Blickwinkel auf mobile Akteur:innen und deren Praktiken führt, wobei gerade das Zugestehen einer eigenen migrantischen agency vormoderner Migrant:innen weitere Rezeptionsmöglichkeiten bietet. Insgesamt ist der Band eine wichtige Bereicherung für die historische Migrations- und Mobilitätsforschung, ohne dass er zugleich schon versuchen würde, eine neue Meistererzählung anzubieten. Vielmehr gelingt es den Herausgeber:innen wie den Beitragenden durch die selten explizit und oft implizit vorgestellten Befunde, ältere Erzählungen, wie beispielsweise diejenige von einer wenig mobilen Vormoderne, zu relativieren und Migration und Mobilität in einem größeren Kontext zusammenzudenken. Gerade durch die Zusammenführung von theoretischen Perspektiven und Beispielstudien bietet der Sammelband Anschlussmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Forschungsvorhaben.

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