Skandal im Kaiserreich! Im Herbst 1906 hatte der gefürchtete Journalist Maximilian Harden damit begonnen, auf öffentlich hochwirksame Weise eine Clique vermeintlich „normwidrig veranlagter“ Ohrenbläser des deutschen Kaisers an den Pranger zu stellen, als deren Galionsfigur der gefürstete Kaiser-Intimus Philipp Eulenburg herhalten musste. Der Grund: Mit ihrem effeminierten Getue auf „konträrsexueller“ Unterlage übten sie einen okkulten politischen Einfluss aus, der die vitalen Interessen von Monarchie und Reich beschädige. Was folgte, waren mehrere sensationelle Beleidigungs- und Meineidsprozesse, die die Presse weltweit beschäftigten, weil sie eine breite Öffentlichkeit brennend zu interessieren schienen. Diese Skandalisierung wiederum erzeugte eine Tsunami-Welle von Emotionen, genauer: von Hohn und Spott, von Entrüstung, Wut und nicht zuletzt von Gehässigkeit. Kein Spektakel, so schrieb Karl Kraus damals angewidert, „reiche an dies Bild heran, auf dem sich forensischer Pöbelsinn und journalistischer Geschäftsgeist in der Eintracht einer päderastischen Orgie verewigt haben“. Diese Wahrnehmung war gewiss keine Halluzination, doch sie beschreibt nur eine Facette eines hochkomplexen historischen Phänomens. Denn die Affäre strahlte mehr oder weniger sichtbar vom Arkanbereich der Machtausübung in alle Instanzen aus, die für die politische Meinungsbildung seinerzeit prägend waren. Und zwar auf durchaus fatale Weise: Die allgemeine Betroffenheit steigerte sich zu einem öffentlichen Erregungszustand, der zu einem Kleinkrieg um moralisch-sittliche Deutungshoheit im politischen Raum geriet; mit der Folge, dass die Herrschaftskultur des Kaiserreichs in schweren Verruf geriet und Deutschlands Ansehen in der Welt Schaden nahm.
Die (deutsche) Geschichtswissenschaft hat die epochale Bedeutung des so genannten Eulenburg-Skandals erst jahrzehntelang verkannt (oder als „degoûtant“ verdrängt), sich dann aber doch des Forschungsdesiderats mit Verve angenommen. So entstanden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von quellenintensiven Studien auf hohem Reflexionsniveau, die das Phänomen unter diversen Perspektiven durchleuchtet, erklärt und ausgedeutet haben. Wir sind also inzwischen über die Geschichte bestens im Bilde und haben gut begründete Erklärungsmuster, die uns ein analytisch fundiertes Verständnis der Geschehnisse ermöglichen:1 sei es als Menetekel einer kollektiven Selbstversenkung des deutschen Monarchiemodells durch die es fast blind steuernden Machteliten; sei es als Indikator einer unaufhaltsamen Medialisierung des öffentlichen Bewusstseins auch und gerade durch investigativen Skandal-Journalismus; sei es als Quantensprung eines Männlichkeitsdiskurses, der die sexuelle Grundstruktur von sozialer und politischer Ordnung neu codierte; sei es als Radikalisierungspotenzial für antisemitische Ideologien und Stereotypen oder sei es einfach nur als Paradebeispiel für die Natur klassischer Kabale im Binnenraum unkontrollierter Herrschaft. Außerdem wissen wir inzwischen auch einiges von biographischer Relevanz über die „dramatis personae“, über die politische Beeinflussbarkeit der wilhelminischen Justiz und den sittenpolizeilichen Hintergrund der Hütung öffentlicher Moral.
Bei solch einem – man möchte fast sagen – saturierten Forschungsstand provozierten die vielen Hundert Druckseiten der zu besprechenden Neuerscheinungen zum Thema den Rezensenten erst einmal zu der Frage: Was wurde denn bei der bisherigen Untersuchung des Eulenburg-Skandals eigentlich alles übersehen? Peter Winzen meint, es gebe noch keine befriedigende Antwort auf die „grundlegende Frage“, wer denn eigentlich hinter dieser beispiellosen Rufmordkampagne gestanden habe. Sein narrativ ausgerichtetes Buch ist die Antwort darauf: Der „Brandstifter“ (S. 344) sei der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow gewesen, der in seinem einstigen Freund und Protegé Philipp Eulenburg ab 1905 einen „Todfeind“ gesehen habe und ihn in einer „unheiligen Allianz“ mit Harden im Interesse des eigenen Machterhalts habe „schachmatt“ setzen wollen (S. 10ff.). Unter dieser Perspektive hält er eine neuerliche „Gesamtdarstellung der großen Skandalprozesse“ (S. 12) für unabdingbar. Indes steht diese etwas altbackene Verschwörungstheorie bereits seit Jahrzehnten historiographisch mehr oder minder gut belegt im Raum.2 Und wie jüngst erst wieder John C. G. Röhl sehr fundiert gezeigt hat, ist eine aktive Beteiligung dieses wohl windigsten aller Strippenzieher der Wilhelmstraße an der brachialen Entmachtung Eulenburgs auch mehr als wahrscheinlich.3 Jedenfalls müssen in dieser Hinsicht keine weiteren Eulen nach Athen getragen werden. Winzen kann dem kanzlerischen Intrigenspiel auch kaum neues erhellendes Material hinzufügen; eine innovative Analyse ebenfalls nicht. Wozu dann das Ganze? Die besondere Pointe seiner Veröffentlichung ist die von ihm selbst zur „Erkenntnis“ ausgerufene Ansicht, „dass alle Hauptbeteiligten – Kläger wie Beklagte, Opfer wie Hintermänner – entweder eindeutig homosexuell oder doch zumindest homophilen Neigungen nicht gänzlich abhold waren“ (S. 12). Da also liegt des Pudels Kern! Doch wie gewinnt man eine solche „Erkenntnis“? Und was würde gegebenenfalls daraus folgen?
Schon mit Bezug auf den ersten bekanntermaßen höchst schwierig auszuleuchtenden Aspekt4 ist Winzens Einlassung eine Enttäuschung: Auch nur halbwegs nachvollziehbare homosexualbiographische Skizzen der „Hauptbeteiligten“ sucht man vergebens. Insbesondere gelingen ihm diese weder von Bülow, bei dem er den interessierten Leser auf „eindeutige Belege“ in einem unveröffentlichten Manuskript (S. 13) vertröstet, noch gar für Harden. Mit Blick auf letzteren werden einige Anekdoten sowie andere allzu subjektive Quellen gleich zu Glaubensartikeln – und stehen klügeren Einsichten im Wege. Ohne die empirische Anreicherung seiner pauschalen Zuschreibungen aber wird Winzens „These“ zu heißer Luft. Mag ja sogar sein, dass Bülow und Harden verklemmte Homosexuelle waren und dass die beiden Zweckverbündeten die Neigung zum eigenen Geschlecht (in tiefster Seele) einte. Aber dann wäre doch zumindest zu zeigen gewesen, wie sich eine solche Gefühlsverwandtschaft in sexualibus ganz konkret und inhaltlich auf ihr praktisch-politisches Vorgehen im Kampf gegen den Eulenburg-Kreis auswirkte. So, wie Winzen das Ganze aufzieht – sexualwissenschaftlich unbedarft, hermeneutisch defizitär, reichlich spekulativ und leider auch nicht vorurteilsfrei – wird sein verschwörungstheoretisches Konstrukt zu einer schematischen Denkfigur, in die sich überdies noch reichlich klischeehafte Untertöne hineinfärben (siehe etwa S. 25f., 108, 151f., 346). Kurz, eine Fehlperspektive ohne zählbaren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Wenn man aus diesem Buch etwas nehmen kann, dann ist es Material darüber, wie die höchst aufreibende Arbeit eines der ersten wirklich investigativ arbeitenden Journalisten vor hundert Jahren im Detail vor sich ging und wie kaltschnäuzig der talentierte Staatsschauspieler Bernhard Bülow das Repertoire machtgeiler Winkelzüge beherrscht hat. Bedeutend wird es dadurch noch nicht.
Das darf man erst recht von Wippermanns männergeschichtlicher Miniatur sagen. Was der Autor stofflich ausbreitet, ist ebenfalls schon woanders, nämlich bei Thomas Bringmann bzw. wiederum bei Röhl nachzulesen gewesen5, die beiden Autoren werden denn auch mehr als fünfzig Mal zitiert. Worum geht es? Seit 1891 wurden Angehörige der Berliner Hofgesellschaft intern von Hochnotpeinlichkeiten verunsichert – von der (später nach einem kaiserlichen Zeremonienmeister so genannten) „Kotze-Affäre“, die im Kern eine anonyme Sexualdenunziation von bemerkenswerter Obszönität und Penetranz war. Briefe kursierten, die offenbar nicht ganz unauthentische Intimitäten aus diversen Boudoirs des Hofadels auf ausgesprochen perfide Weise in Wort und Bild zu streuen suchten. Im Fokus des Diffamierungsfeldzugs stand ein vornehmes Haus: das des Grafen Friedrich von Hohenau, der einer (morganatischen) Seitenlinie des Hohenzollerngeschlechtes entstammte. Als Schlüsselfiguren der dunklen Machenschaften sollten sich später keine geringeren als der Bruder der deutschen Kaiserin und die älteste Schwester Kaiser Wilhelms II. entpuppen. Von der besagten Casa Hohenau wurde in den Schmähbriefen nun behauptet, sie sei ein „Bordell, welches sich von anderen Hurenhäusern dadurch unterscheidet, dass hier nicht der Mann die Frau, sondern die Männer unter sich und die Frauen auch unter sich vögeln, lecken und Kurzweil treiben“. Zugleich drohte der Anonymus oder die Anonyma damit, demnächst eine Broschüre zu veröffentlichen, in der unter Namensnennung „das Leben und Treiben“ dort eindringlich beschrieben würde.6 Diese Gemeinheit biss insofern in eine reale Achillesferse, als der verunglimpfte Hausherr beispielsweise tatsächlich homosexuelle Präferenzen besaß, die ihn einige Jahre später auch seine diplomatische Karriere kosten sollten. Überhaupt zeichneten sich die hemmungslos-anstößigen Belästigungen der mit energischer Gehässigkeit zu Werke gehenden Denunzianten durch offenbar so viel brisantes Insiderwissen aus, dass die angegangenen Personen schockiert waren und unruhig wurden. Eine ernsthafte Aufklärung dieser Machenschaft (mit notwendiger Verurteilung des/der Delinquenten) konnte freilich schon deshalb niemals erfolgen, weil es sich um die Kabale royaler Prominenz handelte, die um keinen Preis öffentlich kompromittiert werden durfte. So wurde das Desaster erst auf Nebenschauplätze verschoben und schlussendlich unter den Teppich gekehrt. Es gab nur mehr Bauernopfer, die ihre so genannte Ehre in Gestalt von Duellen – auch mit tödlichem Ausgang – verteidigen mussten oder zu müssen wähnten. Durch solche politisch gewollten dramatischen Ablenkungsmanöver, durch Rechtsbeugung, massive Vertuschungen und Willfährigkeit der königlichen Polizei und Justiz konnte zwar ein politischer Skandal gerade noch vermieden werden. Der Imageschaden war gleichwohl enorm – vor allem was den Mythos des kaiserlichen Hofes anbelangt. Denn von dem bislang gut bergenden Schleier über dieser Arkanzone war ein erster Zipfel gelüftet worden. Böse Ahnungen stiegen hoch von der besonderen Eigenart jener Sphäre und von ihrem obersten Sittenrichter, dem deutschen Kaiser Wilhelm II.
Wie perzipiert nun Wippermann die delikate Hofaffäre, von der – wohlgemerkt – jahrelang kaum etwas in die breite Öffentlichkeit gedrungen war? Er lässt seine Darstellung mit einer kolossalen Fehleinschätzung beginnen. Er macht nämlich ungeprüft eine von ihm so genannte „Sexparty“ im Jagdschloss Grunewald (S. 15ff.) zum Ausgangspunkt nicht allein seiner Narration, sondern auch seiner Argumentation. Für eine solche „Swingerparty“ gibt es aber in den Quellen gar keinen Beleg. Schon ein durchdringender Blick auf die überlieferte personale Zusammensetzung der 15-köpfigen Gesellschaft, die sich da im Winter 1891 mitternächtlich im Grunewald verlustierte, hätte dem Kenner der Materie genügt, eine solche flagrante Libertinage für ganz unwahrscheinlich zu halten. Auch waren die anonymen Denunziationen keine „Erpresserbriefe“. Es ging nicht um Geld oder andere Vorteile, sondern um gezielte provokative Manöver zur Verunsicherung hochadeliger Prominenz in Berlin, die gegeneinander aufgehetzt werden sollte. „Skandal im Jagdschloss Grunewald“ nennt der Autor seine Veröffentlichung, aber er gibt keine Antwort auf die Frage, wer hier denn eigentlich wann und wo mit welchem Ziel „Skandal“ gemacht hat. Ein politischer Skandal im Sinne der modernen Skandalforschung, für die vor allem Frank Bösch intellektuelle Urheberschaft beanspruchen darf, ist diese jahrelang geheim gehaltene Affäre jedenfalls nie gewesen. Und als Maximilian Harden sie 1894, also nach dreieinhalb Jahren, ein wenig publik machte, ohne wirklich etwas Spektakuläres aufzudecken, zeigte sich die meinungsbildende Tagespresse nicht sonderlich interessiert. Will sagen: Hier wurde gar nichts „skandalisiert“ (S. 131). Schon gar nicht das Sexualleben am Berliner Hof. Überhaupt zeigt sich der Autor mit den historisch-konkreten Geschehnissen, namentlich aber mit der Lebenswelt seiner Spezies, des (royalen) Hofadels, ebenso schlecht vertraut wie mit den individuellen Lebensgeschichten seiner Protagonisten. Kurz: Was er zu seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand vorträgt, beruht nicht auf eigenem gründlichem Studium der verfügbaren primären Quellen. Eine durchdringende Analyse lässt sich so nicht gewinnen. Die von ihm versprochenen Einblicke in die Sitten- und Mentalitätsgeschichte der „Vornehmsten bei Hofe“ bleiben daher aus oder sie sind aufgesetzt, bisweilen kommen sie sogar ausgesprochen spießig daher. Vor allem aber bleiben sie auf die dubiosen Denunziationsquellen fixiert, deren Provenienz bis heute nicht gesichert ist, deren Informationsgehalt bereits unter Zeitgenossen umstritten war und zu deren Aufklärung auch Wippermann nichts beizutragen weiß.
Ansonsten verfolgt seine Wiederaufbereitung der Geschehnisse noch, wie der hofinterne Sittenverstoß zu einer dann tatsächlich öffentliches Aufsehen erregenden Auseinandersetzung um Ehr- und Männlichkeitsrituale mutierte. Dass diese Debatte um die Duelle eine bestimmte Form von quasi rechtsfreier Standesmoral unterminierte – einen Kult, den bis dato atavistische Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit dominiert hatten –, ist aber aus der einschlägigen Forschung ebenfalls hinlänglich bekannt. Markierte die massive öffentliche Kritik am Duellwesen von Kotze und Kumpanen auch noch nicht das definitive Ende dieses überkommenen Klassenprivilegs der Selbstjustiz, so doch den Anfang von dessen Ende. Ob das Kotze-Drama bereits auch „ganz wesentlich zum Untergang der alten Männlichkeit und der Ersetzung durch eine neue Männlichkeit beigetragen hat“ (S. 11), kann Wippermann weder empirisch abgesichert zeigen noch argumentativ überzeugend entwickeln, zumal er hier jenseits jeder historischen Kontextualisierung mit allzu schlichter Begrifflichkeit operiert. Die aktuelle Geschlechter- und Emotionsgeschichtsschreibung ist da bereits weiter, und von Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ – erschienen 1900! – wollen wir gar nicht erst reden.
Aber könnte mit Blick auf die Kotze-Affäre nicht überhaupt etwas ganz anderes von ungleich größerem historischen Interesse sein? Erst einmal ging der enorme Wirbel, den die Kampagne hofintern auslöste, nur darauf zurück, dass hier einmal mehr eine Adelsclique einer anderen die berühmte Grube gegraben hatte. Natürlicher Nährboden für die Schmutzkampagne war eben die überkommene Hofkultur selbst, deren Protagonisten immer wieder ungeniert pikante Indiskretionen über Standesgenossen in den vermeintlich geschützten Raum ihrer jeweiligen Ingroup stellten und damit Stoff für zahllose Rufmorde lieferten. Von den notorischen Lästereien in den sorgsam umhegten Freiräumen einzelner Zirkel bis hin zu solchen halböffentlichen Perfidien, wie sie die besagten Schmähbriefschreiber ganz gezielt betrieben, war der Weg eben nicht weit, zumal die Hofkultur Rivalität – und somit auch Rankünen und Intrigen bis hin zu offenem Verrat – gleichsam von Haus aus Vorschub leistete. Auch im vorliegenden Fall war die Briefaffäre eine hausgemachte Katastrophe, die aber nun erstmals gefährlich selbstzerstörerische Potenziale zu erkennen gab. Denn die Denunzianten hatten das Ende nicht mitbedacht, als sie wieder einmal das taten, was an Fürstenhöfen seit Jahrhunderten Usus und (Un-)Sitte war. Und dieses Ende war das sich abzeichnende Ende eines Jahrhunderts, einer Epoche, das die Monarchie vor die Überlebensaufgabe stellte, sich neu zu erfinden oder einer anderen Herrschaftsform Platz zu machen. Unter diesen Bedingungen musste die Kotze-Affäre ungewollt auf eine kollektive Selbstentwürdigung und moralische Selbstbeschädigung des Hofadels hinauslaufen, bei der der unverschämte Lästerer nicht mehr vom triebbestimmten Lasterhaften zu unterscheiden war. Mehr noch, sie delegitimierte den Hof als „arcanum imperii“ überhaupt. Gerade das aber lässt sie als eine Art Präludium zu dem zehn Jahre späteren Eulenburg-Skandal erscheinen, der nun eben nicht mehr so gedeckelt werden konnte, weil die Medialisierung der Gesellschaft und mutige Journalisten nun auch vor den „Arkana“ der Monarchie keinen ehrerbietigen Halt mehr machen mochten. Insofern wäre hier von der moralischen Auszehrung und Erosion der monarchischen Kultur (im Zuge einer generellen Metamorphose der politischen Kultur in Deutschland) zu sprechen. Von den nachhaltigen Wellen, die die Kotze-Affäre schlug. Von Erschütterungen, die mit dem Abgesang der elitären Hofkultur auch die fernere Unmöglichkeit der vom Hofadel so gerne gelebten Distinktion und feinen Differenz induzierten.7 Für die moderne Adels- und Monarchieforschung ist dies ein erkenntnisträchtiger Aspekt, weshalb diese Affäre auch historisch für weit mehr steht als nur dafür, „Indikator des Wandels von Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich“ (S. 10) zu sein.
Ganz anders als Winzen und Wippermann, nämlich wirklich streng wissenschaftlich, geht nun die Dissertation von Norman Domeier zu Werke, der sich ebenfalls mit dem Sittenskandal um den Kaiser-Intimus Eulenburg befasst, ihn aber historisch-analytisch zu dechiffrieren versteht. Zunächst und vor allem liest er ihn als ein „transnationales Medienereignis“, über dessen politische Ausdeutung damals eben nicht nur in Deutschland, sondern in und vor aller Welt heftigst gestritten wurde. Der besondere kulturgeschichtliche Kontext dieser Auseinandersetzung ist für Domeier zunächst „das Aufkommen global gedachter, medial vermittelter Prestigepolitik“ vor dem Hintergrund der Marokko-Krise von 1905 (S. 10). Diese eminent politische Dimension der Affäre in ihrer Gefährlichkeit für das Ansehen des Reiches nicht erkannt geschweige denn gemanaged zu haben, kreidet er dem deutschem Kaiser und seinem Möchtegern-Bismarck Bernhard von Bülow als heute kaum mehr fassbaren „Autismus“ an. „Von der deutschen Öffentlichkeit hingegen wurde der Skandal selbstbewusst als Verhandlungsort gesellschaftlicher Konfliktlinien genutzt.“ (S. 13) Und genau das ist Domeiers Thema, sein Fokus. Er sieht den Eulenburg-Skandal als Medium, in dem polarisierte Lager „miteinander hart, rücksichtslos und erbittert um die Sinngebung der Skandalenthüllung ringen“ (S. 13). Und zwar entlang einer seiner Meinung nach „vergessenen politischen Konfliktlinie des Wilhelminischen Deutschlands“: der Moral (S. 14f.). Hardens Pressekampagne gilt ihm vor allem anderen als „eine bis dahin unerhörte sexuell konnotierte Moralisierung des Politischen“ (S. 35), die die seit Bismarcks Entlassung virulente „Dauerkrise“ des Wilhelminischen Reiches erstmals als „moralische Sinnkrise“ (S. 58) kenntlich gemacht und damit gefährlichen Brennstoff in die Flammen des nunmehr zum „moralischen Klassenkampf“ (S. 56) übergehenden erbitterten öffentlichen Streitens über die vermeintliche Dekadenz der reichsdeutschen Nation gegossen habe. Dieser Ansatz zielt auf Grundsätzliches: Moral ist für Domeier „Repräsentantin und Produzentin sozialer, politischer und kultureller Verhältnisse“, er will die Grenze zwischen dem Moralischen und dem Politischen gleichsam verflüssigen (S. 374f.).
Dieser innovative kulturgeschichtliche Blickwinkel verweist ihn auf die Presse als zentrales Medium politisch-moralischer Sinnproduktion im 20. Jahrhundert, genauer: auf die systematische Auswertung von rund 5.000 von ihm eruierter Presseartikel aus deutschen, französischen, britischen und amerikanischen Zeitungen, von denen er sich erklärtermaßen sehr viel mehr Erkenntniswert verspricht als von den traditionellen „Arkanquellen“, weil erstere für ein internationales Millionenpublikum bestimmt gewesen seien. Das stimmt, ist aber noch kein Argument, das dagegen spräche, auch die so genannte „Arkanquellen“ zur besseren – sagen wir einmal – Erdung der Presseerzeugnisse gleichermaßen in die Untersuchung mit einzubeziehen. Durch seine Fokussierung auf den diskursiven Überbau des Phänomens beraubt sich Domeier jedenfalls der Chance, eine neue Gesamtdarstellung des Eulenburg-Skandals zu erarbeiten, die der Komplexität dieser politischen Großbaustelle auf Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg entspräche. Doch wäre eine solche mehrdimensionale Politikgeschichte von einer Doktorarbeit wohl auch zu viel verlangt. Inhaltlich zerlegt er seinen Untersuchungsgegenstand in sechs große Blöcke. Zunächst geht es ihm mit Blick auf Harden um die Betonung von erstaunlich viel „Deutungsmacht der Intellektuellen im Kaiserreich“, dann um das Ineinanderfließen von Politik, Justiz und Meinungsmache im öffentlichen Skandal-Diskurs. Weiterhin interessiert ihn die Politisierung von Ehe, Sexualität und Freundschaft, die die sensationellen Enthüllungen provozierten, und die schwere Kompromittierung der wilhelminischen Herrschaftseliten, die sie bewirkten. Schließlich erörtert er, wie Deutschlands Außenpolitik und Militär unter dem herabwürdigenden Verdacht der Homosexualität zu Epizentren kriegerischer Ambitionen wurden.
Ob gerade diese Strukturierung des Themas besonders glücklich gewählt ist, muss nach der Lektüre bezweifelt werden, weil sie doch zu zahlreichen Redundanzen und Verkomplizierungen führt. Eine gestrafftere Ordnung des Textes hätte seiner Rezeption besser getan. Obwohl der Autor gut schreiben kann, tut er in semantischer und didaktischer Hinsicht oft des Guten zu viel. Mit seinen zahlreichen Exkursen in die verschiedensten Wissensgebiete, den En-passant-Konnotationen der Fachliteratur und den beständigen Hinweisen auf „erstaunliche“ Forschungsdesiderate erweist er der Konzentration des Lesers auf die Kernthematik der einzelnen Kapitel keinen Dienst. Domeier neigt dazu, den aktuellen Forschungsstand zu vielen Aspekten seines Themas zugunsten der eigenen wissenschaftlichen Leistungen klein zu reden. Das mag man einem Debütanten gerne nachsehen, doch ist in diesem Buch längst auch nicht alles Gold, was da rhetorisch und argumentativ im Glanz der diskurstheoretisch ausgerichteten Skandalforschung innovativ erstrahlen soll. Vieles hat man schon bei anderen Autoren, wenn auch schlichter formuliert, gelesen oder woanders zitiert gefunden, und die Interpretationen unterscheiden sich oft nur in Nuancen. Das gilt vor allem für das in den Kapiteln III und IV Entwickelte.
Interessanter sind da schon seine Überlegungen zu der „schweren Legitimationskrise“ (S. 205), in die der Eulenburg-Skandal die wilhelminische Herrschaftselite durch die Enthüllungen über seinen wichtigsten Arkanpolitiker stürzte. Fast sämtliche öffentliche Meinungsbildner – so Domeier – einte damals die Meinung, dass die von dem Liebenberger Kaiserfreund dirigierte Kamarilla-Politik in jeder Hinsicht unverantwortlich und deshalb zu beenden war. Von vielen Seiten wurde jetzt gerade „im Zugriff auf die Umgebung Wilhelms II.“ ein probates politisches Mittel gesehen, zu einer stärkeren, womöglich parlamentarischen Kontrolle königlich-souveräner Macht zu gelangen, „ja schließlich zur Parlamentsherrschaft überzugehen“ (S. 229). Doch trotz des schlussendlichen Sturzes von Wilhelms Favoriten verharrte auch diese offen monarchiekritische Phalanx letztlich in „Lethargie“, als es darum ging, politische Verantwortlichkeit und Kontrolle gegenüber dem „arcanum imperii“ nun auch entschlossen einzuklagen bzw. rechtsverbindlich zu implementieren (S. 230ff.). „War die Öffentlichkeit“ – so das Fazit – „in der Verdammung homosexuell konnotierter ‚unverantwortlicher‘ Politik einig, konnte bezeichnenderweise jedoch [von wem? – LM] kein Konsens darüber hergestellt werden, was im späten Kaiserreich als ‚verantwortliche‘ Politik zu gelten hatte.“ (S. 371) Was daran „bezeichnend“ gewesen sein soll, also für was dieser eklatante Widerspruch steht, erklärt Domeier dann aber leider nicht. Er kann es nicht erklären, weil er der Frage nicht nachgeht, wie sich die politisch Agierenden solche Diskurse damals eigentlich (subjektiv) angeeignet haben und wie verbindlich sie für ihr Tun wurden. Er kann es aber auch deshalb nicht, weil er kein angemessenes Problembewusstsein von den Aporien des reichsdeutschen Monarchie-Modells und seiner politischen Kultur entwickelt. Und weil er schließlich auf „dem“ Feld der aktuellen Hochadelsforschung nicht wirklich zuhause ist, das sich mit dem spezifischen Herrschaftsverständnis und der Herrschaftskultur der souveränen Fürsten im Kaiserreich befasst. Wenn das deutsche Kaiserreich aus sich selbst heraus demokratiefähig gewesen wäre, dann hätte sich das spätestens im Gefolge der fast koinzidenten Eulenburg- und Daily-Telegraph-Skandale erweisen müssen. Bekanntermaßen konnte jedoch die dynastisch überformte Arkanpolitik mehr oder weniger fröhlich weitergehen und ihr nicht geringes Scherflein zu dem beitragen, was man später die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts genannt hat. Angesichts dieser bemerkenswerten Persistenz davon zu reden, dass die Reichsverfassung (die ja die konstitutionell mehr verbrämte als politisch tatsächlich wirksam eingefriedete souveräne Fürstenherrschaft ausdrücklich garantierte) in „ihre[n] Fundamenten durch den Eulenburg-Skandal erschüttert“ (S. 231) worden sei, scheint da doch etwas weit hergeholt. Vermutlich überschätzt Domeier – geblendet durch die Blitzlichtgewitter seiner Skandalberichterstattung – den wohl eher ephemeren Charakter systemkritischer Empörungsmanifeste. Ein monarchisches System, dem selbst solche zersetzenden Skandale machtpolitisch letztlich nichts anhaben konnten, eine solche Herrschaft ließ sich wohl nur durch ein Harakiri seiner gekrönten Häupter selbst überwinden. Gleichviel, die Gedanken Domeiers zu diesem Komplex verdienen Beachtung und Diskussion, auch über die engere Thematik hinaus. Geht es doch um die viel ventilierte forschungsstrategische Frage, ob und wie sich überhaupt ein wirkungsmächtiger Zusammenhang zwischen öffentlichen Diskursen und politischer Nachhaltigkeit aufzeigen lässt.
Ich will noch einen weiteren Aspekt anführen, der in die gleiche Richtung geht. Domeier kann im letzten Kapitel seiner Untersuchung gut zeigen, wie der Eulenburg-Skandal die Außenpolitik der Wilhelmstraße und die preußische Armee unter den Generalverdacht der Homosexualität brachte. Harden war es gelungen, einen solchen „Deutungsrahmen vorzugeben“, indem er die Eulenburg-Kamarilla zum Nest einer „wilhelminischen Friedenspartei“ stilisierte, die in Liebenberg ein homosexuell konnotiertes „rapprochement franco-allemand“ betrieben und damit Deutschlands Interessen in der Marokko-Krise schwer geschadet habe (S. 301ff.). Damit sei der Topos von einer landesverräterischen „homosexuellen Friedenspartei“ (S. 309ff.) in der Welt gewesen, aus dem die transnationale Presseöffentlichkeit schließlich die vor allem im deutschsprachigen Raum etablierte „Figur des homosexuellen Landesverräters“ machte (S. 325). Das leuchtet ein, zugleich aber fragt man sich, wie repräsentativ solche Topoi – besser Verdikte – für die Vorkriegsöffentlichkeit und deren Moralvorstellung waren. Haben wir es hier tatsächlich mit einem politisch wirkungsmächtigen Stereotyp zu tun, dessen Kehrseite dann immer deutlicher in die „Forderung nach einem Krieg um der Moral willen“ (S. 342) gestanzt wurde? Um welcher Moral willen? Ich habe da meine Zweifel und plädiere für sorgfältige Prüfung. Einige von den Denkfiguren, die Domeier aus seinen Skandalquellen eruiert und dann analytisch als hegemonial aufbereitet hat, wollen mir doch eher als zum zeittypischen Szenario einer politischen Topographie gehörig erscheinen, die sich von einer mittleren Katastrophe heimgesucht fühlte, doch schon bald wieder von ihrem Schreck erholte und in dem Glauben beruhigte, einmal mehr davongekommen zu sein. Was freilich blieb, waren Kollateralschäden, für die Schuldige gesucht und gefunden wurden: hoffärtige dekadente Aristokraten, Femmes fatales, Spiritisten, Homosexuelle, Juden, aber nicht zuletzt auch die Figur eines Kaisers, der jetzt immer weniger anhatte. Und im Gefolge davon natürlich jede Menge Zuschreibungen, die das Zeug zum politischen Reliefklischee hatten. Sehr richtig schreibt Domeier ganz am Schluss seines ohne Zweifel interessanten Buches, der Skandalhistoriker dürfe nicht den Fehler machen, „retrospektiv möglichst viel Rationalität zu (re-)konstruieren und die Grenzen so ziehen, dass Unverständliches, Fremdes, Absurdes und vor allem scheinbar Ungleichzeitiges ausgeblendet wird“ (S. 374f.). Das kann man auch als Selbstkritik einer intelligenten Studie lesen, die nicht das letzte, aber gleichwohl ein gewichtiges Wort zu dem epochalen Ereignis der – sagen wir einmal – mentalen Krise spricht, die Hardens Kampf gegen Eulenburg auslöste. Aber noch etwas darf als ausgemacht gelten: Aus dem Schatten dieser wissenschaftlichen Studie werden die vorgenannten Publikationen kaum jemals heraustreten können.
Anmerkungen:
1 Vgl. das akribische Verzeichnis der einschlägigen Literatur bei Domeier, S. 390-422.
2 Vgl. Friedrich Thimme (Hrsg.), Front wider Bülow, München 1931, S. 48; sowie Helmuth Rogge, Friedrich von Holstein, Berlin 1932, S. 297ff.
3 Vgl. John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund, München 2008, hier S. 595ff.
4 Hierzu die nach wie vor grundlegenden forschungsstrategischen Überlegungen von Bernd-Ulrich Hergemöller in der Einleitung zu seinem Lexikon: Bernd-Ulrich Hergemöller, Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mann-männlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 1998, hier vor allem S. 35ff.
5 Tobias C. Bringmann, Reichstag und Zweikampf, Freiburg 1997, S. 152ff. sowie Röhl, Wilhelm II., S. 741ff.
6 Anonymes Schreiben an die Gräfin Hohenau mit Poststempel aus Berlin vom 23.12.1892, in: GStA Dahlem, Rep. 89, Nr. 3307/10, Bl. 43.
7 Vgl. als ein erster Zugriff auf diese Thematik meine Skizze: Lothar Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Ein Inspektionsbericht zur Funktionstüchtigkeit des deutschen Monarchie-Modells, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), S. 222-241.